Schnee

Schnee – AWH, vorgetragen Dezember 2023

Als ich heute morgen die Rollläden hochzog, erinnerte mich die unerwartet zauberhafte Schneelandschaft unmittelbar an eine Episode in einem der Zen-Klöster, wo ich eine Zeitlang zu Gast sein durfte. Es war ein eisig kalter Morgen im Dezember während der intensiven Meditationswoche von Rohatsu. Die Schiebewände der Vortragshalle standen weit offen. Innen und Aussen waren nicht getrennt.

Der Roshi gab ein Teisho über eine Geschichte, die in der Zen-Tradition recht bekannt ist. Sie handelt von einem Laien, namens P’ang, der viele Jahre lang von Kloster zu Kloster wanderte, im Bestreben, sein bereits tiefes Verständnis der Realität im Dialog mit unterschiedlichen Chan (Zen)-Meistern zu testen und zu vertiefen.

Als es wieder einmal so weit war, einen Ort zu verlassen, an dem er längere Zeit geübt hatte, beauftragte der dortige Abt einige seiner älteren Schüler, den Gast zum Ausgangstor der Tempelanlage zu begleiten. Das war ein Zeichen seiner Hochachtung für den Laien und dessen wachen und hellen Geist. Und genau wie bei uns heute fiel auch damals Schnee.

Beim Tor angekommen, erwarteten die begleitenden Mönche vom scheidenden Gast wie üblich ein weises Abschiedswort. Doch P’ang sagte bloss: «Oh, die schönen Schneeflocken! Sie fallen eine nach der andern an diesen Ort; und sie fallen nirgendwo anders hin.» … Nach einem Moment der verblüfften Stille fragte einer der Mönche: «Wohin fallen sie denn?»

Das Geheimnis des Gewöhnlichen

Man mag denken: Hm, da hat einer jahrelang in Zen-Tempeln gelebt und meditiert und hat am Schluss nichts anderes zu sagen, als dass die Schneeflocken schön sind und dahin fallen, wo sie hinfallen. Na und? Das ist doch eine Binsenwahrheit – was sollten sie sonst tun?

Vielleicht war genau diese Überlegung, diese leise Skepsis die Ursache für die Frage des Mönchs, wohin die Flocken denn fallen. Der gleiche Zweifel mag sich in uns beim Hören von solchen Geschichten regen. Aber genau diese Skepsis ist der Grund, warum man sich in der Zen-Tradition seit Generationen mit solchen Geschichten befasst.

Denn sind es nicht gerade Zweifel oder Ungereimtheiten in ganz gewöhnlichen Belangen, die uns anregen, das Gewöhnliche genauer zu betrachten? – Was hat es mir dieser Sache auf sich? Gibt es da etwas zu erkennen oder zu lernen?

Hier ist also die Rede von Schneeflocken; sie fallen einzeln nebeneinander und übereinander, aber jede fällt für sich allein. Und sie bleiben dort, wo sie hingefallen sind. Keine sagt zur anderen: «Geh weg, hier bin ich!» Gemeinsam hüllen sie alle Formen der Landschaft ins gleiche Weiss, ohne deren Individualität zu leugnen und ohne zwischen ihnen zu unterscheiden.

Diese Eigenschaft macht den Schnee im Zen zu einem beliebten Sinnbild für das Geheimnis unserer Existenz, die uns und alle anderen Lebewesen vereint und «gleich macht». Was ist es, das die Konturen unserer vielfältigen und individuellen Formen verwischt und dadurch die Gleichheit aller Dinge betont?

Im Grunde genommen ist es das Offensichtlichste und Gewöhnlichste, und doch leben wir gewissermassen daran vorbei. Wir sind so beschäftigt mit unseren persönlichen Freuden und Leiden, Wünschen und Verpflichtungen, dass wir gar nicht mehr merken, dass wir Teil von einer universellen Energie sind, die uns alle vereint.

Sein

Jeder Mensch sagt zu sich selber Ich. Und jedes Ich gestaltet seine eigene Welt. Aber diese automatische Gewissheit von «Ich bin» ist uns allen gemeinsam ist. Es ist das Bewusstsein vom eigenen Sein und dem Sein aller Dinge und Lebewesen.

Das Sein ist schon da, ehe man sich des eigenen Daseins bewusst wird. Es ist auch da, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Völlig unabhängig und absolut frei von einem Ich-Bewusstsein ist zeitlos und ohne Ort. Aber es gibt gar nichts im ganzen Universum, das nicht davon zeugt.

