Lebt wohl

Lebt wohl – “Liebe Weggefährten, irrt euch nicht. Es kümmert mich nicht, ob ihr die Sutras und anderen Texte kennt. Es ist mir egal, ob ihr König oder Minister seid. Es interessiert mich nicht, ob ihr euch flüssig ausdrücken könnt, scharfsinnig und intelligent seid. Ich will bloss, dass ihr wahre Einsicht habt.

Brüder, selbst wenn ihr hundert Sutras samt den dazugehörenden Kommentaren meistert, übertrefft ihr doch nicht denjenigen, der nichts tut. Wenn ihr sie beherrscht, schaut ihr bloss auf andere herunter. Streitsüchtige Dämonen und unwissende, selbstzentrierte Menschen vergrössern das Karma, das in die Hölle führt. Selbst der Mönch Sunaksatra, der glaubte, die zwölf Abteilungen der Leere zu verstehen, fiel bei lebendigem Leib in die Hölle.

Die grosse Erde hatte keinen Raum für ihn.[efn_note]Sunaksatra (chin. Shan-hsing) konnte aus allen zwölf Abteilungen der buddhistischen Weisheitslehre zitieren, verstand aber kein Wort. Er verbündete sich mit falschen Freunden und verleugnete Buddhas Lehre. Sein Leben wurde zu einer einzigen Hölle.” (Anm. aus Ruth Fuller Sasaki: The Record of Lin-chi, S. 81)).[/efn_note] Es ist besser, in Frieden zu leben und die Dinge in Ruhe zu lassen.

Wenn hungrig, esse ich.
Wenn müde, schliesse ich die Augen. Narren lachen mich aus,
aber der Weise versteht.’“ [efn_note]Dieser Vers ist ein Zitat aus „Das Lied der Freude am Weg (chin. Lo-tao-ko) von Nangaku Myosan (chin. Nan-yüeh). Nangaku war der Zweite Patriarch der sog. nördlichen Schule des Ch‘an.[/efn_note]

Im vorangegangenen Abschnitt seiner Ansprache sagt Lin-chi, wenn man Buddha suche, verliere man Buddha. Wenn man den Weg (Dharma) suche, verliere man den Weg. Wenn man Weisheit (Bodhi) suche, verliere man die Weisheit. Warum? Weil dies alles im eigenen Geist existiert. Wo ist euer Geist?

Lin-chi weiss ganz klar, dass echtes Verstehen des Universums nichts mit dem Intellekt zu tun hat. Wenn es das Gehirn anstrengt, hat es keinen Wert; das hilft in keiner misslichen Lebenslage. Deshalb spielt es für ihn überhaupt keine Rolle, ob jemand die buddhistischen Texte auswendig kennt oder eine hohe gesellschaftliche Stellung innehat. Er schmäht alle diese Tugenden und Positionen eines Menschen, weil er den Akzent auf diesen vorhandenen Geist setzt. Für ihn zählt nur die echte Einsicht in das Wesen seiner selbst und aller Dinge.

Wenn ich euch frage, was dieses Glas hier ist, wie antwortet ihr? Ein chinesischer Zen-Meister zeigte auf einen hölzernen Wassereimer und sagte zu den anwesenden Schülern: „Wenn ihr dies nicht ‚Wassereimer‘ nennt, was ist es?“ Einer nach dem anderen gab eine Antwort wie: „das Universum“, „die Wirklichkeit“, „ein Stück Holz“, „alles“ usw. Der Meister wies sie alle ab. Dann kam einer der Schüler, es war der Koch, der stiess den Krug um und verliess den Raum. Der Meister stimmte zu.[efn_note]Siehe Koansammlung „Mumonkan“, Fall 40.[/efn_note]

Wenn ihr auf die Frage, was wirklich ist, bloss ein Wort durch ein anderes ersetzt, ist das so, als ob ihr einen Nagel mit einem anderen Nagel herausschlagen wolltet. Das ist kein echtes Verstehen, keine Klarsicht. Wer dieses Glas nicht erfasst, wird auch nichts anderes wahrhaftig erfassen. Und ohne echtes Verstehen lebt ihr euer Leben wie einen Traum oder eine Fata Morgana. Gebt euch nicht zufrieden mit solcher Träumerei. Wir sollten etwas Wahres haben in unserem Leben.

