Das Spiegelkabinett

Das Spiegelkabinett – AWH, Tagesretreat März 2018

Das Spiegelkabinett – Das Jahr ist erst etwas über zwei Monate alt, hat aber bei vielen von euch und anderen Menschen in meinem Umfeld schon viele Sorgen und Unannehmlichkeiten mitgebracht: Verluste von geliebten zwei- oder vierbeinigen Gefährten, erschöpfende Erkrankungen, Unfälle oder persönliche Krisen und Konflikte.

Was ich in solchen Zeit oft zu hören bekommen ist der Satz: «Immer wieder passiert mir dasselbe.» Und bei Menschen, die sich auf einem Meditationsweg befinden, kommt oft noch dazu: «Jetzt meditiere ich schon so lange, aber immer falle ich in das gleiche Loch», «Ich komme einfach nicht weiter», «Ich dachte, dies sei überwunden, aber…», «Was soll ich bloss noch tun?».

Zweifel

Das Gefühl von Stillstand oder Rückfall oder Ausweglosigkeit erzeugt je nach Charakter Resignation, sehr auch oft Wut und Tränen. Manche ziehen sich in sich selbst zurück und verstummen; manche klagen die Umstände an; viele schimpfen mit sich selbst wegen ihres vermeintlichen Versagens und einige kommen zu mir, weil sie wissen möchten, was der Zen-Buddhismus in dieser Hinsicht zu sagen oder zu offerieren hat.

Als erste möchte ich klarstellen: Krisen und Zweifel, Gefühle der Stagnation oder des Rückschrittes sind auf dem Weg der Meditation bekannte Phasen. Der Buddha hat oft darüber gesprochen. Es gibt ein Sutra, das sogar auf Grund einer solchen Krise zu Stande kam. Es ist das Shurangama-Sutra. Dieses beginnt damit, dass Ananda, der Neffe und Schüler von Buddha, auf einem Bettelgang im Begriff war, sich von einer schönen jungen Frau so bezaubern zu lassen, dass er in Gefahr war, seine Mönchsgebote zu verletzten und sich und der jungen Frau dadurch grossen seelischen Schaden zuzufügen.

Der Buddha, der sich zu diesem Zeitpunkt in einer grossen Versammlung von Mönchen, Nonnen, Bodhisattvas und anderen Anhängern befand, sah die Gefahr mit seinem geistigen Auge und griff rechtzeitig ein. Er liess Ananda und die junge Frau zu sich rufen. Dann erklärte er ihnen und allen Anwesenden, wie es zu solchem Fehlverhalten kommt und was die Folgen davon sind.

Die junge Frau verstand den Buddha auf Anhieb, doch Ananda bat den Buddha immer wieder darum, diesen oder jenen Punkt seiner Ausführungen genauer zu erklären. Der Buddha kam dieser Bitte nach und zog dabei auch seine älteren Schüler mit ein, indem er sie von ihren eigenen Erfahrungen berichten liess. Das Gespräch entwickelte sich zu einer Betrachtung und Belehrung über rechte Meditation, rechtes Denken und rechtes Tun.

Innere Kraft

Das Erste, was der Buddha dem Ananda sagte war: «Du hast dich in diese missliche Lage gebracht und bist vom rechten Pfad abgewichen, weil du nicht genügend Kraft hast, im Zustand von Samadhi zu bleiben.» In der Sprache des Buddhismus bezeichnet Samadhi den Zustand des klaren stillen Geistes, der nicht von den Sinneseindrücken und den Emotionen, nicht von Zuneigung und Ablehnung beeinflusst ist. Samadhi kann auch als «vollkommene Präsenz»,«Eins-Sein mit dem, was ist» oder«Zustand der permanenten Meditation» übersetzt werden. Wobei Meditation hier nicht mit dem Sitzen auf einem Kissen gleichgesetzt werden darf. Wahre Meditation ist der Zustand des stillen Geistes, ist wache Präsenz, ist offenes, nicht-urteilendes Gewahrsein.

