Ein Tag im Zoo

Einleitung

Ein Tag im Zoo Zürich führt zu Gedanken über religiöse Sekten, den Menschenzoo, Krieg, Gewalt und Anderes. Viel Vergnügen!

Ein Tag im Zoo

Letzten Sonntag (Sommer 2007) besuchten wir den Zürcher Zoo. Es war recht lange her seit unserem letzten Besuch, und es war recht interessant, die zahlreichen „tierfreundlichen” Veränderungen zu sehen, die inzwischen vorgenommen worden waren. Einige der Tier-Wohngemeinschaften waren sozusagen „aufgerüstet“ worden.

Die Gemeinschaft der rosaroten Flamingos ist nun hinter einer Wand aus dichten Gräsern und Bambus vor dem direkten Blick geschützt. Sie waren alle da – und damit beschäftigt zu tun, was rosarote Flamingos tun. Einige standen auf einem Bein, den Kopf unter einem Flügel versteckt. Andere nahmen ein Bad, assen oder wanderten in ihrer kleinen Siedlung umher. Von Zeit zu Zeit wurden sie von anderen fliegenden Geschöpfen besucht. Mal landete eine Krähe, mal ein Spatz im Gehege, hüpfte ein wenig am Teich entlang und flog wieder weg.

Die Bewohner liessen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Keiner der Flamingos bewegte seine Flügel in Nachahmung. Keiner versuchte zu fliegen. Fliegen ist etwas, was sie nicht mehr kennen. Ihre Flügel wurden kurz nach der Geburt gestutzt. Sie wissen nicht, dass Fliegen ihre Urnatur ist. Sie bilden eine Gesellschaft flugunfähiger Geschöpfe, zufrieden, sicher, gut genährt und wohl behütet. Aber sind es rosarote Flamingos?

Ein ganz gewöhnlicher Tag

Wir folgten den dicht bewachsenen Wegen von einer Tiergemeinschaft zur anderen, dankbar für den Schatten, den die hohen Gräser boten. Zweibeinige Geschöpfe aller Grössen und Formen füllten die Wege, gehend oder watschelnd von einem Beobachtungspunkt zum anderen, unaufhörlich miteinander plappernd wie eine Herde aufgeregter Enten. Die vierbeinigen Bewohner der verschiedenen Quartiere schienen dies alles locker zu nehmen. „Ein ganz gewöhnlicher Tag” schienen ihre Augen zu sagen.

Ihre Welt war präzise definiert durch die Zäune, Betonmauern und Gräben, die ihr Stück Land umgaben. Sie wussten es und wir wussten es: Um zu überleben, mussten sie an ihrem Platz bleiben und wir an unserem. Das sind die Regeln für das Überleben, für die fortdauernde Existenz. Aber ist Leben nur eine Sache des Überlebens?

Durch die gut sichtbar angebrachten Informationstafeln wurden wir daran erinnert, dass viele der Vierbeiner auf der Liste der bedrohten Arten stehen und dass manche der hier lebenden Gemeinschaften zu den letzten Vertretern ihrer einst blühenden Gattung gehören. Mit einem Anflug von Stolz gratulierten wir uns selbst dafür, durch unsere Spenden an den Zoo einen Teil zur „Rettung ihrer Welt” beigetragen zu haben. Es war leicht zu vergessen, dass es ohne die intelligente Menschheit erst gar keine bedrohten Tierarten gäbe.

Wir gelangten zum neuen Löwenquartier. Seine Bewohner sind nicht länger darauf beschränkt, in einem engen Betongehege, allen Blicken der Vorübergehenden preisgegeben, hin und her zu wandern. Nun haben sie Raum, umher zu streifen, sich zu verstecken und Distanz zu den Zweibeiner zu wahren. Und diesen Raum mit der entsprechenden Privatsphäre beliebten sie zu nutzen. Keiner von ihnen wurde gesichtet. Ein stummes Lächeln füllte unser Herz.