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Wie ihr wisst, sagen alle immer „Ich“, „Ich“, Ich“. „Ich“ steht da in der Mitte wie ein hoher Telefonmast. Wenn wir wissen, dass unsere Existenz relativ ist, können wir diese selbstzentrierte Haltung nicht länger aufrechterhalten. Das Karma, das sie schafft ist alles andere als gut. Lin-chi nennt es sogar die „Hölle“. Wenn man wie Sunaksatra bloss die Worte kennt und Konzepte formt, dann hat man nichts Wahres. Leere ist kein menschliches Konzept, es ist tatsächliche Leere.

Viele Leute fallen in diese Grube und kommen niemals heraus. In dieser Lage ist es unbedingt erforderlich, dass man den Geist weit öffnet, demütig ist und akzeptiert, was ist. Das ist nicht leicht.

„Es ist besser, in Frieden zu leben und die Dinge in Ruhe zu lassen.“ Frieden kommt mit dem echten Verstehen. Dann gibt es nichts mehr zu tun. Man isst Salat und Bohnen und schweigt. Das Ziel ist erreicht.

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„Weggefährten, sucht nichts in Buchstaben. Den Geist in Unruhe zu versetzen führt zu Erschöpfung. Es ist nutzlos, kalte Luft einzuatmen. Besser ist es, in Ruhe zu verweilen und ein für alle Mal zu realisieren, dass die Welt der kausalen Zusammenhänge grundsätzlich ohne Geburt ist. Damit geht man weiter als die Bodhisattvas, die von der notdürftigen Lehre der drei Fahrzeuge abhängig sind.

Verbringt eure Tage nicht leichtfertig. In der Vergangenheit, als ich noch nichts verstand, lebte ich in tiefer Dunkelheit. Aber ich wusste, ich kann meine Zeit nicht vergeuden; mit brennendem Bauch und stürmischem Herzen rannte ich umher auf der Suche nach dem Weg. Später fand ich Hilfe und heute kann ich endlich so zu euch sprechen. Ich rate euch, Weggefährten, lebt nicht nur für den Lebensunterhalt. Schaut, das Leben vergeht so schnell. Einem echten Lehrer zu begegnen ist sehr selten – so selten wie das Erblühen eines Udumbara-Baumes.“

Lin-chi wird nicht müde zu betonen, dass das Anhäufen von Wissen über Buddhismus, ja sogar das Praktizieren der formellen Meditation, nichts mit Zen zu tun hat. Zen studieren heisst, darin zu leben; es im alltäglichen Leben, in jedem Augenblick, zu fühlen und zu verwirklichen. Dann offenbart sich das universale Gesetz im eigenen Herzen. Die Kirschblüten erscheinen im Frühling; die Ahornblätter röten sich im Herbst; das Weizenfeld wird beim Sonnenuntergang zu einem silbernen Meer. Es ist schwer, diese innere Haltung zu bewahren.

Konfuzius sagte: „Mit zwanzig begann ich Texte zu studieren. Mit dreissig studierte ich das Leben. Mit vierzig rätselte ich nicht mehr über die Dinge. Mit fünfzig verstand ich mein Schicksal. Ich nehme die Fügung und alles, was ich habe, an, ohne Widerstand zu leisten. Ich handle und rede in Übereinstimmung damit und folge immer dem Gesetz der grossen Natur.“ Wir müssen nicht bis siebzig warten. Wir können dies früher realisieren.

Beobachtet euer Fühlen und die Reaktionen eurer Mitlebewesen. Das kommt Zen näher als jedes Koan, an dem ihr arbeitet. Aber was gewinnt ihr, wenn ihr euren Geist anstrengt, um die Bedeutung des Buddhismus zu verstehen?

„Es ist nutzlos, kalte Luft einzuatmen.“ Die Bedeutung von „kalte Luft einatmen“ ist nicht ganz klar hier. Manche deuten es als das Aufnehmen von Worten Anderer in der Meinung, man bekomme dadurch etwas Reales. Manche sehen darin eine Anspielung auf die extensive Praxis von Meditation und Sutra-Rezitation. Aber auch „heisse Luft auszuatmen ist nutzlos“[efn_note]Dies ist eine Anspielung auf den englischen Ausdruck „To be full of hot air“, was bedeutet, „aufgeblasen“ od. „arrogant“ zu sein. (Anm. d. Hrsg.)[/efn_note]. Ein grosser Lehrer begegnet anderen in einfacher Kleidung. Ein wahrhaft weiser Mensch stellt seinen Erfolg nicht zu Schau. Er ist bescheiden. Zen soll auf diese Weise verwirklicht werden.