Vom Standpunkt des universalen Seins aus, gibt es keine Unterschiede zwischen den Lebewesen. Wir leben alle unter der gleichen Sonne, vom gleichen Wasser und auf dem gleichen Erdboden.

So gesehen sind auch unsere Freuden und Leiden nicht verschieden. Wir alle wollen überleben, und zwar möglichst angenehm. Wir möchten Frieden und Sicherheit haben und den Nachwuchs in Ruhe aufziehen. Alle möchten Schmerz, Krankheit und Tod vermeiden. Aus dieser Perspektive ist die Trauer des Einen nicht anders als die Trauer des Anderen, meine Freude nicht anders als deine Freude. Der Anlass dafür mag sehr unterschiedlich sein. Aber Freude ist Freude, Trauer ist Trauer, Wut ist Wut.

Dieses Gleichsein wird in der vorliegenden Geschichte durch den Schnee symbolisiert. Das Weiss vom Schnee macht alle Lebewesen gleich – gleichwertig und gleichberechtigt.

Das Bewusstsein um diese Gleichheit ist eine Gabe, die in allen Menschen als Potenz vorhanden ist. Wir nennen es Mitgefühl oder Empathie. Mitgefühl ist nicht zu verwechseln mit sentimentalem Mitleid – «ach, du Arme». Es ist ein natürliches Empfinden und Mitfühlen (Karuna) mit allen Lebewesen. Man könnte es auch universale Liebe nennen.

Und um es noch einmal zu betonen: Es ist nichts, was man lernen oder sich aneignen kann, sondern ein Aspekt unserer Urnatur. Aber leider wird es von den individuellen Wünschen und Begehren allzuoft überdeckt und verdrängt.

Die drei Körper Buddhas

In der buddhistischen Lehre unterscheidet man zwischen drei Wesensmerkmalen der universalen Natur. Man nennt sie «Die drei Körper Buddhas» . Statt «Körper» kann von «drei Aspekten» sprechen: Nicht-Sein, Sein und Dasein.

Der erste Körper betrifft den absoluten, unfassbaren Aspekt der Wirklichkeit. Er ist das absolute Gesetz oder Prinzip, das der Entfaltung des Lebens zu Grunde liegt. Dieses ist unserem Denken und Reden nicht zugänglich. Er ist identisch mit der «Leere», von der das Herz-Sutra spricht: In der Leere gibt es nichts zu unterscheiden. Es gibt keine Formen, keine Farben, keine Augen, keine Ohren, keine Nase, … kein Wissen, kein Nicht-Wissen usf. Man nennt diesen Aspekt deshalb Nicht-Sein.

Der zweite Körper umfasst das Sein, von dem wir soeben gesprochen haben.

Der dritte Körper betrifft den Aspekt der steten Wandlung aller Seinsformen. Es gibt ja nichts, das so bleibt wie es in einem gegebenen Moment ist. Entstehen, Wandlung und Zerfall sind Merkmale der universalen Natur. Auf Deutsch nennt man es Dasein.

Gemäss des buddhistischen Verstehens gestalten diese drei Körper – Nicht-Sein, Sein und Dasein – gemeinsam die Wirklichkeit.

Zusammenfassend und ohne in die Details zu gehen, kann man also feststellen:

Die Basis der Existenz ist die absolute Energie, aus der alles entsprechend der universalen Gesetzmässigkeit (Dharma) entsteht. Das ist der Dharma-Körper (Dharmakaya) oder das Nicht-Sein.

Aus dem Bereich des Nicht-Seins entsteht der Körper des Seins (Sambhogakaya). Auch dieser Aspekt ist nicht persönlich und ichlos. Indem sich die Seinsformen verändern und wandeln bilden sie den Körper der Wandlung im Da-Sein (Nirmanakaya).

Man muss sich die philosophischen Begriffe nicht merken. Ich führe sie nur an, um unsere träge Gehirnaktivität wenn möglich etwas zu stimulieren und unseren Geisteshorizont ein wenig zu erweitern (A. lächelt).

Die Leichtigkeit des Seins

Kehren wir zurück zu unserer Geschichte:

Der Laie P’ang war sich angesichts der weissen Landschaft und der fallenden Schneeflocken offenbar des «Wunders», das sich vor seinen Augen vollzog, total bewusst. Staunend betrachtete er, was sich in diesem Augenblick am Tempeltor vereinigte – er, die Mönche, die verschneiten Pflanzen und Steine, die Schneeflocken, die vom Himmel auf die Erde fielen, ja das ganze Universum. Er gab seiner Empfindung spontan Ausdruck, in dem er sagte: «Oh, die schönen Schneeflocken! Sie fallen eine nach der andern an diesen Ort; und sie fallen nirgendwo anders hin.»

