Verwirrung

Verwirrung – Die Feiertage sind vorbei, das neue Jahr ist schon fast eine Woche alt und bald werden die letzten Lichtketten und geschmückten Bäume aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Dann ist wieder alles «normal», wieder beim Alten, wie man so schön sagt. Was ist dann mit all den guten Wünschen, die uns zum Jahreswechsel von vielen Seiten zugeschickt oder mündlich überbracht wurden oder die man selber verschickt und ausgesprochen hat? — Schall und Rauch? Aus den Augen aus dem Sinn?

Kollektive Misere

Wie soll man, wie kann man so viel gewünschtes Glück, Gelassenheit, Frieden, Humor und Gesundheit verwirklichen in einer Welt, die von so vielen Kriegen, Naturkatastrophen, Gewalt, leidvollen Geschehnissen und Sterbeprozessen durchdrungen ist? Dies nicht nur in fernen Ländern, sondern auch im eigenen Land, vor der Haustüre, ja, oftmals auch in den eigenen vier Wänden.

Hat man sich die diversen Jahresrückblicke und Jahresvorschauen angeschaut oder angehört, war viel zu hören, über die sogenannten Turbulenzen in der Welt, den unzähligen globalen und nationalen Problemen, die uns ins Gesicht starren. Es war die Rede von einem schlechten Jahr und der Hoffnung auf ein besseres. Selbst in der Weihnachtszeit lag viel Angst, Resignation und Frustration in der Luft. Wie immer wurde versucht, diese mit der Lust am Kaufen, mit gutem Kochen und Essen und der Zuflucht zu den neuesten virtuellen Fluchtinseln zu kaschieren.

Kann privates Glück über die kollektive Misere hinweg trösten? Und umgekehrt: Kann die medial angefeuerte, globale Verwurrung das private Glück stören? Soll man — muss man — kann man die öffentliche und die private Welt radikal voneinander trennen?

Eines ist sicher: Wir leben alle auf dieser Erde, im gleichen mit Luft gefüllten Raum. Wir können nicht aussteigen oder abspringen. Es gibt keinen Notausgang.

Was ist also zu tun, wenn man nicht von der miesen Stimmung, der kollektiven Zukunftsangst oder Schwarzmalerei angesteckt werden oder darin stecken bleiben will? Soll man sich in die kleine private Welt zurückziehen, keine Nachrichten hören und sich nicht um die Mitlebewesen kümmern? Aber wie sollte dies möglich sein? Krankheit, Tod, Beziehungsprobleme und andere unschönen Geschehnisse finden ja auch im engsten Familien- und Freundeskreis statt.

Das Wünschen von Glück, Gelassenheit und Frieden genügt leider nicht. Mit dem Wollen, und mag es noch so stark und ehrlich gemeint sein, ist es nicht getan.

Es braucht etwas anderes. Aber was?

Ist alles nur ein Traum?

Ihr könnt euch vermutlich alle erinnern an Träume, aus denen ihr aufgewacht seid und unendlich froh wart, dass es «nur» ein Traum war. Ihr kennt das wunderbare Gefühl der Erleichterung, wenn man sich wieder «in der Realität» befindet, auch wenn einem der Schrecken des Geträumten noch lange in den Knochen liegt. Im Moment des Traums schien alles so völlig real, das Herz klopfte tatsächlich, der Schweiss und das Nervenflattern konnte man noch beim Aufwachen spüren. Der ganze Körper war am Geschehen beteiligt… und doch war es «nur» ein Traum. Gibt es etwas Schöneres, als diese Erleichterung: «Es war nur ein Traum?»

Hellhörige unter euch werden jetzt wohl denken: «Warum sagt sie das? Will sie uns etwas weismachen, alles, was uns plagt und quält, all diese Turbulenzen seien bloss ein Traum?» Denkt man vielleicht, man sollte sich einreden, das, was man erlebt, existiere in Wirklichkeit nicht?

Nein, das ist nicht der springende Punkt. Es geht hier nicht um das Verleugnen der weltlichen Realitäten, nicht um billigen Trost. Aber das Erwachen aus einem Schlaftraum kann uns etwas lehren. Nämlich: Das, was so absolut wirklich ist, was man mit Körper und Seele erlebt, kann sich von einem Schlag auf den anderen als völlig absurd und unwirklich erweisen.