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„Besser ist es, in Ruhe zu verweilen ….“ Im Ursprungstext steht statt „in Ruhe“ zu verweilen der Ausdruck „dort, wo keine Gedanken entstehen“. Dieser Zustand ist sehr wichtig. Ich erfuhr ihn mitten im Schlachtfeld im japanisch-chinesischen Krieg: Da war ein Schrei – aber keine Gedanken! Im täglichen Leben lacht man, wird zornig und schimpft – aber keine Gedanken formen sich. Ihr solltet diesen Bereich in euch selbst finden, den Bereich, der vollkommen unbesetzt ist, völlig leer.

„… und ein für alle Mal zu realisieren, dass die Welt der kausalen Zusammenhänge grundsätzlich ohne Geburt ist…“ Wenn ihr diesen „Ort“ findet, können euch Worte nichts anhaben und ihr fallt nicht in die Kausalität; ihr bewahrt eine schlichte, einfache Einstellung, welche die wahre Mitte des Geistes ausmacht. Echtes Gefühl kommt ganz natürlich. Alles folgt den Gezeiten der Natur. Das ist die Haltung, in der kein Denken aufkommt.

„Verbringt eure Tage nicht leichtfertig.“ Heute seid ihr Christen, morgen Buddhisten. Heute verfolgt ihr dieses, morgen jenes. Auf diese Weise kommt ihr im ganzen Leben zu nichts.

„In der Vergangenheit, als ich noch nichts verstand, lebte ich in tiefer Dunkelheit.“ Lin-chi gibt es zu: Alles war reines, monotones Dharmakāya – stockdunkel – wie ein schwarzer Ochse, der im Dunkeln schläft, oder eine stumme Krähe in tiefer Nacht. Wie kann man den Ochsen oder die Krähe erkennen?

„Aber ich wusste, ich kann meine Zeit nicht vergeuden.“ Man muss Tag und Nacht aufmerksam sein.

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„Mit brennendem Bauch und stürmischem Herzen rannte ich umher auf der Suche nach dem Weg. Später fand ich jedoch Hilfe und heute kann ich endlich so zu euch sprechen.“ Dieser Tag kam nicht plötzlich. Er erreichte ihn mit sehnendem Herzen und kochendem Leib. Alle reden über das Lebensgesetz, das in Buch beschrieben steht, aber es ist äusserst schwierig, es in sich selbst zu finden und noch schwieriger, es im täglichen Leben zu manifestieren.

Es gibt Möglichkeiten, zu prüfen, wie weit man mit dem Gesetz, das in einem selbst geschrieben steht, übereinstimmt. Sanzen ist eine solche Möglichkeit; es geht dabei nicht um die Auseinandersetzung mit einer Hypothese oder einem philosophischen Schluss. Mit Hilfe des Lehrers kämpft der Schüler darum, sein eigenes Gesetz zu realisieren, und der Lehrer kämpft mit dem Schüler um dessen Manifestation. Lehrer und Schüler müssen allerdings beide gut sein!

Manchmal denkt ein Schüler, der vom Lehrer hart herausgefordert wird, er habe dem Lehrer vielleicht zu wenig Geld gegeben oder er sei aus irgend einem anderen Grund „böse“ mit ihm. In diesem Fall kann der Lehrer nicht mit voller Kraft mit dem Schüler kämpfen. Er kann ihn nicht ungehindert anpacken – er behält seine Hand in der Tasche. Das ist immer eine grosse Enttäuschung für einen Lehrer.

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„Lebt nicht nur für den Lebensunterhalt.“ In der Anfangszeit meines Lebens in Amerika wohnte ich acht Monate lang im Hause eines Bekannten. Mein Lehrer schrieb mir: „Dein Lebensunterhalt ist in deinem Dharma-Geist enthalten.“ Aber ich hatte diese Einstellung verloren und musste wieder danach suchen. Diese Worte haben grosse Bedeutung, sie sind sozusagen das Herz des Buddhismus. Wir meinen, das Dharma würde uns nicht ernähren, aber was wir zum täglichen Leben brauchen, kommt aus dem Dharma-Geist und nicht umgekehrt. Dharma ist aber nicht unser Lebensunterhalt.