Dies ist ein Beispiel für die Seins-Freude oder die «Leichtigkeit des Seins», die in der Zen-Literatur so oft in Versen und Anekdoten besungen wird. Auch ihr habt sicherlich schon solche Momente erlebt, in denen einfach alles schön und in Ordnung ist. Oft geschieht so etwas, wenn man sich in der freien Natur bewegt, manchmal in der Stille der Meditation oder vielleicht sogar mitten im Alltag: Man ist einfach glücklich, ohne dass es einen bestimmten Grund dafür gibt.

Diese Art von Freude versteht man im Zen als ein Wesenszug der universalen ichlosen Geistesnatur. Sie ist eine Charakteristikum des zweiten Köper Buddhas – des reinen Seins Manche Übersetzer nennen diesen Körper deshalb den Körper der Freude. Die angeborene Lebensfreude äussert sich zum Beispiel auch in der Offenheit und Neugierde von kleinen Kindern oder dem spielerischen Treiben junger Tiere. Und in den oft witzigen spontanen Worten und Taten von Menschen – Narren und Weisen – die ihre Ichbefangenheit vollkommen abgelegt haben. Die Welt ist voll von solchen Geschichten.

P’ang sah gewissermassen das ganze Drama des Lebens vor sich: Die winzigen, zarten Schneeflocken, von der kalten Luft aus Wasser geformt, sind im Stande, die Landschaft zu verwandeln. Jede Flocke fällt für sich allein, und jede fällt genau dorthin, wo sie hinfällt – Himmel und Erde werden eins. Und all dies geschieht ohne Aufhebens, ganz natürlich, so, wie es eben geschieht. Die ganze Buddha-Natur manifestierte sich für ihn in einem einzigen Blick.

Doch die Mönche, die ihn begleiteten, sahen offenbar nicht, was der Laie sah. Ihre Sicht der Wirklichkeit war zu eng und ihr Verständnis dementsprechend eingeschränkt.

Wäre dem nicht so gewesen, wäre die Geschichte hier zu Ende. Aber einer der unverständigen Mönche fühlte sich bemüssigt, etwas provokativ zu fragen: «Nun, wohin fallen die Schneeflocken denn?» Vielleicht wollte er den angeblich so weisen und vom Abt des Klosters so hoch geschätzten Laien P’ang testen. Oder diese Bemerkung verriet einfach sein banales, gewöhnliches Denken.

Als Antwort versetzte ihm P’ang wortlos einen Stoss. Darauf erwiderte der Mönch indigniert: «Laie, du solltest nicht so grob sein.»

Nun sagte P’ang: «Wenn du dich Zen-Schüler nennst und so redest, wird dich Yama (Herrscher der Hölle) niemals loslassen.»

Der Mönch gab nicht nach und fragte : «Was ist mir dir selbst?»

P’ang gab ihm einen zweiten Stoss und sagte: «Du schaust, aber du bist blind; du sprichst, aber du bist stumm.»

Das zweischneidige Schwert

Einer der bekannten Zen-Meister, der diese Geschichte kommentierte, sagte folgendes:

P’ang hat den Mönch für seine Oberflächlichkeit gerügt und hat ihm gleichzeitig die Antwort auf seine Frage gegeben: «Was ist mir dir?» Sein Schwert hatte zwei Seiten, eine um die Arroganz zu durchschneiden und eine, um die Ignoranz zu durchschneiden.

Wie ist das zu verstehen?

Die Rüge kann man natürlich leicht verstehen: Du Dussel, öffne die Augen, dann siehst du es selbst! Aber versteht man auch, dass P’angs Worte gleichzeitig die Frage des Mönchs beantworten? Ihm also eine Türe zu einem besseren Verstehen öffnen? «Du schaust, aber du bist blind; du sprichst, aber du bist stumm.»

Hier wird der Dialog zwischen P’ang und dem Mönch zu einem sogenannten Koan. Der Begriff Koan kann übersetzt werden als «unsichtbare Schranke». Gemeint ist eine Schranke oder eine Barriere, die das verstandesmässige Denken über die Wirklichkeit und die intuitive Einsicht in die Wirklichkeit trennt. Über die Wirklichkeit reden ist bei weitem nicht dasselbe, wie die Wirklichkeit direkt zu sehen.