Von „Gott gegebenes Recht”

Als wir von einem „zivilisierten Mann lasen, der sich stolz rühmte, in seinem Leben sage und schreibe 300 Löwen getötet zu haben, verfluchten wir schweigend unser „von Gott gegebenes“ Recht, über „die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels,… über die ganze Erde und über alle Tiere auf dem Land” zu herrschen (1. Moses 26). Im gleichen Atemzug verfluchten wir schweigend unser „von Gott gegebenes“ Recht, mit anderen zweibeinigen Geschöpfen ebenso zu verfahren, wenn es uns passt. Bin ich gewalttätig? Auf keinen Fall! Ich nicht! Mein Gott hat gesagt, es sei in Ordnung. Hat er/sie das wirklich gesagt? Wo steht geschrieben, dass das Wort „herrschen” die Worte „töten”, „morden”, „ausrotten” enthält? 

Da wir keines dieser grossartigen Geschöpfe sahen, gaben wir uns damit zufrieden, das zum Gehege gehörende Informationszentrum zu besuchen und einige der historischen Fotos zu betrachten, die das verheerende Verhalten der Menschheit gegenüber diesen Geschöpfen dokumentieren.

Als wir von einem „zivilisierten Mann lasen, der sich stolz rühmte, in seinem Leben sage und schreibe 300 Löwen getötet zu haben, verfluchten wir schweigend unser „von Gott gegebenes“ Recht, über „die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels,… über die ganze Erde und über alle Tiere auf dem Land” zu herrschen (1. Moses 26). Im gleichen Atemzug verfluchten wir schweigend unser „von Gott gegebenes“ Recht, mit anderen zweibeinigen Geschöpfen ebenso zu verfahren, wenn es uns passt. Bin ich gewalttätig? Auf keinen Fall! Ich nicht! Mein Gott hat gesagt, es sei in Ordnung. Hat er/sie das wirklich gesagt? Wo steht geschrieben, dass das Wort „herrschen” die Worte „töten”, „morden”, „ausrotten” enthält? 

Zuerst erschaffen wir uns unsere Götter und dann missachten wir unsere eigenen Kreationen. Wir sagen uns, was sie uns gesagt haben, und verhalten uns entgegengesetzt. Dann schütteln wir die Köpfe in psychischen Schmerzen darüber, dass sie, die Götter, unseren anhaltenden kollektiven Barbarismus zulassen.

Bald war es Zeit fürs Mittagessen, und die Herde von Zweibeinern wanderte oder watschelte zu den Futterplätzen, vereint in dem selben Bedürfnis eines leeren Bauches. Das Personal des Zoo-Restaurants breitete seine Köstlichkeiten aus. Die Zweibeiner sassen oder standen, allein oder in Gruppen, und viele von ihnen assen die zubereiteten Überreste von geflügelten oder vierbeinigen Geschöpfen. Andere assen die selbe Kost wie viele der geflügelten und vierbeinigen Geschöpfe: Gemüse und Getreide.

Nach dem Essen

Nach beendeter Mahlzeit ruhten manche Zweibeiner im kühlen Schatten, gähnten und kratzten sich, nicht anders als ihre vierbeinigen Brüder und Schwestern. Einige suchten ihren Weg zur und von der Toilette, nicht anders als ihre vierbeinigen Brüder und Schwestern. Einige waren damit beschäftigt, sich um ihre Jungen zu kümmern, nicht anders als ihre vierbeinigen Brüder und Schwestern. Im Grossen und Ganzen war der Unterschied zwischen den Zweibeinern, welche herrschen, und den Geflügelten und Vierbeinigen, welche beherrscht werden, immer schwerer auszumachen. Beherrschte oder Herrscher unterliegen praktisch der gleichen körperlichen Existenz. Wo liegt der Unterschied?

Nach dem Essen und nach Vollzug unserer eigenen Zweibeiner-Rituale, war es Zeit, diese Art von Zoo zu verlassen. Aber wohin geht man wirklich? Wir Zweibeiner schaffen lauter Zoos. Wir bauen Zoos in unseren Köpfen mit unseren Ideen, unseren Glaubenssystemen, unseren Philosophien, unseren Göttern. Wir bilden Zoos, in denen wir selber leben, und wir bilden Zoos, in die wir andere Menschen stecken, ähnlich wie im Zürcher Zoo. Oh, wir bezeichnen es natürlich nicht als Zoo.

Wir haben schickere Worte dafür wie Nationalismus, Patriotismus, Religion, Familie. Wir haben Zoos für Freiheitskämpfer, Terroristen, Schwarze, Weisse, Braune, Gelbe. Wir stecken Dinge und uns selbst in Schachteln, sowohl mentale als auch physische Schachteln. Da ist es komfortabel und sicher, wir sind gut gefüttert, gut gepflegt. Wir überleben. Wir existieren. Wir beherrschen unsere Welt. Wir meistern unsere armseligen, mageren Ideen von der Welt und nennen diese Meisterschaft „Leben“.