Unser Dach, unsere Nahrung, unsere Kleidung, die ganze alltägliche Ausstattung kommen mit dem natürlichen Fluss unseres Lebens, aber der Dharma-Geist ist nicht in diesen zu suchen. Der Zen-Mensch ist kein Philosoph, er lebt mit grossem Vertrauen – dann gibt es auch in echten Schwierigkeiten kleine Augenblicke, in denen er lächeln kann.

„Schaut, das Leben vergeht so schnell.“ Ich trat mit zwanzig Jahren ins Kloster ein. Es scheint mir als seien nur wenige Tage vergangen seither, doch nun bin ich über fünfzig Jahre alt. Mein Lehrer sagte mir damals: „Deine Zukunft ist universal wie der Ozean.“ Ich müsste wohl sagen, dass mein Lebensabend angebrochen sei. Aber mein Weg ist lang.

„Einem echten Lehrer zu begegnen ist sehr selten – so selten wie das Erblühen eines Udumbara-Baumes.“ Es ist nicht schwer, einen Lehrer zu finden, mit dem man über dieses und jenes sprechen kann oder der einem aus einem Rezeptbuch vorliest – man kann sogar Spass haben, sich mit ihm zu streiten. Aber es ist eine seltene Gelegenheit, einen Lehrer zu finden, der einem jede Vorstellung, jede Hypothese aus dem Gehirn nimmt und einem ein gewisses Verstehen der Wahrheit gibt.

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So ist es auch heute in Japan: Hunderte von Studenten gehen in dieses oder jenes Kloster mit verschiedenen Schulrichtungen – manchmal sogar in dieses oder jenes Zen-Kloster, aber sie finden selten einen wirklich erleuchteten Lehrer. Ein authentischer Lehrer ist so einfach, dass die Leute es gar nicht glauben und seine Einsicht bezweifeln. Oder sie zweifeln, weil sie ihn in einem Schwimmbecken schwimmen oder bei anderen Vergnügungen sahen. Sie meinen, er müsste lange silberne Barthaare, einen gekrümmten Rücken und leuchtende Augen haben.

Der Udumbara-Baum ist ein mystischer Baum, von dem gesagt wird, er blühe nur alle 3000 Jahre. In der buddhistischen Symbolik gilt sein Erblühen als ein Zeichen für das Kommen eines Buddha. Wenn Buddha kommt, blüht der Udumbara im eigenen Geist. Obwohl man unwissend ist, kann plötzlich etwas im Geist aufleuchten; dann öffnet man vielleicht das Auge und ändert die eigene Sicht vollständig – „Vielleicht war derjenige, den ich schwimmen sah, der echte Lehrer!“

Aber dies geschieht nicht oft; der Geist ist normalerweise mit Übereinkünften und Bräuchen gefüllt, die nicht dem eigenen Denken entspringen; eure Gedanken sind wie Kleider in einem Warenhaus. Ihr kauft sie nach Lust und Laune. Sie wurden nicht für euch persönlich gemacht, also sind sie auch nicht eure eigenen.

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„Ihr hört von diesem alten Kerl Lin-chi und kommt von überall her, um diesem verfängliche Dharma-Fragen zu stellen in der Absicht, ihn zu besiegen. Dann seht ihr diesen Bergmönch in seiner Ganzheit agieren. Ihr starrt mit leeren Augen und offenem Mund und wisst nicht, wie ihr antworten sollt. Dann sage ich natürlich zu euch: ‚Ein Esel kann es nicht aushalten, von einem Drachen-Elefanten zertrampelt zu werden.‘“

Ihr läuft herum mit stolzer Brust und verkündet: „Ich mache Zen, ich verstehe den Weg!.‘“ Doch wenn ich zwei oder drei von euch auffordere, hervorzutreten, habt ihr keine Ahnung, was ihr tun sollt. Idioten! Wo ihr auch hingeht mit Körper und Geist, ihr bewegt eure Lippen, betört einfache Leute. Aber der Tag wird kommen, an dem ihr mit Eisenstangen geschlagen werdet. Ihr wollt die Welt nicht wirklich aufgeben und so werdet ihr in der Welt der Dämonen enden.“

Lin-chi redet hier von und zu den Schülern, die von weit her kamen, aber seiner Präsenz in der direkten Begegnung nicht standhalten können. Sie leben alle in Vorstellungen, Konzepten und Gedanken-Material. Sie wissen nicht, dass ihre Füsse tatsächlich auf dieser Erde stehen und meinen deshalb, ihr aktuelles Leben habe nichts mit Zen zu tun. Diese Auffassung von Zen ist nutzlos, sie hat keine Bedeutung für das wirkliche Leben.

