Der Raum der Stille

Der Raum der Stille – AWH. Meditationswoche August 2020

«Ein Mensch, der in der Stille verwurzelt ist, ist nicht zu Fall zu bringen.»Dhammapada

Schon sind wir am letzten Tag dieses Sommerretreats angekommen. Wir kamen vor einer Woche aus der Hitze im Tal in den Regen hier oben und wieder in die Sonne. Einige von uns haben dieses Wechselbad auch innerlich erlebt.

Sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, nicht wegen jeder Kleinigkeit die Fassung zu verlieren, auch im grössten Unglück die Ruhe zu bewahren – selbst angesichts des eigenen oder eines fremden Sterbens –, das sind Tugenden, die einen reifen Menschen, der mit sich in Frieden ist, auszeichnen. Ich nehme an, wir alle stimmen mit dieser Auffassung überein und wünschen uns mehr oder weniger heimlich, so ein Mensch zu sein.

Der Moment des Todes, ist ein grosses, kräftiges Ereignis, egal ob es sanft oder abrupt geschieht. Und natürlich gibt es Trauer und Schmerz, wenn ein geliebtes Wesen stirbt und dann fehlt. Diese Wellen sind natürlich vorhanden und breiten sich aus. Ein in sich ruhender Mensch versteht, dass auch diese Trauer, auch dieser Schmerz, Wellen des Gefühles sind, die wie alle Wellen einmal zur Ruhe kommen.

Geistesstille

Wir hatten in dieser Woche viel Gelegenheit, uns der Geistesstille zu nähern, die allen frohen und traurigen Geschehnissen vorausgeht, sie «übertönt», «verschluckt», «umhüllt», «durchdringt» und deren Kraft uns durch alle Geschehnisse trägt. Alle diese Worte sind natürlich bloss Andeutungen, Umschreibungen von etwas, das man nur für sich selbst erleben kann.

Und wir haben das Wunder des Lebens, das aus der Stille kommt und in der Stille wirkt, direkt vor unseren Augen gehabt. Für mich ist es zum Beispiel der Teich im Garten, der das Lied des Lebens besonders laut singt. Und im Chor der Lebewesen im Teich ist es die Stimme der Seerosen, die obenauf schwingt.

Wir haben gesehen, wie sich ihre Blumen in der Sonne öffnen und am Abend schliessen, wie sie wachsen und welken. Wir konnten beobachten, wie neue, noch geschlossene Blüten auf langen Stängeln durch die Wasseroberfläche stiessen und wie ihre runden Blätter den Fröschen und Libellen grosszügig Sitzplatz, Unterschlupf oder Nahrung boten.

Die Seerose

Die Seerose ist wirklich eine spezielle Pflanze. Sie ist eine Schwester der Lotusblume. Es gibt sie auf allen Kontinenten und vor allem in Asien gilt die Lotuspflanze als Sinnbild für die menschliche, geistige Existenz.

Ihre Wurzeln sind tief im Schlamm verborgen, im dunkeln nassen Boden aus dem alles Leben kommt. Schlamm ist nicht tot, Erde ist nicht tot, vorausgesetzt, sie ist in ihrem natürlichen gesunden Zustand. Im Gegenteil: Alles Leben – noch nicht sichtbar, noch nicht manifest – ruht darin. Der Schlamm ist der Nährboden der Lotusblüte. Die Wurzel sendet den Spross von unten nach oben durch sämtliche Wasserschichten hindurch; mal ist es dort kühl, mal warm, je nachdem, wie die Umstände sind. Der Sprössling wächst stetig und wandelt sich zu einem kräftigen, stabilen Stängel. Dieser trägt die embryonalen Blüten und Blätter ans Licht.

Wenn die Spitze der Pflanze die Wasseroberfläche durchbricht, betritt sie ein neues Element: die Luft, der leere Raum. Unter der Regie der nährenden Wurzel und der wärmenden Sonne, entfalten sich die Blätter und werden grün. Grün ist die Farbe des Lebens. In diesen Blättern wird nun alles, was die Lotuspflanze braucht, chemisch-biologisch synthetisiert und produziert.