Gedankenhäuser

Wir Menschen können die Welt nicht unabhängig von den Sinnesorganen und dem eigenen Denken wahrnehmen. Die Sinnesorgane liefern nur Abbildungen von der Wirklichkeit, und die Schlüsse, die das Gehirn daraus zieht, sind Gedankenkonstruktionen ohne festen Grund und Boden. Doch man lebt in diesen Konstruktionen wie in Häusern. Wir bauen ein Haus aus der Aussenwelt und eines aus unserer Innenwelt. Dies lässt sich nicht ändern, aber wir sollten uns mit beiden gründlich bekannt machen. Es ist wichtig, dass ihr eure Gedankengebäude kennt und euch nicht darin verliert.

Das äussere Haus ist die materielle Welt. Wir wissen, dass sie nicht die Wirklichkeit ist. Der blaue Himmel, das grüne Wasser, die roten Blumen sind die Erscheinungsformen der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Wir leben in dieser merkwürdigen Welt und müssen sie so annehmen, wie sie sich uns zeigt. Wir bauen darin Unterkünfte für unseren physischen Körper, indem wir uns ihrer Bestandteile bedienen, welchen wir Namen geben wie Ziegel, Eisen, Stein.

Der physische Körper

Der physische Körper ist auch nur eine Erscheinungsform. Er wird geboren, bleibt eine Weile, wandelt sich, zerfällt und verschwindet. Dieses Körper-Haus ist zerbrechlicher als die Häuser aus Eisen und Stein. Doch es ist mein eigenes, geliebtes Haus. Ich habe nur dieses und kein anderes. Also bewacht jeder seinen Körper, welcher sein Eigentum zu sein scheint, es in Wirklichkeit jedoch nicht ist, wie einen Schatz.

Das Leben im äusseren Haus geht einher mit der ständigen Angst um seinen Verlust. Wir beklagen seine veränderliche Natur und hoffen gegen alles bessere Wissen, dass es für immer bestehen bleibt. Wir klammern uns an seine Erscheinungen, machen sie zu unserem umsorgten Besitz und weinen bitterlich, wenn sie vergehen.

So wie wir das äussere Haus genau untersuchen können, so können wir auch das innere untersuchen. Wenn man die Aufmerksamkeit nach innen richtet, kann man seine Struktur leicht erkennen. Es besteht aus Gedanken, Emotionen und mentalen Bildern, die von morgens bis abends in ständiger Bewegung sind und wie eine Prozession von Schatten am inneren Auge vorbei ziehen. Das innere Haus ist genau so unwirklich und wacklig wie das äussere. Und manche, die in kostspieligen äusseren Häusern leben, haben nur ein armseliges inneres Häuschen, gleich den Hütten einiger vergessener Indianer in einem entfernten Reservat.

Jeder Mensch hat ein inneres Haus

Jeder Mensch hat ein inneres Haus. Einige innere Häuser sind nach einem bestimmten System konstruiert. Sie tragen Namen wie Christentum, Existentialismus, griechische Philosophie usw. Wiederum andere haben sich ein kostbares inneres Haus gebaut. Sie haben vielleicht Zitate berühmter Philosophen an die Wände gehängt, um ihren Geist in Ordnung zu halten. Einige leben in modernen Häusern: Sozialismus, Kommunismus, Faschismus. Andere leben in ausländischen Häusern: Sufismus, Buddhismus, Bahaismus, Zen. So wie viele Menschen Wohnhäuser in ausländischem Stil bevorzugen, so leben sie in ausländischen Gedanken. Wenn sie diese dann etwas unbequem finden, bringen sie irgendeine kleine Veränderung an und passen sie so ihren Bedürfnissen an. Dann nennen sie es z.B. „Buddha-Christentum“ oder so ähnlich.