Buddhas Diagnose für Anandas und unser aller Leiden könnte in unserer heutigen Sprache so ausgedrückt werden: Der Mangel an klarer geistiger Präsenz und Achtsamkeit führt zu geistiger Verwirrung und Verhaltensweisen, die viel Leiden erzeugen. Die Ursache dieser Mangelerscheinung ist nicht Dummheit oder schlechte Absicht, aber Unwissenheit. Wir sind wie Menschen, die krank sind, weil sie sich falsch ernähren, und die keine Ahnung haben vom Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung. Sie wissen gar nicht, dass es anders ginge. Wir kommen nie auf die Idee, uns zu informieren und das gewohnte Verhalten zu ändern, es sei denn, wir merken, dass et was nicht stimmt.

Der Zen-Meister Hakuin sagte es so:

Der Grund, warum wir in der Welt umher irren, ist der, dass wir in der Dunkelheit der Unwissenheit verloren sind.

Verwirrung

Lasst mich dieses Irren am Sinnbild eines Spiegelkabinetts erläutern. Ein Spiegelkabinett besteht aus einem Konglomerat von Räumen, deren Wände aus Spiegeln bestehen. Die Spiegel stehen in unterschiedlichen Winkeln zu einander. Alles, was sich in einem Raum befindet, wird x-mal und aus verschiedenen Blickwinkeln gespiegelt. Man ist eingeschlossen in eine Welt von Spiegelbildern und es gilt, den Ausgang zu finden.

Das ist alles andere als einfach, denn man weiss nicht, was «echt» ist und was Bild, man hat keine Orientierung und stösst dauernd gegen unsichtbare Wände. Im Spiel macht so etwas Spass, im wahren Leben nicht.

Das Spiegelkabinett des wahren Lebens ist unser Bewusstsein. Bewusstsein ist die Funktion in uns, die «erkennt» und «weiss». Es ist die Natur von Bewusstsein, wie ein Spiegel alles so wahrzunehmen, wie es ist. Der Spiegel ist klar und leer und deshalb unsichtbar. Unser individuelles Bewusstsein bildet einen «inneren Raum», in dem alle unsere Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Assoziationen und Bilder zusammenkommen. Alles in diesem Raum scheint wirklich und echt, ist es aber nicht. Wenn man es fassen oder irgendwie manipulieren will, stösst man gegen eine kalte Wand.

Unsere Sinneswahrnehmung interpretiert die Bilder im Spiegel fälschlicherweise als real existierende Dinge. Wir wissen nicht, dass die Inhalte unseres Spiegelkabinetts — Lebewesen, Berge, Flüsse usw.—, Abbildungen der Wirklichkeit sind und nicht die Wirklichkeit selbst. Wir wissen nicht, dass wir in einem Spiegelkabinett leben und stossen deshalb immer wieder gegen dessen unsichtbare Wände und Barrieren.

Wer ist wer?

Lasst uns ein wenig mit diesem Sinnbild spielen und sehen, was wir daraus eventuell lernen können. …

Stell dir vor, du betrittst einen leeren Raum, dessen Wände alle aus Spiegeln bestehen. Es ist hell. Du bist allein, es gibt keinen anderen Gegenstand darin. Was siehst du?

Du siehst eine Anzahl von Personen, die alle so aussehen, wie die Person, die du aus dem Spiegel zu Hause kennst. Deine Antwort lautet also: «Ich sehe mich selbst». Dabei vergisst du, dass du nur deine äussere Erscheinung siehst.

Jetzt kommt eine zweite Person in den Raum. Nun siehst du eine Ansammlung von zwei Sorten von Menschen: Die eine Hälfte ist «ich», die andere «jemand anders». Für die andere Person ist es ebenso, nur umgekehrt: sie ist «ich» und du bis «jemand anders».

Kommen noch mehr Leute in den Raum, sieht man ein Gewimmel von Menschen. Noch kann man sich selbst im Gewimmel finden — meistens steht man sich selbst ja am nächsten … auch im Spiegel, nicht wahr? Doch welcher von all diesen Menschen hat oder ist nun das echte, wirkliche Ich? «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist das richtige Ich im ganzen Land?»

In Martin Bubers Buch Die Erzählungen der Chassidim findet sich der denkwürdige Satz:

«Wenn ich ich bin, weil ich ich bin und du du bist, weil du du bist, dann bin ich ich und du bist du.
Aber wenn ich ich bin, weil du du bist und du du bist, weil ich ich bin, dann bin ich nicht ich und du bist nicht du.»