Auf diesem Blätterdach ragt der Spross mit der Knospe in die Luft. Schliesslich öffnet sich die Blume, als eine Frucht dieses ganzen Lebensprozesses. Ihr Weg führte aus dem Schlamm durch das Wasser mit all seinen verschiedenen Zuständen – ruhig und klar, vom säuselnden Wind bewegt oder durch Sturm und Regen getrübt. Sie lebt hier zusammen mit all den anderen Lebewesen, die in diesem Teich leben. Wie diese wächst sie, bleibt eine Weile und stirbt, wenn ihre Zeit vorbei ist.

Nichts bleibt haften

Die Blätter und Blüten der Lotuspflanze nehmen alles auf, was auf sie fällt, aber nichts bleibt an ihnen haften. Wir sagen, die Lotusblätter seien wasserabweisend. Das ist aber nicht korrekt. Die Blätter weisen nichts ab, sie vermischen sich bloss nicht mit dem, womit sie in Berührung kommen. Sie sammeln die kleinen Wassertropfen, aber sie saugen sie nicht auf.

Man kann eine Lotusblume nicht beschmutzen: Man mag sie mit blauer Farbe überschütten, roter Farbe, violetter Farbe – sie wird nicht blau, nicht rot, nicht violett. Sie schüttelt sich auch nicht wie ein Hund «Grrrr!» Nein, sie bleibt einfach sich selbst, dem klaren Himmel und der Sonne zugewandt. Die Blütenblätter öffnen und schliessen sich im Einklang mit den Luft- und Lichtverhältnissen ihrer Umgebung und nichts bleibt an ihnen haften.

Diese sensible Reaktionsfähigkeit verbunden mit der Unmöglichkeit, sie zu beschmutzen, macht die Lotuspflanze zu einem beliebten Sinnbild für den fundamentalen Geist, der alle Lebewesen beseelt. Unser vom Gehirn gesteuertes Alltagsbewusstsein wird von den Sinneseindrücken und Gefühlsregungen verzerrt und getrübt, aber der Geist, der diesen Eindrücken zu Grunde liegt, bleibt sich selbst und wird davon nicht berührt.

Der Buddha wird ja oft auf einer Lotuspflanze sitzend dargestellt oder mit einer offenen Lotusblüte auf dem Scheitel, dem höchsten der sieben Chakras, der Energiezentren, welche die Yogi kennen und durch bestimmte Praktiken zu entwicklen oder zu «öffnen» versuchen.

Aber: Bei aller Schönheit der Sinnbilder, man soll sie nicht verwechseln mit der Wirklichkeit. Es gibt keine Stufenleiter des Erwachens, wir haben keine innere Lotuspflanze, die von unten nach oben drängt, keine unsichtbare Lotusblüte auf dem Kopf. Symbole sind im besten Fall Fingerzeige oder Brücken zum Verstehen der eigenen Natur. Und als solche werden sie von mir auch benutzt.

Geburt aus dem Wasser

Wir alle sind aus dem Wasser geboren. Jeder Mensch entsteht im Fruchtwasser einer Gebärmutter, einem dunkeln, unbewussten Zustand. Wir wissen nichts von unserer eigenen Schöpfungsgeschichte, aber die Natur hat uns ernährt, die Natur hat uns geformt zu dem, was aus einem menschlichen Samen und einem menschlichen Ei werden soll: ein Mensch.

Niemand anders hat uns gemacht, weder Vater noch Mutter, sondern allein die Elemente der immerwährenden Natur!

Der menschliche Embryo fängt an, sich im Wasser zu bewegen. Er nimmt ab und zu den Finger in den Mund. Er empfängt Sinneseindrücke von aussen und vermutlich auch aus seinem embryonalen «Gedächtnis». All diese sinnlichen Eindrücke werden ohne sein Dazutun und sein Wissen zur Basis seines Bewusstseins.

Die Natur der Mutter und des Kindes wirken synchron und wenn alles gut geht, wenn es keine massive Störung gibt, dann kommt der Moment, in dem das Kind aus dem dunkeln Wasser in die Luft und ans Licht gestossen wird. Und von jetzt an ist es ein eigenständiges Lebewesen, nicht mehr gebunden an den Bauch der Mutter, sondern verwurzelt im Sumpf des allgemeinen kollektiven Bewusstseins der Menschheit.