In Asien gibt es wunderbare innere Häuser. Da gibt es z.B. das Avatamsaka-Sutra, das Saddharmapundarika-Sutra und das Mahāvibhāsā-Sastra. Letzteres ist besonders grossartig und wunderbar. Um es von einer Ecke zur anderen zu durchschreiten, braucht man ein ganzes Leben lang. Es handelt sich bei diesen Gebäuden wirklich um Pyramiden aus menschlichen Gedanken. Sie sind so schön und würdevoll, dass man in ihnen leben kann, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Aber auch sie sind schliesslich nichts anderes als vergängliche Gebilde.

Solange wir in diesem Körper mit seinen fünf Sinnen leben

Solange wir in diesem Körper mit seinen fünf Sinnen leben, können wir die Eindrücke der äusseren Welt nicht abweisen. Ebenso müssen wir beides, Freude und Leid, annehmen. Doch ihr sollt verstehen, dass es objektiv gesehen keine bestimmte Welt gibt. Die Wirklichkeit hat keine bestimmte Form, keinen bestimmten Klang, keinen Geschmack, keinen Geruch, keinen Ort, weder Zeit noch Raum. Jeder schafft sich seine eigene, subjektive Welt auf Grund seiner Sinneswahrnehmung. Doch als buddhistischer Mönch sage ich euch eines: Haftet nicht daran! Macht euch nicht zu Gefangenen eures inneren Hauses. Bewahrt die Freiheit eures Geistes. Er lebt und schläft in diesen zwei Häusern, doch er ist unabhängig davon.

Gekürzte Wiedergabe aus dem gleichnamigen Kapitel in: Meister Sokei-an; Man sieht nur in der Stille klar

Die Anatomie von Sekten

Das Wort „Sekte“ wird neuerdings wieder mit Eifer herum geboten. Und zwar meistens von Mitgliedern einer Sekte, die in Opposition zu den Mitgliedern einer anderen Sekte stehen.

Was ist eine Sekte? Wie wird das Wort „Sekte“ definiert? In einem Wörterbuch fanden sich folgende Vorschläge:

– „Eine Gruppierung von Personen, die einem bestimmten religiösen Glauben bzw. Glaubensbekenntnis anhaften.“
oder
– „Eine Gruppierung von Personen, die in Bezug auf eine allgemein akzeptierte religiöse Tradition als ketzerisch oder abweichlerisch betrachtet wird.“
oder (in der Soziologie von Religionen)
– eine christliche Glaubensgemeinschaft, die dadurch charakterisiert ist, dass sie auf strikten Qualifikationen für die Mitgliedschaft besteht, im Gegensatz zu den mehr einschliessenden Gruppierungen, Kirchen genannt.“
oder
– „Jede Gruppe, Partei oder Fraktion, die durch eine spezifische Lehre oder durch eine die Lehre repräsentierende Führerperson vereint ist.“

Kennen Sie irgendeine so genannte Religion, die sich um Ihren Geist und Ihr Geld bemühen, die nicht in die obigen Definitionen passt? Verlangen nicht alle organisierten Religionen, dass ihre Schafe einem „bestimmten religiösen Glauben anhaften“?

Betrachten nicht alle organisierten Religionen Mitglieder anderer Religionen als Ungläubige oder Ketzer?
Haben nicht alle organisierten Religionen eine akzeptierte religiöse Tradition? Weichen nicht alle organisierten Religionen von anderen akzeptierten Traditionen ab?

Verlangen nicht alle organisierten Religionen „strikte Qualifikationen“ für die Mitgliedschaft?
Haben nicht alle organisierten Religionen eine spezifische Lehre?
Haben nicht alle organisierten Religionen eine Lehrperson als Führer?

Wenn man einer organisierten Religion angehört, werden dann nicht alle anderen Religionen zu Sekten?

Im Wesentlichen ist das Wort „Sekte“ nichtssagend. Es hängt ganz und gar vom Standpunkt ab. Es ist eine Meinung gegen eine andere Meinung. Es ist ein Wort, das seine Bedeutung im Kontext eines Glaubenssystems bekommt. Es ist das, was du glaubst, im Gegensatz zu dem, was ich glaube. Und was du glaubst beruht ebenso auf einer Meinung wie das, was ich glaube. Das einzig Faktische an Meinungen ist, dass sie nicht faktisch sind.