Inzwischen ist das Gewimmel im Spiegelkabinett recht gross geworden. Jung und alt gehen umher auf der Suche nach einem Weg oder einer Strategie, die zum Ausgang führt. Bilder sind lebendige Körper, lebendige Körper sind Bilder. Was ist echt, was nicht?

Selektive Wahrnehmung

Nimmst du dir etwas Zeit und betrachtet das Gewimmel, fällt dir vielleicht die eine oder andere Gestalt auf — immer in multipler Ausführung natürlich. Sie trägt vielleicht einen auffälligen Hut oder einem speziellen Bart. Was geht in dir vor, wenn du dieses Bild mit deinem Blick verfolgst? Stellen sich Gefühle ein wie «Sympathie» oder «Antipathie» oder sonst etwas? Wenn ja, worauf gründen diese Gefühle? Wer oder was generiert dein Urteil? Haben der Spiegel oder die Spiegelbilder etwas damit zu tun?

Nun stelle dir vor, es wird ein Gegenstand ins Spiegelkabinett gestellt, sagen wir ein Blumentopf. Nun siehst du zwischen all den Menschen ein Labyrinth aus einheitlichen Töpfen mit einheitlichen Blumen darin. Vielleicht kommt auch noch eine Hund in den Raum oder jemand stellt eine sitzende Buddhafigur in eine Ecke. Welches ist der wirkliche, der erste, der Originalblumentopf, der wahre Originalhund, der wahre Buddha? — Was sagen die Spiegel dazu? Wissen sie etwas davon?

Nach und nach füllt sich der Raum mit eine Menge von Objekten, von denen man eines ist. Wie findet man den Ausgang aus diesem Gewimmel? …

Von einem (T)Raum in den anderen

Alle, die schon einmal in einem von Menschen gebauten Spiegelkabinett waren, haben eine Erfahrung damit: Um zwischen substanzlosem Bildern und fassbaren Gegenständen zu unterscheiden, um Trug und Tatsache auseinanderzuhalten, braucht es den Einsatz des ganzen Körpers und Geistes. Mit Händen und Füssen tastet man sich vorsichtig vorwärts, stösst immer wieder gegen die unsichtbaren Wände. Mit höchster Achtsamkeit, geführt durch Versuch und Irrtum, gelangt man schliesslich unvermittelt zu einem Durchgang zwischen den Wänden. Man sieht ihn nicht — es ist ein torloses Tor — aber plötzlich ist man «draussen.» Alles, in das man eben noch verstrickt war, ist weg.

Doch das «draussen» entpuppt sich schnell als ein weiterer Raum im Spiegelkabinett. In diesem wird etwas anderes inszeniert, vielleicht eine Landschaft mit unendlich vielen Bergen und Flüssen. Es ist der Kreativität der Spiegelkabinett-Macher überlassen, mit wie vielen und welche Inszenierungen sie unser Gemüt verwirren wollen. Auch unser Bewusstsein hat viele Räume und Bereiche — Arbeit, Gesellschaft, Beziehungen, Reisen. Wir wandern von einem Traum in den anderen.

Selbsttäuschung

Nun stellt euch vor, im Spiegelkabinett wird plötzlich das Licht ausgeschaltet. Was nun? Im ersten Moment ist da vielleicht ein inneres Bild der letzten Szene. Wenn dieses verblasst, was bleibt?

Ist das Spiegelkabinett mit allen Leute und Gegenstände weg, bloss weil ich sie nicht mehr sehe? Und ich? Bin ich deswegen weg?

Wenn wir in unserem Bewusstseins-Spiegelkabinett das Licht ausmachen und in die Dunkelheit von «Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich rieche nichts und ich denke nichts.» stecken, in der Meinung, dann sei der Geist «leer», dann verfallen wir der gleichen Selbsttäuschung, wie kleine Kinder, die sich die Augen mit den Händen verdecken im Glauben, sie würden dann nicht gesehen werden bzw. sie seien nicht mehr da.

«Ich» bin ja noch da, oder? Aber was ist es, was «da» ist, wenn «ich» keine Formen und keine Farben sehe?