Fundamentales Bewusstsein

Es mag seltsam erscheinen, dass ich das Bewusstsein einen Sumpf nenne. Doch der Vergleich scheint mir durchaus legitim. Denn so, wie ein Sumpf voller Lebensenergie ist und unendlich viele Samen enthält, so enthält das fundamentale Bewusstsein, das unsere Geburt bewirkt hat und das uns allen gemeinsam ist, alle Samen des Lebens – jede Pflanze, jede Alge, jedes Lebewesen, das einmal entstanden ist, erzeugt durch sein lebendiges Dasein materielle und geistige Samen, die in den kollektiven Lebenssumpf fallen und irgendwann wieder spriessen.

Im Buddhismus heisst das fundamentale, unpersönliche Bewusstsein Alaya-Bewusstsein. Es wird definiert als das Speicherbewusstsein, in dem die Erfahrungen aller Lebewesens als «Bewusstseinssamen» gesammelt sind. Diese Samen enthalten unbewusste Tendenzen und potentiellen Willensäusserungen. Das sind die Grundlage für die Entstehung neuer Lebensimpulse und Lebensformen.

Alle gegenwärtigen und zukünftigen Existenzen basieren auf diesem fundamentalen Bewusstsein.

Das, was nicht gewusst werden kann

Woher die allererste Lotusblume kam, wissen wir nicht. Auch die Frage, woher die universale Lebenskraft ursprünglich stammt, kann von unserem Verstand nicht beantwortet werden und ist deshalb müssig. Der Buddha und alle, die zum wahren Leben erwacht sind, warnten unermüdlich: «Lasst davon ab, über eine hypothetische Schöpferkraft zu spekulieren. Fabriziert keine Geschichten von Göttern oder ausserirdischen Wesen! Gebt niemandem die Schuld oder den Kredit für den ersten Samen, sondern schaut auf das, was JETZT(!) IST (!). Das Leben ist immer jetzt, die Realität ist jetzt – alles andere nützt uns nichts.

Jedes Stück Erde ist ein Produkt von vielen Recyclingprozessen. Nichts, was im Universum existiert, kann aus dem Universum verschwinden. Alles war schon immer da und es kann nichts wirklich Neues entstehen. Die Elemente, die Atome können sich unendlich vielfältig kombinieren und jede neuen Kombination hat ihre spezifischen Auswirkungen. Es gibt unzählbar viele Formen, unsichtbar kleine oder unsichtbar grosse Lebewesen. Sie alle wandeln und reproduzieren sich ständig. Das ist auch mit dem Bewusstseinselementen so.

Das menschliche Denken ist in der Lage, die Reichweite seiner begrenzten Sinne durch diverse technische Apparate zu erweitern. Doch egal, ob diese in die tiefsten Tiefen der Meere oder in die höchsten Höhen des Himmels vordringen, die treibende Kraft des Lebens kann nicht gefunden werden. Unser denkendes Bewusstsein kann nicht in die Sphäre des Lebens vordringen, kann dieses Geheimnis nicht lüften. Hier «endet unsere Latein».

Dieses Ende, dieser Abgrund, diese Abwesenheit von allem Wissen – nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu riechen, nichts zu schmecken, nichts zu fühlen, nichts zu denken – selber zu erfahren, ist das einzig Neue, das wir Menschen erleben können. Alles andere, alle unsere Erfahrungen und Wissensinhalte sind Wiederholungen, wieder verwertetes Material unserer Vorfahren. Sie mögen in neuen Farben und aus anderen Perspektiven zusammengesetzt sein — aber sie sind nicht neu, nicht rein, nicht unbefleckt.

Die «gelernte» Welt

Wir können dies selber nachprüfen. Wir werden ohne intellektuelles oder bewusstes Wissen und ohne Worte in die Menschenwelt geboren. Es ist eine Welt ohne Unterscheidung, ohne Bewusstsein. Nach und nach lernen wir die Gegenstände unserer Umgebung mit Hilfe von Worten kennen – Bilderbücher geben uns die Namen für bestimmte Formen; Märchen und Erzählungen geben uns mentale Vorstellungen über die Struktur und Inhalte unserer sozialen Gemeinschaft; die Erziehung gibt uns einen moralischen Massstab für das Richtig und Falsch unserer Taten. Aus der leeren offenen Weite, in die wir hineingeboren sind, wird eine strukturierte, enge Daseinswelt.