Alle organisierten Religionen mit ihren verstaubten Ritualen sind Sekten. Alle haben sie ihre Hirten und ihre Schafe. Es sind alles geistige Zoos, in denen es sich bequem leben lässt. Sie brauchen wenig Pflege, versprechen grosse Belohnungen zur Erntezeit; all dies zur geringfügigen Spende des eigenen Verstandes. Für viele Leute scheint dies ein kleiner Preis zu sein. Und überhaupt, gibt es etwas Besseres zu tun als einen Zoobesuch, vielleicht am Sonntagmorgen?

Nun, wenn wieder einmal jemand zu euch sagt: „Hast du gewusst, So-und-so gehört zu einer Sekte“, könntet ihr diesen Jemand vielleicht einfach fragen: „Und welchen Zoo besuchst du am Sonntagmorgen?“ Aber bitte, versucht zu fragen ohne zu lachen. Sekten sind eine ernste Angelegenheit für die Mitglieder.

Die Natur des Geistes

Die Natur des Geistes ist reines Gewahrsein. Dieses spiegelt die Sinneseindrücke ohne Interpretation. Doch wir Menschen formen die Eindrücke zu Bildern und fassen sie in Worte, die wir im Gedächtnis speichern. Diese Wort-Gebilde ersetzen die unmittelbaren Sinneseindrücke. Wir machen uns nicht nur Bilder von den Dingen der Aussenwelt, sondern setzen unsere Vernunft ein und schaffen auch noch Worte für Dinge, die aussen gar nicht existieren, wie Liebe, Glück, richtig, falsch und viele andere abstrakte Begriffe. Aber die Bilder und Worte sind nicht der Geist selbst. Es sind die Inhalte des Geistes. Nimmt man alle Inhalte heraus, sieht man den reinen Geist. Der von allen Gedanken entleerte Geist ist der ursprüngliche, reine, leere Geist. „Rein“ und „leer“ sind hier gleichbedeutend.

Die Worte „leer“ und „Leerheit“ sind trügerisch

Die Worte „leer“ und „Leerheit“ sind trügerisch. Man stellt sich darunter leicht ein abstraktes Nichts vor, ein „Nichts“ im Gegensatz zu „Etwas“. Oder man hält es für etwas Mystisches und Geheimnisvolles. In der Wirklichkeit gibt es jedoch nichts Geheimnisvolles und nichts Mystisches.

Viele, die an der Idee festhalten, „leer“ bedeute, dass nichts existiere, ziehen daraus den falschen Schluss, dass alles, was sie um sich herum sehen, eine Art Fata Morgana sei, völlig dem Zufall überlassen, ohne Ursache und Wirkung. Sie behaupten, dass es im ganzen Universum überhaupt nichts gebe, ja, dass selbst das Universum nur Einbildung sei. Diese Ansicht ist schädlich, da sie die Leere vom materialistischen Standpunkt aus interpretiert. Die Menschen, welche in der materiellen Idee von Leerheit leben, sind wie berauscht, sie meinen, sie könnten tun und lassen, was ihnen beliebt, sie bräuchten sich um keine Gesetze und Moral zu kümmern. Sie kennen die Quelle ihres eigenen Bewusstseins nicht und vergiften dadurch ihr Denken und Handeln.

Ihr müsst wissen

Ihr müsst wissen, dass der reine, leere Geist nicht euer individueller, nicht der menschliche Geist ist, sondern das Wesen des ganzen Universums. Es ist der wunderbare Geist, der niemandem gehört. Das ganze Universum ist leerer Geist. Sämtliche Phänomene – materielle Dinge sowie mentale Vorgänge – sind Manifestationen des einen, leeren Geistes. Ihr könnt diese Leerheit nicht gedanklich fassen oder herbeidenken; sie ist der immer währende, allgegenwärtige Zustand eures Wesens und kann nur auf der Basis eurer eigenen Meditationserfahrung intuitiv verstanden werden.

Einige Menschen bezahlen viel Geld für die Bahn, um zu mir zu kommen und mich zu fragen, wie sie das Rückgrat aufrecht halten und den Atem kontrollieren sollen und ob die Augen offen oder zu sein müssen. Die Körperhaltung ist natürlich wichtig, aber die geistige Meditationshaltung ist wichtiger. Danach werde ich aber nicht gefragt, die Leute wollen nur wissen, wie sie durch die Nase atmen sollen, als ob dies ein Mysterium wäre.