Wenn Leute mit Zögern ins Sanzen gehen oder mit der Absicht, einen Ego-Sieg davon zu tragen, dann handelt es sich um halbgebackene Schüler. Zu Lin-chis Zeiten fand zwischen guten Lehrern und guten Schülern ein echter geistiger Kampf um wahre Klarsicht statt.

Als Lin-chi von Chao-chou (jap. Joshu) gefragt wurde: „Was ist Buddhismus?“, packte er Chao-chou beim Kragen und gab ihm die Frage zurück. Joshu war verwirrt, Lin-chi gab ihm einen Schlag und stiess ihn von sich. Chao-chou machte sich taumelnd davon, sein Blick war leer. Ein Mönch, der diese Begegnung beobachtet hatte, fragte ihn: „Warum hast du dich nicht vor dem Lehrer verbeugt?“ Chao-chu realisierte, dass er in dieser Hinsicht unachtsam gehandelt hatte. Er kehrte zu Lin-chi zurück und verbeugte sich. In diesem Augenblick – Aha! – wurde ihm alles klar. In diesem Moment wurde er ganz. Völlig nackt trat er in die wahrhaftige Wirklichkeit ein. Solche Augenblicke sind wunderbar.

Es ist in einem solchen wertvollen Moment, wenn es rein gar nichts im Geist gibt, dass man das Licht empfängt. Normalerweise ist das Gehirn mit dem Sägemehl der Konzepte, philosophischen Ideen usw. gefüllt, so dass es das Licht nicht durchlassen kann. Doch ab und zu fällt der Schleier, das Bewusstsein und die Erscheinungen kommen zusammen und man erkennt das ganze Universum in sich selbst!

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„Ein Esel kann es nicht aushalten, von einem Drachen-Elefanten zertrampelt zu werden.“ Viele Lehrer, damals wie heute, benutzen Zitate aus Sutras oder andere abgenutzte Floskeln, doch Lin-chi trampelt auf dem Schüler herum und zerquetscht ihn! Ein westlicher Psychologe kam zu einem Zen-Mönch und redet zwei Stunden auf diesen ein. Als er fertig war, fragte ihn der Mönch: „Nehmen Sie eine Tasse Tee?“ Er tram- pelte diesen blinden Narren wirklich nieder!

Jemand sagte einmal: „Wenn ein Zen-Meister einem Tee offeriert, muss man sich fürchten.“ Das Handeln eines Zen-Meisters ist sehr klar, aber es ist sehr schwierig, es zu sehen.

„Ihr läuft herum mit stolzer Brust … Doch wenn ich zwei oder drei von euch auffordere, hervorzutreten, habt ihr keine Ahnung, was ihr tun sollt.“ Gefangen wie eine Ratte in einer Röhre können sie weder vor- noch rückwärts gehen. Ihr Zen ist nichts als Vorstellung und Theorie. Sie spielen ein Drama. Richtiges Zen ist kein Drama, keine Theorie.

„Wo ihr auch hingeht mit Körper und Geist, ihr bewegt eure Lippen, betört einfache Leute. Aber der Tag wird kommen, an dem ihr mit Eisenstangen geschlagen werdet.“ Lin-chi ist manchmal sehr sarkastisch.

„Ihr wollt die Welt nicht wirklich aufgeben und so werdet ihr in der Welt der Dämonen enden.“ Ihr denkt, ihr hättet euch von der Trivialität des Lebens gelöst, seid aber weiterhin am Disputieren, Streiten und Kämpfen. Wer sich wirklich von der Welt gelöst hat, ist frei vom Gezeter all dieser Geistesinhalte. Er bewegt sich nicht in einer Vorstellung von der Wirklichkeit, sondern steht auf einem neuen Boden, auf der Wirklichkeit selbst. Solche Leute verschwinden mehr und mehr aus der heutigen Welt.