Im Alltag äussert sich die unsichtbare Schranke zwischen dem verstandesmässigen Denken und dem unmittelbaren, fühlenden Sehen oft in einem inneren Konflikt. Ein Konflikt zwischen widersprüchlichen Gefühlen oder widersprüchlichen Gedanken. Man fühlt sich innerlich gefangen und weiss nicht, was man sagen, tun oder denken soll. Wir alle kennen diese Befindlichkeit zur Genüge.

In der Zen-Schule werden solche Momente direkt genutzt oder manchmal sogar provoziert, um die Schranke zu durchbrechen und den Geist aus seiner Starre zu erlösen. Das Schwert, das die Schranke zu durchschneiden vermag, kann ein Wort oder eine Geste sein, wenn es zur rechten Zeit und am rechten Ort eingesetzt wird.

Unsere Geschichte von den fallenden Schneeflocken ist ein Beispiel dafür. Lasst sie uns aus dieser Perspektive noch einmal betrachten.

Der Dialog

Die Geschichte beginnt mit der spontanen, unbeschwerten Äusserung von P’ang über die Schönheit der fallenden Schneeflocken. Daraus entwickelt sich ein Dialog, der einen Mönch in die Bredouille führt. Denn die Worte von P’ang weckten in seinem Geist offenbar einen Zweifel: Sind sie banal oder steckt etwas dahinter, das er nicht begreift? Und da er P’angs Geist nicht durchschauen kann, ist er verunsichert. Also geht er in die Offensive: Wohin fallen die Schneeflocken denn?

P’ang antwortet sofort, indem er dem Mönch einen Stoss versetzt. Damit gibt er ihm eine Chance, die Antwort selber zu finden. Doch der Kerl versteht die handgreifliche direkte Antwort nicht und geht in die Defensive: Du solltest nicht so grob sein!

P’ang sieht den Konflikt des Mönchs und stösst ihn weiter in die Ecke: Wenn du als Zen-Mönch so (unverständig) redest, wirst du nie Befreiung erlangen.

Nun fühlt sich der Mönch provoziert und fragt: Und was ist denn mit dir selbst? Als Aussenstehende wissen wir natürlich nicht, ob er sich aus der Ecke befreien will, indem er den Spiess umdreht und auf P’ang richtet – «und du, was weisst denn du?» – oder ob er als ernsthafter Zen-Schüler von P’ang ein klärendes Wort erhofft, das seine Spannung auflösen wird.

Wiederum erfasst P’ang die Situation und gibt dem Mönche eine weitere Chance, sich aus der Bredouille zu befreien. Er stösst ihn noch einmal an. Da auch dieser Hinweis ins Leere geht, beendet er die Sache mit den Worten: «Du schaust, aber du bist blind; du sprichst, aber du bist stumm.»

Die verschlossene Verbindungstüre öffnen

Und nun kommt ein Zen-Meister und kommentiert: P’ang hat den Mönch für seine Oberflächlichkeit gerügt und hat ihm gleichzeitig die Antwort auf dessen Frage gegeben. Damit richtet er sich direkt an uns: Was ist der springende Punkt in dieser Geschichte? Warum und wie hat der Laie P’ang den Mönch nicht nur gerügt, sondern ihm auch die Antwort auf seine Frage gegeben.

Im Kontext der aktuellen Zen-Schulung wären nun jeder und jede aufgefordert, diese Frage selber zu durchdringen und zu beantworten. Nicht indem man irgend etwas Angelesenes oder Gehörtes anführt, sondern indem man sich in das Geschehen hineinversetzt und das eigene intuitive Wissen und Verstehen mobilisiert.

Ich benutze daher statt «Koan» lieber das Wort «Schlüssel». Denn um die seit Generationen verschlossene Türe zum angeborenen intuitiven Verstehen zu öffnen, muss man sich dem Problem ganz vorsichtig und feinfühlig annähern und die eigene Perspektive wie einen Schlüssel «drehen und wenden» bis der Widerstand wegfällt und die Türe aufspringt. Die Schranke durchbrochen.

In der Praxis gibt ein Zen-Lehrer niemals eine Antwort auf eine konfliktuelle Frage, aber er gibt uns vielleicht einen Hinweis in Form von weiteren Fragen oder Gesten. Denn nur das, was aus eigener Geisteskraft gesehen und erkannt wird, hat die Kraft, den Geist von Irrtümern und Vorurteilen zu befreien, so dass man tatsächlich sieht, was wirklich ist. Und sei es nur für einen kurzen Augenblick.