Solange man sich eine Vorstellung von Leerheit macht, ist der Geist nicht leer. Wenn ihr absichtlich leer werden wollt, indem ihr die Augen schliesst, alle Geistesaktivitäten anzuhalten versucht, die Lippen zusammenpresst und den Atem kontrolliert, folgt ihr bloss eurer Vorstellung.

Wenn euch bei der Meditation der Gedanke kommt, nun sei euer Geist still, handelt es sich um Scheinmeditation. Jemand, der wirklich meditiert, denkt an nichts. Sein Geist gleicht dem ruhigen Mond am leeren Himmel. Wolken, Sterne, Wind, Frühling, Sommer, Herbst und Winter kommen und gehen, aber der stille Mond am Himmel bewegt sich nicht. Nur die vom Wind getriebenen Wolken bewegen sich.

In ruhiger Meditation

In ruhiger Meditation kann man alle Aktivitäten des Geistes sehen und beobachten, von der Oberfläche bis zum Grund. Man muss es nur intensiv genug tun – ohne Ungeduld und mit Hingabe – bis der Geist kristallklar wird, und man sich nicht mehr mit den Gedanken, Bildern oder Emotionen identifiziert. Die Geistes- aktivität stört einen dann überhaupt nicht mehr. Man kann sie objektivieren, als wäre es die Aktivität eines anderen Menschen. Schliesslich hört sie ganz auf. Dann ist man im leeren Geist absorbiert.

Erlaubt eurem Geist zuerst, sich frei mit dem Gedankenfluss und den auftauchenden Traumbildern zu bewegen, richtet die Aufmerksamkeit dann allmählich mehr und mehr auf das „Zentrum” hin, bis sie sich dort fest verankert. Dieses „Zentrum” ist kein materieller Punkt, es dehnt sich endlos in alle Himmelsrichtungen und durchdringt das ganze Universum.

Versucht nicht, die Gedanken zu verscheuchen oder die Geistesaktivität anzuhalten – lasst einfach alles ziehen. Der Geist kommt nicht durch Gewalt zur Ruhe, noch dadurch, dass man seine Aktivitäten fürchtet oder flieht. Ruhe stellt sich ein, wenn man alle Aktivitäten genau beobachtet und durchschaut, ohne sich darin zu verlieren. Der wache Geist verblasst dabei nicht, aber die Geistesinhalte verblassen. Wenn ihr euch daran gewöhnt habt, eure Gedanken weder zu hassen noch zu lieben, werdet ihr überhaupt nichts mehr denken während der Meditation. Dann ist nur der reine Geist vorhanden, und der Körper besteht nur aus Knochen und Muskeln.

Wenn der vollständig zur Ruhe gekommene, gedankenleere Geist plötzlich durch die ihm innewohnende intuitive Intelligenz erhellt und kristallklar wird, erkennt man schlagartig seine Unermesslichkeit und Ichlosigkeit. Dies wird „Sicht in das eigene Urwesen” genannt.

Nein

Ich kenne einen Zen-Schüler, dem ich vor etwa dreissig Jahren zum ersten Mal begegnet bin. Sein „Guten Tag“ klang damals fade und schwach. Dreissig Jahre später begrüsste er mich laut und deutlich: „Guten Tag, wie geht es?“ Ich fragte ihn: „Hast du den leeren Geist gefunden?“ „Nein“, antwortete er, „es gibt nichts derartiges.“ Wir sahen uns in die Augen und lächelten.

Zusammengestellt aus div. Kapiteln von: Meister Sokei-an: Man sieht nur in der Stille klar

Bin ich gewalttätig?

Wenn jemand käme und einen allen Ernstes fragen würde: „Bist du eine gewalttätige Person?”, was würde man antworten? Die meisten von uns würden vermutlich sofort sagen: „Natürlich nicht.” Schon nur die Idee, dass jemand denken könnte, ich sei gewalttätig, empört mich gewaltig, nicht wahr? (Macht sie mich gewalttätig?)

Wenn jemand käme und einen fragen würde: „Bis du manchmal ungeduldig?” oder „Bist du manchmal zornig?” oder „Bist du manchmal frustriert?”, wie würde die Antwort dann lauten? Zu solchen Fragen würde man vermutlich nicht sagen: „Natürlich nicht.” Man würde vielleicht zufügen, dass Ungeduld, Frustration und Zorn zum Leben gehören. Man würde vielleicht erklären: „Wenn diese oder jene Umstände nicht wären, wäre ich nie zornig, frustriert oder ungeduldig. Wenn mein Nachbar mich nicht dauernd mit seinem Verhalten ärgern würde, wäre ich nie wütend auf ihn. Wenn meine Kinder täten, was ich ihnen sage, wäre ich nie frustriert über sie. Wenn das Tram immer pünktlich wäre, wäre ich nicht ungeduldig.”