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„Der höchste Weg ist nichts, das durch Argumente und Debatten zu begeistern sucht, noch ist es etwas, das danach trachtet, Andersgläubige lauthals zu widerlegen. Das, was von Buddhas und Meistern weitergegeben wird, dient keinem besonderen Zweck. Obwohl es wörtliche Belehrungen gibt wie die Lehren von den drei Fahrzeugen, die Lehre von Ursache und Wirkung oder die Lehre der fünf Skandhas, so gehören diese doch alle in die Kategorie von Doktrin und Ritus. Nur im Fall der Lehre von der perfekten und vollkommenen Erleuchtung trifft dies nicht zu. Sudhana hat sich nicht bei diesen Lehren aufgehalten.

Liebe Zuhörer, missbraucht euren Geist nicht. Der grosse Ozean beherbergt keine Leichen. Ihr aber schleppt solche auf den Schultern um die ganze Welt. Ihr selber schafft die Blockierungen in eurem Geist.

Wenn es keine Wolken um die Sonne gibt, ist der Himmel strahlend blau.
Wenn es keine Linsentrübung gibt,
gibt es keine Scheinblumen in der Luft.“

Wir nähern uns nun dem Ende von Lin-chis Ansprachen.

„Der höchste Weg ist nichts, das durch Argumente und Debatten zu begeistern sucht, noch ist es etwas, das danach trachtet, Andersgläubige lauthals zu widerlegen.“ Es gibt nichts, worüber man streiten soll – Materie versus Geist, Zeit und Raum, Wirklichkeit und Täuschung – im Zen gibt es nichts dergleichen. Natürlich muss auch Lin-chi Worte benutzen, also spricht er vom „höchsten Weg“. Was ist das? Was ist das Höchste, Letztendliche des Dharmas? Was ist die höchste Errungenschaft? Ein Lehrer mag erklären, es sei euer eigenes Bewusstsein. Dann denkt ihr, Bewusstsein sei in eurem Körper und meint, ihr müsstet über Bewusstsein meditieren. Unsinn!

Das Universum selbst ist Bewusstsein. Wie das Koan besagt: „Die drei Welten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) sind vollkommen leer, woher kommt dann deine Seele (dein Bewusstsein)? Das zu erkennen ist nicht besonders schwierig.

Matsu stellte Huang-po diese Frage. Huang-po sagte: „Buddha ist mein Bewusstsein“. Ma-tsu erwiderte: „Buddha ist nicht dein Bewusstsein.“ Aber Huang-po verstand die Wirklichkeit und konterte: „Was auch immer behauptet wird, Buddha ist Bewusstsein.“ Das ist eine sehr gute Antwort, aber ihre Wahrheit liegt nicht im Wortlaut. Sie kommt nicht aus dem Mund eines Vorzeigemönchs – Huang-Po war wirklich im universalen Bewusstsein angelangt.

„Das, was von Buddhas und Meistern weitergegeben wird, dient keinem besonderen Zweck.“ Von Buddha zu Mahakashyapa zu Ananda zu vielen weiteren Fackelträgern. Die Fackel findet ein Ende, aber das Feuer bleibt erhalten – es wird nicht durch Worte weitergegeben, sondern von Seele zu Seele, von Angesicht zu Angesicht. Das ist Zen.

„Obwohl es wörtliche Belehrungen gibt, … , so gehören diese doch alle in die Kategorie von Doktrin und Ritus.“ Schön zu lesen, aber zu zweitrangigen Hypothesen verkommen. Das ist Pseudo-Buddhismus.

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„Nur im Fall der Lehre von der perfekten und vollkommenen Erleuchtung trifft dies nicht zu.“ Das ist so, weil es dabei nichts zu reden gibt. Man demonstriert ES direkt. Hakuin forderte seine Schüler auf, ihm den Klang einer Hand zu zeigen. Solche Aufforderungen können einen direkt hineinführen. So wie der Buddha eine Blume in der Hand hielt und lächelte. Mahakashyapa war der einzige in der Menge, der ihn verstand. Auf diese Weise wird Zen empfangen. Der Buddha sprach kein Wort, aber er übergab die Fackel an Mahakashyapa, der „lächelte“.