Schlüsselfragen

Doch für heute, will ich euch einige Hinweise geben, wie der Schlüssel gebraucht werden könnte. Wohl gemerkt, es geht nicht darum, dass man eine bereits vorhandene, aber nur dem Lehrer bekannte Antwort auf eine Frage findet. Im echten Zen gibt es keine Geheimnistuerei. Und was einem heute einleuchten mag und sinnvoll scheint, mag morgen schon wieder trüb oder unbefriedigend sein. Echt und wirklich ist immer nur das direkte, aktuelle Erleben. Im Gegensatz dazu ist die Erinnerung an das Erlebte bloss ein Schatten davon.

Dies gesagt, mache ich nun einige Vorschläge, wie man die Bemerkung von P’ang entschlüsseln könnte, als er sagte: «Du schaust, aber du bist blind; du sprichst, aber du bist stumm.»

Wie wäre es zum Beispiel, wenn man den Standpunkt etwas verändern würde, indem man das persönliche «du» mit «ich» ersetzt?

In diesem Fall sagt P’ang: Ich schaue, aber ich bin blind; ich spreche, aber ich bin stumm.»

Nun gibt es auf einmal keinen Unterschied mehr zwischen P’ang und dem Mönch!

Denn: Sind wir Menschen, was die Wirklichkeit anbetrifft, nicht letztendlich grundsätzlich blind und stumm, obwohl wir Augen haben zum Sehen und einen Mund zum Reden? – Unsere Sinne zeigen uns ja nur die Schatten oder Oberflächen der Dinge. Die Wirklichkeit selbst können sie nicht erfassen. Sie ist immer neu und kann von niemandem gewusst werden. Auch in dieser Hinsicht sind wir alle gleich und vereint.

Oder man könnte sich fragen: Sind wir nicht allesamt wie die Schneeflocken an diesen Ort gefallen und an keinen anderen?

Bin nicht auch ich wie die Schneeflocken ein Geschöpf der Natur, den Umständen entsprechend geformt, jedoch kurzlebig und vergänglich?

Denn: Ist unser Lebenselement – der wahrnehmende Geist – nicht von der gleichen Wesensnatur wie das wässrige Lebenselement (H2O) der Schneeflocken? – Wasser und Geist werden in der Überlieferung der Weisen aller Zeiten sehr oft gleichgesetzt. – Manchmal ist der Geist festgeformt wie Eis. Zum Beispiel in von uns geschaffenen Gegenständen, aber auch in sturen, unverrückbaren Ansichten. Manchmal ist er flüssig wie Wasser; zum Beispiel in Gedanken und Gefühlen. Er kann aber auch neblig oder dunstig sein, wie in Ahnungen und Träumen. Letztendlich aber ist er unsichtbar und unfassbar wie der wolkenlose Himmel, aus dem die Schneeflocken auf die Erde fallen.

Verbale Brücken

Als ich heute Morgen mit dem Öffnen der Fenster den Schnee sah, wurde der Schnee der Vergangenheit und der Schnee der Gegenwart eins. Die Erinnerung gewann ihre lebendige Aktualität zurück.

Doch wenn wir jetzt nicht an einem Meditationstag zusammensässen, wäre dieses Erleben längst vorbei und vergessen. Geblieben wäre höchstens meine Erinnerung an einen eiskalten Morgen in einem japanischen Zen-Kloster, in dem ich mich vor mehr als 40 Jahre einmal befand. Dann hätte ich diesen freudvollen Moment der Verschmelzung von Ort und Zeit, den Anblick des im Schnee funkelnden Sonnenlichts und der verwandelten Welt still und nur für mich allein genossen.

Da ich hier aber die Funktion inne habe, eine Dharma-Betrachtung zu geben, habe ich das wortfreien Erleben in Worte gefasst. Wenn Sender und Empfänger von Worten in meditativer Stille auf einander abgestimmt sind – sozusagen auf der gleichen Ebene schwingen – dann können Worte durchaus eine Brücke sein, auf der sich die Individuen geistig begegnen und intuitiv verstehen. Dies ist der verborgene Sinn der verbalen Weitergabe von nicht-verbalen Inhalten. In dieser Hinsicht sind Poesie und Zen-Worte miteinander nah verwandt.

Mögen wir alle viele Momente der Freude und der Leichtigkeit des Seins erleben. Denn sie verleihen dem menschlichen Leben mitten im Jubel und Trubel einen Sinn und unserem Bemühen eine Ausrichtung.

Schnee
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