Wenn jemand dann fragen würde: „Sind Zorn, Ungeduld und Frustration nicht alles Formen der Gewalt?”, was wäre die Antwort darauf?

Über Krieg

Frage: Wie kann man das gegenwärtige politische Chaos und die Krise in der Welt lösen? Gibt es irgendetwas, was ein Einzelmensch tun kann, um den drohenden Krieg zu stoppen?

Krishnamurti: Krieg ist die spektakuläre und blutige Projektion unseres täglichen Lebens, ist es nicht so? Krieg ist lediglich ein äusserlicher Ausdruck unseres inneren Zustands, eine Vergrösserung unseres täglichen Verhaltens. Es ist spektakulärer, blutiger, destruktiver, aber es ist das kollektive Resultat unserer individuellen Aktivitäten. Deshalb seid ihr und bin ich verantwortlich für Krieg, und was können wir tun, um ihn anzuhalten? Es ist offensichtlich, dass der ewig drohende Krieg nicht gestoppt werden kann durch dich oder mich, denn er ist bereits in Bewegung; er findet bereits statt, wenn auch vorerst nur auf der psychologischen Ebene.

Da er bereits in Bewegung ist, kann er nicht gestoppt werden – die Faktoren im Spiel sind zu zahlreich, zu gross, und viele sind bereits vollendet. Aber du und ich, die wir das Haus brennen sehen, können die Ursachen dieses Feuers verstehen; können uns davon entfernen und ein neues Haus bauen, aus anderem Material, Material, das nicht brennbar ist, das keine neue Kriege entfacht. Das ist alles, was wir tun können. Du und ich, wir können sehen, was Kriege erzeugt, und, wenn wir daran interessiert sind, Kriege zu stoppen, müssen wir anfangen, uns selbst zu wandeln, denn wir sind die Ursache von Krieg.

Vor einigen Jahren

Vor einigen Jahren, während des Weltkriegs, kam mich eine amerikanische Dame besuchen. Sie sagte, sie hätte einen Sohn in Italien verloren und möchte ihren anderen, sechzehnjährigen Sohn retten. Und so sprachen wir zusammen über diese Sache. Ich führte ihr vor Augen, dass sie, um ihren Sohn zu retten, aufhören müsste, eine Amerikanerin zu sein; sie müsste aufhören, habgierig und erfolgshungrig zu sein, aufhören, Reichtum aufzuhäufen, aufhören, Macht und Herrschaft anzustreben, und moralisch ganz einfach sein – nicht nur einfach in der Kleidung und äusserlichen Dingen, aber einfach in ihren Gedanken und Gefühlen, in ihren Beziehungen.

Sie sagte: „Das ist zu viel. Sie verlangen zu viel. Das kann ich nicht tun; die Umstände sind zu mächtig, als dass ich sie ändern könnte.“ Somit war sie mitverantwortlich für die Zerstörung ihres Sohns.

Umstände können durch uns kontrolliert werden, weil wir die Umstände geschaffen haben. Die Gesellschaft ist das Produkt von Beziehung, der deinigen wie der meinigen gemeinsam. Wenn wir uns in unseren Beziehungen ändern, ändert sich die Gesellschaft. Sich bloss auf die Gesetzgebung und auf Druck zu verlassen, um die äusserliche Gesellschaft zu verändern, dabei innerlich aber korrupt zu bleiben, nach Macht, Stellung und Vorherrschaft zu streben, bedeutet, das Äussere zu zerstören, mag es noch so sorgfältig und wissenschaftlich aufgebaut sein. Was sich innen abspielt, ist immer stärker als das Aussen.

Übersetzt aus: J. Krishnamurti: The First and Last Freedom; London 1967; S.182ff ___

Cogito cogito ergo cogito sum – Ich denke, dass ich denke, deshalb denke ich, dass ich bin.
Ambrose Bierce

Dhyāna Sommer 2007

Jiddu Krishnamurti Warum ist die Welt in Chaos (Deutsche Übersetzung)

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