„Sudhana hat sich nicht bei diesen Lehren aufgehalten.“ Sudhana, ein junger Priester in Indien, der im Avatamsaka-Sutra erwähnt wird, legte sich auf keinen Ort und keine Meinung fest. Er haftete an keinem äusseren Schein einer Lehre oder anderen sinnlosen Gedankeninhalten. Das Wahre kann direkt erfasst werden. Nur zu meditieren ohne etwas zu begreifen, ist kein echter Buddhismus.

„Missbraucht euren Geist nicht. Der grosse Ozean beherbergt keine Leichen.“ Wer wie das grosse Meer ist, der trägt keine Leichen in seinem Gemüt herum. Lasst ab davon, die wechselnden Launen der Lebenserscheinungen in der inneren oder äusseren Welt in eurem Geist zu verfolgen. Behaltet nicht einmal die besagte Lotusblume oder die eine Hand von Hakuin! Behaltet nicht ein einziges Wort Buddhas in eurem Geist auf. Werft es weg? Bleibt bei der reinen Aktivität eures Geistes!

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„Ihr selber schafft die Blockierungen in eurem Geist.“ Ihr versucht, euren Seelenfrieden durch die äusseren Ereignisse zu finden. Wie lächerlich! Der Seele auf die Spur kommen zu wollen durch reden und analysieren bedeutet, von aussen zu schauen. Auch das, was ihr „Innenschau durch Meditation“ nennt, ist nichts anderes als eine Aussenansicht. Viele Leute unternehmen dieses törichte Unterfangen, aber derartige Meditation ist nutzlos. Die Seele selbst muss sich selbst betrachten. Schaut nicht von oben auf euer Selbstbildnis hinunter, sondern setzt euch mitten in das Dasein hinein. Das ist die richtige Meditationshaltung.

„Wenn es keine Wolken um die Sonne gibt, ist der Himmel strahlend blau.“ Das ist ein Ausdruck echter Meditationserfahrung. Alles ist vergessen; du wirst in deiner Seele geboren. Von hier aus kannst du aufstehen und dein tägliches Leben gestalten. Nun wäre allerdings ein echter Lehrer erforderlich, denn wenn man an diesem Punkt missleitet wird, erhebt man sich womöglich nie vom Boden der Seele und kann die Verbindung zum Alltag nicht herstellen.

Diese „Sonne“ ist das Licht, das in unserem Geist leuchtet; es scheint als wahres Licht in das „Blau“ des Himmels. Das Wort „blau“ passt hier wunderbar – alles Gedanken-Material ist verschwunden. Nun herrscht wahre Leere (Shunyata). „Leere“ ist ein gefährliches Wort; denn wenn man es missversteht, verfällt man in Nihilismus. Nichts und Leere sind sehr verschieden.

„Wenn es keine Linsentrübung gibt, gibt es keine Scheinblumen in der Luft.“ Vorstellungen, Konzepte gleichen Scheinblumen in der Luft. Wenn man das Universum als ein Konglomerat eigener Vorstellungen sieht, lebt man nicht in der lebendigen Wirklichkeit (Dharma).

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„Liebe Weggefährten, wenn ihr in Übereinstimmung mit dem Dharma leben wollt, ist es nur nötig, keinen Zwiespalt zu hegen. Wenn ES sich ausdehnt, ist es der ganze Kosmos. Wenn ES sich zu- sammenzieht, findet nicht einmal ein Haar einen Platz darauf. ES ist leuchtend klar. ES hat nie Mangel. ES hat nie gefehlt. Niemand hat ES gesehen, niemand hat ES gehört. Wie wollt ihr ES also nennen?

Die Alten sagten ‚Worte treffen es nicht‘. Schaut euch bloss selbst an: Gibt es etwas, das existiert?[efn_note]Dieser Satz wird von diversen Autoren unterschiedlich übersetzt wie z.B.: „Schaue nur in dir selbst, was gibt es sonst?“ oder „Betrachte bloss dich selbst – das, was da ist.“[/efn_note] Ich könnte endlos weiterreden. Jeder muss es aber für sich selbst tun. Lebt wohl!“

Was ist dieses „ES“? Es ist die Wirklichkeit. Nicht der philosophische Begriff „Wirklichkeit“ im Gegensatz zu „Täuschung“ oder „Nicht-Wirklichkeit“, sondern die gegenwärtige Aktivität allen Seins, die ohne Worte erfahren wird. Unsere philosophischen Ansichten, Meinungen und Überzeugungen sind höchstens vergleichbar mit Rezepten für Heilmittel oder Mahlzeiten. Davon wird man weder gesund noch satt. Philosophie redet über die Wirklichkeit, aber wenn man das eigene wirkliche Wesen nicht in sich selbst erfasst, bleibt alles Theorie und Scheinwirklichkeit, ohne echtes Leben darin.