Der Ausgang

Jedes Spiegelkabinett hat einen Ausgang. Den sieht man allerdings nicht; er ist nicht angeschrieben. Man muss ihn selbst unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Lebenskräfte finden. Im Gegensatz zum Spiegelkabinett im Vergnügungspark werden wir im wahren Leben schnell ungeduldig, wütend, verzweifelt oder geraten vielleicht sogar in Panik, wenn wir merken, dass wir gefangen sind. Vor lauter Aufregung, Wut und Empörung über das «böse Schicksal» oder «schlechte Karma», das uns in diese Lage gebracht hat, können und wollen wir die Ruhe und Achtsamkeit nicht aufbringen, die es braucht, um den Ausgang zu sehen.

Wer schon durch ein Spiegelkabinett gegangen ist, kennt vermutlich das Gefühl der Erleichterung und Fröhlichkeit, das sich einstellt, wenn man endlich den richtigen Ausgang gefunden hat und in der frischen Luft steht. Man denkt, jetzt sei man wieder in der Wirklichkeit. Doch wie weiss man, ob das, was man für die vertraute Wirklichkeit hält, nicht auch ein Spiegelkabinett ist, nur ein viel, viel grösseres? Der Buddha sagte, endgültige Freiheit stelle sich erst ein, wenn das ganze menschliche, vom «ich» bewohnte, Bewusstsein transzendiert, d.h. überwunden sei. Wir sollten daher nie denken, wir seien «fertig», wir «wüssten» alles.

Wir sollten unser Spiegelkabinett aber auch nicht ablehnen oder herabwürdigen. Im Gegenteil, es gibt uns die wertvolle Basis, um unseren Geist zu schulen, das in uns angelegte Potential zur Erkenntnis zu fördern und, wer weiss, eines Tages die Freiheit einzutreten und auszutreten wie es uns gefällt.

Wir leben in einer Scheinwelt

Im Diamant-Sutradem Sutra über die Überwindung aller Täuschungen – sagte der Buddha, dass alle Dinge betrachtet werden sollten wie; «ein Traum, ein flackerndes Licht, ein Tautropfen, ein Phantom, eine Blase im fliessenden Fluss».

Auch ermahnte er seine Anhänger, immer gewahr zu sein, dass die «Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen, aber auch nichts anderes.»

D.h. man sollte nicht behaupten, die Erscheinungswelt sei die Wirklichkeit, man sollte aber auch nicht der Idee verfallen, die Dinge würden gar nicht existieren, nur weil sie nicht so sind, wie wir meinen. Beide Ansichten sind falsch. Ich denke, der Gang durch ein Spiegelkabinett kann uns diese Wahrheit näher bringen. Aber nur, wenn man dies mit Weisheit tun.

Wenn man unwissend bleibt, wandert man weiter von (T)Raum zu (T)Raum, immer im gleichen (Gedanken)- Gebäude gefangen. Daran ändert auch die sogenannte Meditation nichts. Denn wenn man über irgendetwas meditiert, d.h. wenn sich die Gedanken auch beim vermeintlichen «stillen Sitzen» um irgendein Objekt drehen — um sich selbst, um etwas Vergangenes, um eine Verletzung, um einen Wunsch, um dieses oder jenes — dann wandert man unwissend im eigenen Spiegelkabinett umher.

Der Ausgang

Wie der Buddha sein Spiegelkabinett verlassen hat und ins wahre Leben eintrat, können wir in den Sutras nachlesen. Den Weg, den er für uns beschrieb, der Edle achtfache Pfad, den kann man jedoch durch Lesen nicht finden. Man muss das, tun, was der Buddha und alle Menschen, die den Ausgang bisher gefunden haben, getan haben: Richtig hinschauen, richtig denken, richtig handeln. Statt die gewohnte, selbstzentrierte Denkerei zu betreiben, statt sich von allen Erscheinungen in den Spiegelwänden täuschen zu lassen, schalte man das Licht des reinen Gewahrseins ein und werde selbst zum Spiegel.

Dann, und nur dann, kann man die Wirklichkeit sehen. Dann, und nur dann, wird man von den Geschehnissen nicht mehr verwirrt. Dann und nur dann kann man nachvollziehen, was es heisst, wenn gesagt wird:

«Wie der Wind einen Felsbrocken nicht zum Wanken bringt, so wird der weise Mensch nicht von Lob und Tadel beeinflusst.» Dhammapada

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