Nehmen wir als ein Beispiel einen Hund: Ein kleines Kind begegnet zum ersten Mal einem Wesen. Es «weiss» nicht, was das ist. Woher sollte es das wissen? Also muss man ihm sagen, was es ist. Und erklärt: «Das ist ein Hund.» Vielleicht hat man ihm vorher schon in einem Bilderbuch ein Bild gezeigt und gesagt: «Das ist ein Hund. Und der Hund macht ‹Wau›.» Vielleicht lernt das Kind also lange, bevor es einen lebendigen Hund sieht oder bellen hört, dass es ein Tier gibt, das «wau» macht, Hund heisst und ein Wauwau ist! Bild und Klang verbinden sich!

Sollte das Kind dann einer Katze begegnen und mit dem Finger auf sie zeigend «Wauwau» sagen, wird es belehrt, dass dieses Wesen kein Hund ist, sondern eine Katze ist und nicht «wauwau» macht, sondern «miau».

Hand aufs Herz: Hat irgend jemand von euch als kleines Kind die Behauptungen der Eltern und Lehrer jemals hinterfragt? Natürlich nicht! Wir glaubten, was uns gesagt wurde, und halten an diesem Glauben fest. Kommt man nun in ein Land, in dem der Hund angeblich nicht «wauwau» sagt, sondern vielleicht «wuffwuff», dann ist es kein «richtiger» Hund für uns.

Ein fataler Fehler

Diese Form-Klang-Bilder gestalten unsere Realität. Sie sind die Elemente unserer Kommunikation. Wir schicken sie wie Transportkabinen einer Seilbahn hin und her – von mir zu dir und von dir zu mir – und geben ihren Inhalten unsere eigene Bedeutung im Glauben, diese Bedeutung sei für alle gleich und wahr!

Dieses Austauschen von mentalen Vorstellungen ist total gewohnt und unbewusst.

Am Anfang haben Kinder meist eine gewisse Resistenz gegen diese Vereinnahmung des wortgewandten Kollektivs. Ihr Erleben wird noch von der form- und klanglosen Wurzel genährt.

Die Klangbilder können spielerisch benutzt und verändert werden. Noch gibt es Raum für die Phantasie und Irrationalität ihres freien Geistes und, was besonders wichtig ist, für ihre Neugier und natürliche Intelligenz. Ihre eigene Welt ist realer als die «Realität» der Erwachsener. Am Anfang wird dies vielleicht bewundert oder belächelt, später aber nicht mehr ernst genommen. Es kommt zu mehr und mehr Konflikten zwischen der «wahren» Wirklichkeit der Anderen und der «falschen» Wirklichkeit der eigenen, ursprünglichen, wortlosen Gefühlserfahrungen. Die Widersprüche zwischen den «Realitäten» werden immer stärker und die Psyche des Kindes beugt sich schliesslich dem Druck der Konformität. Man will und muss dazugehören.

Die Anforderungen werden grösser und grösser, man muss anfangen, sich im Teich zu behaupten, seinen Platz darin finden; muss genügen, kooperieren, konform sein. Indem man weiter und weiter vom eigenen Urgrund abweicht, übernimmt man mehr und mehr Fremdes. Man schaut: «Wie machen es die anderen?» – und macht es wie die anderen. Man nennt das «lernen» oder «erwachsen werden». Schlussendlich hat man sich die eigene Fallgrube gegrabent mit dem Irrglauben: «Was alle machen, muss wahr sein.» Und das ist der fatale Fehler! Dieser fatale Fehler vergiftet das ganze zwischenmenschliche Leben ein für alle mal und unwiderruflich. – Es sei denn, man verliert den Kontakt zur Wurzel nie ganz!

Der Ausweg

Die Wurzel ist die Rettung! Sie gibt der Pflanze die Kraft, durch das trübe Wasser hindurch an Licht zu wachsen, ohne davon beschmutzt zu werden.