Heutzutage benutzen wir viele Tore als Zugang zum Kosmos – Teleskope, Physik usw., – aber diese „Ausdehnungen“ unserer Sinnesorgane führen nicht in das wahre Leben hinein. Unsere Vorfahren, die vor zwei-dreitausend Jahren gelebt haben, suchten einen anderen Zugang. Sie beobachteten sich selbst und schufen eine spezielle Sprache, Sanskrit, um ihre Erfahrungen zu kommunizieren. Sie nannten die Wirklichkeit „Dharma“. Heutzutage nennen es einige „Noumenon“. Ich ziehe das Wort „Wirklichkeit“ vor, aber es bleibt dabei: Kein Begriff trifft ES.

„Wenn ihr in Übereinstimmung mit dem Dharma leben wollt, ist es nur nötig, keinen Zweispalt zu hegen.“ In der Wirklichkeit sind Mensch und Universum keine zwei getrennte Wesen. Gib jegliche Unterscheidung zwischen „Ich“ und Universum auf, dann kann sich die Wirklichkeit durch deinen eigenen Körper und dein eigenes Tun manifestieren. Solange man aber in der Relativität der Erscheinungswelt gefangen ist, gibt es Trennwände zwischen diesem und jenem und viel Spielraum für Widersprüchlichkeit und Zweifel.

Ist die Zweiheit überwunden, gibt es keinen Raum mehr dafür. In den Augen von Lin-chi ist ein Mensch, der keine Zwiespalt in sich trägt, erleuchtet. Es ist aber nicht leicht, diese geistige Haltung zu bewahren.

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„Wenn ES sich ausdehnt, ist es der ganze Kosmos.“ Einstein sagte, Raum habe ein Ende aber keine Begrenzung. Zeit hat einen Anfang und ein Ende, ist aber grenzenlos. Wäre es möglich, mit langen, langen Armen in den grenzenlosen Raum zu greifen, würde man erkennen, dass die Fingerspitzen die ganze Wirklichkeit, den ganzen Kosmos durchdringen.

„Wenn ES sich zusammenzieht, findet nicht einmal ein Haar einen Platz darauf.“ In der Kontraktion zur Mitte hin findet man kein Zentrum, nichts, worauf auch nur eine Nadelspitze stehen könnte.

„Niemand hat ES gesehen, niemand hat ES gehört.“ Dieser Satz weist auf das tiefste Wesen von Buddhas Lehre. Alle Aussagen wie „Ich habe Gott gesehen“ oder „Gott kann nicht gesehen werden“ oder „Gott hat sich mir offenbart“, mögen einer echten Erfahrung entspringen, haben aber nur Bedeutung für den, der diese Erfahrung kennt. Dieses „Niemand hat es gehört“ treibt einen Keil zwischen alle Vorstellungen von einem wahrnehmenden Subjekt.

Was immer man sagt oder denkt, das letzte Wort ist „nein“. Schliesslich muss auch noch dieses „nein“ weg. Wie kann man das tun? Der Zen-Lehrer fragt: „Was ist die letztendliche Wirklichkeit, Dharmakāya?“ Der Schüler will eine Antwort geben, aber der Lehrer schliesst ihm sofort den Mund. Dann „Ah“ – versteht er vielleicht.

„Schaut euch bloss selbst an.“ Dieses „euch selbst“ ist irreführend. Ihr könnt hundert Jahre lang meditieren über etwas in euch selbst, aber sobald ihr sagt: „Ich habe etwas in mir selbst gesehen“ ist das eine Unwahrheit.

„Gibt es etwas, das existiert?“ Wenn ihr alles wegwischt, selbst das Blau des klaren Himmels, was geschieht dann?

„Ich könnte endlos weiterreden. Jeder muss es aber für sich selbst tun. Lebt wohl!“ Lin-chis hat alles gesagt, was es zu sagen gibt; seine Rede endet hier: „Lebt wohl“.

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