Ein Schlaftraum ist ein Schattenspiel im eigenen Geist. Niemand anders träumt den Traum, niemand wirf uns einen Traum an oder flüstert ihn uns ein. Träume sind Gebilde des eigenen Geistes. Es sind keine wahrhaftige Geschehnisse, ihre Wirklichkeit ist falsch. Wenn man mitten drinsteckt, weiss man das nicht, aber sobald man erwacht und den Verstand wieder gebrauchen kann, erkennt man ihre Pseudowirklichkeit.

Selbsthypnose

Wenn unser Geist im Schlaf solche Dramen schaffen kann, was ist dann mit den Erlebnissen des Tages? Ist das, was ich als normal erlebe, die Welt, in die ich nach dem Schlaftraum hinein erwache, dann wirklich wahr? Oder auch nur ein Schattenspiel?

Ich habe diese Woche einige interessante Beobachtung machen können in Sachen Turbulenz.

Am 31. Dez. mussten wir unseren Kater Sherpa morgens früh um 5.00 in die Tierklinik bringen, weil es seit Stunden völlig apathisch und kaum ansprechbar war. Wegen der Festtage herrschte dort nur ein reduzierter Notfalldienst. Nach diversen über den ganzen Tag verteilten Untersuchungen erfuhren wir gegen Abend, dass Sherpa eine hochgradige, lebensbedrohende Darmentzündung habe und eine Öffnung des Bauchraumes nötig sei, um das Ausmass und eine eventuelle Ursache festzustellen.

Dies alles war so niederschmetternd für mich, dass ich es fast nicht aushielt. Die Gedanken und Gefühle wirbelten durcheinander: Jetzt sind uns schon zwei der vier Katzenbrüder abhanden gekommen, und schon ist wieder einer dem Tode nahe. Was ist los? Haben wir etwas falsch gemacht; wurde er vergiftet; haben die vier Katzen vielleicht eine Erbanlage, die ihnen kein langes Leben ermöglicht, und und und….? Alles Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Reine Spekulationen, wieder und wieder die gleichen Gedankenschlaufen …

Besinnung auf das, was ist

Einen Moment lang dachten ich daran, das Silvestersitzen abzusagen, es war mir so gar nicht ums Feiern zu Mute. Doch in dem Moment, wo ich diesen Gedanken in die Tat umzusetzen erwog, merkte ich plötzlich: «Stopp! Was machst du da? Ist das eine kluge Tat? Mehrere Personen bereiten sich auf diesen Abend vor. Sie freuen sich darauf, in Stille das Jahr zu beenden und danach bei einem gemeinsamen Frühstück das neue zu begrüssen. Soll mein persönlicher Schmerz diesen fliessenden Fluss aufhalten oder umleiten dürfen? Würde die Absage irgend etwas ändern?

Geht es nicht gerade jetzt darum, mit diesem Schmerz in Stille zu sitzen, anstatt damit zu hadern und auf die anderen Mitlebewesen zu übertragen?» Auf diese Weise erwachte ich aus meinem Alptraum und kam in den Raum der Gegenwart zurück, der viel grösser ist als mein mit Trauer, Wut und Spekulationen gefülltes Gemüt. Bildlich gesprochen tauchte mein Kopf wieder aus den turbulenten Wellen auf und ich hielt mich, wenn auch etwas angestrengt paddelnd, wieder über Wasser.

Die Macht der Gedanken

In den nächsten Tagen geschah es noch öfters, dass der Sog der Trauer, Wut und des Unverständnisses wegen Sherpas Krankheit mich in eine tiefes Loch zu ziehen drohte, bis ich an einem Morgen im Bett aus dem Schlaf erwachend vollkommen deutlich sehen bzw. spüren konnte, wie mein Geist sofort, noch bevor ich wirklich wach war, zum Gedanken an Sherpa wurde.

Die ganze Energie, mein ganzes Sein, konzentrierte sich in diesem einen Gedanken und die mir inzwischen bekannte Verwirrung von Gefühlen, von Schmerz und Sorge war im Begriff, mich in zu verschlingen. Es war klar und deutlich spürbar, wie sich in einem eigentlich ausgeruhtem, ruhigen Gemüt, in einem an und für sich grossen, leeren Raum, eine Energie zu einer Tsunami zusammenballte und im Gedanken «Sherpa» konzentrierte, so als wollte der ganze Ozean in einer winzig kleinen Wirbel versinken, was natürlich einen enormen Stau der Energie verursacht.