Manche Pflanzen verlieren in einem Sturm ihre Verankerung und verwelken. Andere können den Angriffen von Schädlingen nicht standhalten. Wenn in unseren Gärten frühzeitig alle Blumen welken oder das Gemüse aus irgend einem Grund kaputt geht, dann halten wir dies für furchtbar schlimm. Aus der Sicht der Natur ist aber nichts kaputt, es kehrt bloss zum Ursprung zurück.

Auch im Winter gibt es im Teich keine Blüten und Blätter. Die Samen ruhen. Doch die unsterbliche Natur formiert sich immer wieder neu. Für sie gibt es kein Verlust. Auch unser wahres Wesen, unsere wahre Natur kennt keinen Verlust, nichts ist verdorben, nichts ist umsonst. Jeder Tag, jeder Augenblick ist ein Moment des lebendigen Wachstums. Jeder Same bringt das hervor, was in ihm angelegt ist. Es ist die Bestimmung der Lotusblume, aus dem Wasser aufzutauchen und sich dem Sonnenlicht zu öffnen.

Wir Menschen bringen unsere Bewusstseinssamen also in diese von vornherein konfliktuelle Welt. Das ist unsere Welt, wir haben keine andere. Das ist die erste der vier Wahrheiten, die der Buddha in der Stille der Meditation deutlich gesehen hat – allerdings nicht mit den zwei körperlichen Augen –, und die er später in Worte gefasst hat.

Echte Meditation, das heisst Meditation, die ohne Worte ist, wird unter anderem definiert als «das Schauen des eigenen Urwesen» oder «Sicht in das eigene Bewusstsein» Die Worte kommen immer erst später; sie sind ein Klang-Bild des Gesehenen, nie die Wirklichkeit selbst. Um die Bindung an die Worthüllen zu überwinden, und das, was sie verhüllen zu erfassen, sagen die Zen-Meister: «Höre mit den Augen, sehe mit den Ohren!»

Der Klang der Welt

Jeder hat sein eigenes Bewusstsein, kann also nur sich selbst kennenlernen. Zum Glück. Denn, wenn dem nicht so wäre, dann würden ja die Gedanken aller von allen gehört werden. Was für ein Lärm wäre das, wenn jeder das Geschrei im Bewusstsein der anderen hören würde. (Alle lachen.)

Doch genau das versuchen wir «modernen» Menschen in unserer wahnwitzigen Unwissenheit, um nicht zu sagen Dummheit, zu bewerkstelligen, indem wir jeden auftauchenden Gedanken, jeden Blödsinn, jeden trivialen Impuls, mittels unsere «digitalen Vernetzung» unverzüglich in den Äther hinausposaunen. Wehe man bekommt nicht sofort ein Echo; wehe es gibt keine Verbindung; wehe man nimmt mir mein Mobiltelefon weg! Man will und kann die Stille nicht aushalten.

Im Buddhismus sagt man, dass der Bodhisattva Avalokiteshvara tatsächlich alle Stimmen im Universum hört. Avalokiteshvara, auch bekannt als Kanzeon, Kannon, Chenresi, ist charakterisiert durch sein allumfassendes Mitgefühl mit allen Lebewesen. Weder weiblich noch männlich ist Avalokiteshvara eine Verkörperung des Alaya-Bewusstseins, des Bewusstsein, in dem sämtliche Bewusstseins-Samen der Menschheit gespeichert sind. Ebenso hört und sieht der erwachte, Buddha alles, was sich in der Welt abspielt.

Avalokiteshvara und Buddha sind beides Symbole für das passiven Gewahrseins, das von jeglichen Geschehnissen unberührt bleibt, so wie die Blätter des Lotus. Sie lassen sich durch die Geschehnisse nicht aus der Ruhe bringen. Aber ihr mitfühlendes Herz – das fundamentale Einssein aller Schöpfung – strahlt in alle Richtungen. Und wer in der Stille des absolut unbewegten Gewahrseins sitzt, fühlt die Schwingung dieses Herzens als allumfassende Freude oder Liebe ins sich selbst. Diese Liebe hat nichts mit der menschlichen, parteiischen «Liebe» und Sentimentalität zu tun, sie ist jenseits von persönlichem Glück und Unglück. Deshalb ist Avalokiteshvara das Bewusstsein, das nicht nur alle Hilferufe hört, sondern auch beantwortet, in dem er jedem Rufenden zu Hilfe eilt.

Verschmähte Medizin

Der Buddha wird oft als der universale Arzt dargestellt, der als einziger den Weg aus dem Leiden weisen kann. Er kennt die richtige Medizin für alle. Auch für dich und mich.

Der Name dieser Medizin heisst Meditation. Ihre Ingredienzen sind Stille, Selbstvergessenheit, passives Gewahrsein. Die heilende Wirkung besteht im Aufhören sämtlicher gedanklichen Bewegungen, was gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden des empirischen Ichs.

An dieses Ende von uns selbst müssen wir kommen. Zu diesem Urzustand muss unser Geist zurückkehren. Ansonsten ist das, was wir Meditation nennen, nichts wert.

Wenn wir nur sitzen und unseren schweifenden Gedanken folgen, werden wir vom Getöse und Getue der Welt an der Nase herumgeführt, rennen wie Hunde in diese und jene Richtung, immer auf der Suche nach dem perfekten Baum, um unsere eigene Markierung zu platzieren; unsere eigene Spur zu etablieren. Das bin ich! Ich war hier und das ist meine Hinterlassenschaft!

Doch die Geschichte der Menschheit zeigt, dass man lieber in einer schlechten, das heisst in einer krankmachenden Situation verharrt, als dass man die Energie für einen Aufbruch aufbringt und dem Weg bis ans Ende zu folgt. Kinder bleiben oft lieber bei ihren Eltern, selbst wenn sie misshandelt werden und zu wenig zu essen haben, als in eine andere Situation versetzt zu werden. Denn man hat Angst vor dem, was man nicht kennt.

Da wir nur unsere Erinnerungen kennen und lieben, die Träger des von aussen Gelernten und Aufgesaugten, bleiben wir selbst während eines Retreats meist innerhalb des eigenen Bewusstseins stecken, schmoren in der eigenen Suppe. Wir haften an unseren Lieblingsgedanken, dem Lieblingsglauben, den Lieblingsillusionen und schützen uns vor der alles beendenden Entlarvung derselben. Wir picken uns nur das heraus, was uns bequem ist und verbleiben darin so lange es geht — wenn möglich bis ans Ende der Woche … nein, bis ans Ende des Lebens.

Lieber krank als still?

All das Getue von uns, dieses Suchen nach Ablenkung, dieses Suchen nach emotionalen Kicks — man springt von einer hohen Mauer, schwelgt in Heavy Metal oder in Beethoven, kocht die ausgefallensten Mahlzeiten, reist in die entferntesten Ecken der Welt – all dies zeugt von unserem Überdruss des Gewohnten und gleichzeitig dem verzweifelten Versuch, das Gewohnte immer wieder zu beleben – noch mal, noch mal, noch mal, – in der Hoffnung, dass es einmal wieder so schön wird, wie es das erste Mal war. – All dies tragen wir auch in die sogenannten Meditation. Mit demselben Resultat: Die Kicks verblassen, jede Party ist einmal fertig, man steigt aus dem Flugzeug oder dem Retreat und denkt: Was nun?

Man hat für die Reise bezahlt. Man hat vielleicht monatelang geschuftet, um einen Früchtehändler oder eine holzschleppenden Frau in einem fernen Kontinenten zu bestaunen — oder einem Guru oder Meister in einem exotischen Tempel zu lauschen, und dann?

Ist das nicht absurd! Und sehr anstrengend? (Alle lachen)!

Ja, es ist zum Lachen. Aber der Buddha in uns lacht nicht, er sitzt, schaut sich das an und lächelt. Er braucht nichts zu tun, sucht keine Ablenkung. Er ist mit all dem fertig! Schluss! Seine Lotusblüte ist offen, seine Bestimmung ist erfüllt. Er ist glücklich.

Auch unsere geistige Blume will sich öffnen. Sie will nicht im stickigen Wasser stecken bleiben, sie will ans Licht! Das ist ihre Natur. Sie kennt den Weg instinktiv, aber unser denkendes Ich mit seinen Gewohnheiten steht im Weg. Unser Verlangen, unsere Gier nach Erleben, nach Sein, nach noch mehr, noch mehr, noch mehr! Und unser unnachgiebiges Festhalten an Vorstellungen, Erwartungen und dem Verlangen nach Belohnung graben der Blume das Wasser ab und nehmen ihr die Luft.