Es war die zum Fassen klare Erkenntnis: Das ist jetzt das, was der Buddha meint, wenn er sagt «Wir werden, was wir denken».

Es war zum Greifen nah: Das ist die alles zerfressende Selbstzentriertheit, mit der wir Menschen normalerweise durchs Leben gehen. Es gibt nur mich und meine Befindlichkeit, alles andere ist aus dem Blickfeld verschwunden. Ich wusste: Gerade jetzt, in diesem Augenblick habe ich eine Wahl: Ich kann zur traurigen Person werden und der ganzer Tag ist schon gelaufen, oder ich kann mich dieser Welle entziehen und den Tag mit offenem Geist Schritt für Schritt angehen.

Wahrnehmen statt Abwehren

So ist es doch, nicht wahr? Ein einziger Gedanke genügt und unser ganzes Wesen wird davon geformt. Man meint, das, was man erlebt, sei die ganze Wirklichkeit und Wahrheit und merkt nicht, dass man in einem kleinen, aber starken Wirbel in irgend einer Ecke des grossen Ozeans des Lebens feststeckt und, verzweifelt um sich schlagend, immer mehr im Sog dieses Wirbels versinkt.

Man will Schmerz, Enttäuschung — die Wut, dass etwas nicht so ist, wie man es möchte — nicht haben, will sie nicht fühlen, man will sie so schnell wie möglich loswerden. Und je mehr man etwas loswerden will, desto mehr verstrickt man sich darin.

Da nützt alles Wünschen und Wollen nichts. Frieden und Gelassenheit gibt es in diesem Zustand nicht. Es gibt nur einen Ausweg: Man muss aus den selbstgenerierten Verwirrungen der Gefühle erwachen.

Wenn man klar sehen kann, wie — ausgelöst durch irgendein Geschehen — ein Traum, eine Pseudowirklichkeit im eigenen Geist entsteht, ein Eigenleben entwickelt und den ganzen Lebensraum ausfüllt, und wenn man dann in der Lage ist, diesem Traum nicht zu verfallen, dann … Ja, was dann?

Jeder und jede sollte diese Erfahrung in diesem Leben machen. Nicht nur ein Mal, aber mindestens ein Mal und wenn möglich ein für alle Mal. Diese Erfahrung liess den Buddha sagen:

„Alle zusammengesetzten Dinge sind wie ein Traum, ein Phantom, ein Tautropfen, ein Blitz.
So meditiere man über sie, so betrachte man sie.“

Diamant-Sutra

Geistige Trägheit

Man erwacht nicht einfach so ohne weiteres aus diesem Traum. Nicht, wenn man auf dem Meditationskissen still weiter träumt. Strengt euch an, schaut richtig hin, was sich in eurem Gemüt abspielt. Lasst euch nicht zum Glauben verführen, eure Gedanken und Emotionen seien die Wahrheit. Sie sind in der Tat nur Spiegelungen eines als persönliche empfundenen Geschehens.

Mara, die Kraft, die uns einreden will, wir könnten diese Welt beherrschen und kontrollieren, die uns immer wieder die Ideen von bleibenden Glück und bleibendem Frieden einflüstert und unseren Eigenwillen füttert, sie sitzt immer neben uns und schaut, wo sie uns erwischen und Verwirrung schaffen kann. Sie ist Teil unserer psychischen Natur.

Selbstbefreiung

Auch der Buddha und die sogenannten Heiligen waren nicht von Maras Täuschungen verschont. Aber die Kraft, die dieses Spiel durchschauen und ihm widerstehen kann, ist auch Teil unserer Natur.

Diese Kraft zu erkennen, zu fördern und zu erleben ist der einzige Weg, um das eigene, gegebene Leben mit all seinen Wirren von Glück und Leid sinnvoll zu leben. Nicht nur der Buddha, viele andere weise Menschen sahen und sehen darin den wahren Grund unseres Lebens in dieser Welt: Sich durch Einsicht von den Täuschungen zu befreien und in der Wirklichkeit jenseits unserer persönlichen und kollektiven durch Gedanken und Emotionen bedingten Befindlichkeit Glück und Frieden zu finden.

Wir aber wissen um diese Möglichkeit; wir müssen sie nur nutzen: Durch richtige Sicht und richtiges Tun wird jeder Verwirrung vorgebeugt. Oder hat jemand eine bessere Idee?

Betrachtung Januar 2018, A. Wydler Haduch

verwirrung
Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung Verwirrung
Nach oben scrollen