Sein versus werden

Die drei weiteren Wahrheiten, die der Buddha formuliert hat, besagen: Wir schaffen unsere leidvollen Konflikte durch unsere Gier, unser Wollen, unser Ich selbst, und der einzige Weg aus diesem ewigen Leiden ist es, das leidbringende Verhalten aufzugeben. Ein für alle Mal!

Wir wollen immer etwas werden: ein weiser Mensch, ein guter Mensch, ein geliebter Mensch, ein kompetenter Mensch, ein feinfühliger Mensch, ein hilfreicher Mensch, ein heiliger Mensch … Eine gute Mutter, ein guter Vater, ein guter Lehrer …

Aber wissen wir, was es braucht dazu? Wissen wir, dass dies alles von selbst geschieht, wenn wir unserer Blume nicht am Wachsen hindern? Wenn wir nicht voller Ungeduld darauf warten, bis wir endlich «perfekt» sind, und «es können»?

Wir sagen hier, währende des Retreats, jeden Tag mindestens einmal die Worte : «Wenn wir selbstlos sind, findet alles seinen Weg.» Aber wissen wir, was das heisst, und wenn ja, wollen wir das? Selbstlos heisst: ohne Selbstwille, ohne sich einzumischen, ohne Besserwisserei …

Das Schöne bei Margrit, von der ich euch am Anfang der Woche erzählt habe, war: Sie wollte nichts und so war sie alles. Sie hatte sich nie vorgenommen, eine gute Ehefrau zu sein, aber sie lebte eine unendlich liebevolle Ehe mit ihrem Mann. Sie wollte nie eine gute Mutter sein – sie hat gar nicht gewusst, was das ist. Sie hatte selber keine «gute» Mutter. Ich denke, weil sie keine Vorstellung, keinen Anspruch an sich selber hatte, sondern einfach tat, was ihr richtig schien, war sie eine gute Ehefrau und gute Mutter. Ebenso war ihr Sohn ein «guter» Sohn, auch wenn er einen Lebensstil führte, mit dem seine Mutter wenig anfangen konnte. Er war immer für sie da!

Frieden

Die Nachbarn mögen gedacht haben: „Welch Schande! Diese Frau, die so ordentlich und gepflegt ist, hat einen Sohn, der noch mit sechzig Jahren mit langen Haaren und in einer Hippie-Kluft herumläuft und Techno-Musik hört.» (Margrit bevorzugte Schweizer Volksmusik.)

Ich habe aber nie gehört, dass Margrit irgendwas sagte wie: «Mein Sohn läuft herum wie ein Vagabund. Ich schäme mich!» Sie sagte auch nie: «Ich war wohl eine schlechte Mutter, dass der noch immer so herumläuft!» Nein! Das einzige, was sie einmal lachend geäussert hat, war: «Mein Sohn hat gesagt, an sein Haar lasse er niemanden ran!» Spürt ihr, was es heissen kann, nichts zu wollen, nichts zu sein, den Tatsachen in die Augen zu schauen, sie zu akzeptieren, statt verändern zu wollen (was ein unmögliches Unternehmen ist) und den eigenen Weg zu gehen und andere in Ruhe zu lassen?

Die natürlichen Lebewesen sind, was sie sind; und deswegen sind sie in Frieden mit sich selbst und finden ihren Weg. Sie bilden Samen und geben sie ab. Die Samen führen das selbstlose Leben weiter. Sie dienen anderen und werden von anderen bedient.

Auch die Lotusblume sagt nicht: «Oh Goldfisch, du glänzt so schön; ich will auch ein Goldfisch werden.» Oder: «Es ist gemein, der Frosch kann sich frei bewegen und ich muss immer am gleichen Ort sein.» Wenn sie das denken würde, würde sie ihren Weg verlieren.

Wenn man etwas anderes will, als was ist, bringt man die ganze Welt durcheinander. Rüttelt man an einem Faden eines Spinnennetzes oder erzeugt eine Welle irgendwo an einem Teich, verliert das ganze System seine Ruhe.

Wir Menschen haben das natürliche System unseres Lebensbereiches längst aus den Fugen gebracht. Nun wollen wir das Ganze flicken: Wir schrauben hier und schrauben dort und stellen uns vor, irgendwann hätten wir zum Beispiel wieder das «richtige» Klima.

Zeitlose Wahrheit

Wessen Klima wäre das richtige Klima? Wer kennt und hat das richtige Klima? Die Schweizer oder die Kenianer? Welches Klima wollen wir eigentlich?

Wir wollen den (Klima-)Wandel, wir wollen eine «bessere», «gerechtere» Welt. Aber nur solange dies – wie heisst das schöne Wort? – wirtschaftskonform ist. Wir wollen «Erleuchtung», unsere Buddhanatur verwirklichen usw., aber nur solange wir uns selbst – unseren Glauben, unsere Überzeugungen, unsere Beziehungen – nicht aufgeben müssen. Mit anderen Worte: Solange wir weitermachen können, wie wir wollen. Solange wir unseren Lebensstil nicht aufgeben müssen.

So ist es und so war schon für unsere Eltern, unsere Grosseltern; so war es schon zur Zeit des letzten verkörperten Buddhas. Es war schon so vor diesem Buddha, denn sonst hätte er das, was er gelehrt hat, gar nicht lehren müssen. Das ist die menschliche Welt; das ist der Teich, in dem der Lotus heranwächst.

Aber die universale Lebenskraft hat nichts damit zu tun. Sie schafft unermüdlich Formen und Seinszustände, verwandelt sie und beginnt von neuem. Ohne Ende. nichts geht verloren, nichts ist umsonst.

Kehre zurück zur Quelle deiner Lebenskraft. Lass die Vergangenheit, alles, was du weisst und glaubst, zurück und verbinde dich mit dem Ursprung vor Vater und Mutter, mit dem, was vor deiner Geburt und unabhängig von deiner Geburt schon immer ist. Du kann es aber nicht aussen finden, sondern nur in der unbeweglichen Stille jenseits der geformten Gedankenwelt. Dort, in der gedankenfreien Meditation, wo dein Körper, dein Ich, deine Vergangenheit und Zukunft vergessen sind, ja nicht einmal existieren, dort findest du die Wurzel, die dein gegenwärtiges Leben nährt und unterstützt. Ganz egal, was im Aussen geschieht, diese fundamentale Quelle wird nicht berührt davon.

Dies ist der Klang der Wahrheit, die der Botschaft von allen Buddhas und Weisen dieser Welt.

Raum der Stille

Die Rückkehr von einem intensiven Retreat ist immer eine schwierige Angelegenheit. Man kommt nach Hause und die Mitmenschen, die uns erwarten, haben keine Ahnung, was wir hier gemacht haben. Sie können es gar nicht wissen.

Und wir wissen nicht, in was für eine Welt wir jetzt dann hinauskommen. Diese Aussenwelt hat für uns in den letzten Tagen nicht existiert.

Die Rückkehr kann deshalb manchmal wie ein Schock sein; man fühlt sich wie fremd, verloren und wird vielleicht traurig. Seid nachsichtig mit euch selbst und seid nachsichtig mit den Leuten, die ihr jetzt dann wieder antrefft. Bleibt wach und verletzlich, und ihr werdet sehen, dass das Innerste, der Sitz der Stille, nichts verletzt, nicht zerstört werden kann.

Schafft euch in eurer Mind, in eurem Herzen oder wie man es auch nennen mag, schafft euch einen Ort, der nur euch gehört, einen Meditationssitz, zu dem ihr jederzeit zurückkehren könnt.

Es ist der Raum der Stille, der grossen Stille, in der die Lotusblüte wächst. Jeder ist verantwortlich für seine eigene Lotuspflanze. Sie ist ein Geschenk unserer Vorfahren. Diese haben uns ja schliesslich in diese Welt gesetzt; sie haben ihre Samen und damit ihr eigenes Leben gespendet. Dieses Erbe des fortdauernden Lebens ist jetzt bei uns. Tragen wir Sorge dazu und verschleudern wir es nicht! Auf dass wir es möglichst gesund und intakt weitergeben können.

Deshalb: Haltet den Raum der Stille sauber, lasst keinen mentalen Müll herumliegen.

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