Sein und werden

Sein und werden – AWH, Tagesretreat Juni 2024

Wir sind beim dritten Kalender-Zitat von Ikkyu angekommen. Es lautet:

Um zu werden, was wir waren, müssen wir aufhören, zu werden.

Lasst euch diesen Satz auf der Zunge zergehen – Um zu werden, was wir waren, müssen wir aufhören, zu werden.

Vermutlich kann man nicht auf Anhieb verstehen, was hier gesagt wird. Mein Gehirn jedenfalls war einen Moment lang still, bevor es mir die Türe zum Verständnis öffnete. Der Schlüssel liegt in der Bedeutung des Wortes «werden».

Der Wunsch oder der Drang, etwas zu werden, begleitet uns durch das ganze Leben, nicht wahr? Kinder wollen gross werden und träumen vielleicht davon, Pilot oder Tänzerin werden; Frauen wollen Mütter werden; Männer wollen Väter werden; einige wollen berühmt werden; andere wollen erleuchtet werden.

Und wie wir alle wissen, ist «Werden» der natürliche Prozess des Lebens. Nichts bleibt, was es ist. Alles verändert sich ständig. Wir wissen dies zwar intellektuell, aber wir können es nicht direkt erleben. Denn man sieht sein Wirken immer erst im Vergleich mit einer Erinnerung an etwas, das einmal war und jetzt nicht mehr ist.

In meinen Augen ist dies ein gutes Beispiel, um einmal über ein Lebensprinzip nachzudenken, das einerseits ganz real ist und andererseits abstrakt bleibt, da wir es nicht direkt erleben. Der Buddha hatte genau dies getan und wir sind heute in der glücklichen Lage, seine Erkenntnisse zu studieren und vielleicht ins eigene konkrete Leben zu integrieren.

Zu diesem Zweck möchte ich nun Ikkyus Aussage aus drei Gesichtspunkten befragen: Kann man werden, was man war? Kann man wissen, was man war? Kann man aufhören zu werden?

Werden als Reaktionskette

Erstens: Kann man werden, was man war?

Das geht doch gar nicht. Zu denken, man könne etwas werden, was man einmal war, ist Unsinn. Das Lebensrad lässt sich nicht zurückdrehen.

Zweitens: Wissen wir denn, was was wir waren oder was wir jetzt sind? Gewöhnlich denken wir doch, wir seien das Produkt unserer Eltern, unserer Kultur, Erziehung oder Prägung. Und deswegen sind wir auch oft überzeugt, dass die Eltern und unsere Umwelt – im Guten wie im Schlechten – uns «gemacht» haben und Schuld daran sind, wenn wir Probleme haben.

Doch der Buddha sowie seine Vordenker und Nachfolger, die die menschliche Erlebenswelt sorgfältig analysiert und studiert haben, kamen zur Erkenntnis, dass dies zu kurz gedacht ist. Aus ihrer erleuchteten Sicht sind wir nicht unschuldige Opfer unseres Schicksals, sondern in erster Linie das Produkt unseres eigenen Denkens.

Die Bedeutung des Denkens als schöpferische Geisteskraft hat der Buddha bei jeder passenden Gelegenheit betont. In der Sammlung seiner prägnanten Aussagen, im Dhammapada, heisst es zum Beispiel ganz am Anfang:

Alles, was wir sind, ist das Ergebnis unserer Gedanken. Es gründet auf unseren Gedanken, es besteht aus unseren Gedanken.

Lange vor der heutigen Neurologie haben die indischen Geisteswissenschaftler verstanden, dass wir uns die Welt sozusagen selber schaffen. Denn in unserem Gehirn entwickeln sich blosse Sinneseindrücke zu unbewussten Reaktionsketten von Gefühlen und Interpretationen bezüglich des Wahrnehmungsobjekts.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Die Augen nehmen etwas wahr – die Form einer «Blume», eines «Menschen» oder sonst eines Objekts. Innerhalb von Millisekunden bildet sich ein Gefühl von angenehm, unangenehm, sympathisch oder unsympathisch oder weder-noch. Aus dem Gefühl entsteht ein Gedanke – schön, hässlich, begehrenswert oder pfui. Diesem ersten Gedanken folgen weitere Gedanken, die sich zu einem Konglomerat von Annahmen verdichten: Man macht sich ein Urteil über das Objekt der Wahrnehmung. Man will es haben und behalten oder nicht haben und loswerden; man will es ändern, ausschmücken oder sonst wie kontrollieren.

Auf diese Weise betrachten wir alles aus unserer persönlichen Perspektive und identifizieren uns damit. Wir denken, was meine Augen sehen, was ich fühle und denke ist die unumstössliche Wahrheit. Dummerweise realisieren wir aber nicht, dass jeder Mensch die Welt auf seine Art und Weise sieht und interpretiert.

Eins entsteht aus dem anderen

Wie der Buddha erklärt, beruht der irreführende Denkprozess darauf, dass wir die wirkliche Grundlage unseres Lebens nicht kennen. Wir machen uns von der Welt der Sinne falsche Bilder und konstruieren daraus ein Ich, das sich als getrennt und unabhängig von der Aussenwelt versteht. Weil wir aber aus dieser Unwissenheit handeln, machen wir viele Fehler und führen ein Leben voller Konflikte und Leiden.

In Wirklichkeit ist alles Leben ein fortlaufender Prozess von Entstehen und Vergehen. Die Natur bringt laufend Lebensformen hervor, die sich entwickeln und wieder verschwinden. Aus der Sicht der fernöstlichen Weisen betrifft dies nicht nur das Leben, das mit der Geburt eines individuellen Körpers anfängt und mit dem Tod dieses Körpers endet. Das ganze Universum ist ein ständiger Prozess von Sterben und Werden. Über einen Anfang oder ein Ende dieses Prozesses, können wir Menschen nur spekulieren.

Sei es im grobstofflichen oder geistigen Bereich und egal wann und wo, ob vor Millionen von Äonen oder gerade jetzt in dieser Minute: Alles was einmal entstanden ist, wandelt und verändert sich gemäss bestimmter Gesetzmässigkeiten.

So wie die heutigen Naturwissenschaftler erklärte auch der Buddha, dass die Entstehung aller Lebensformen dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgt. Seine entsprechende Formel lautet: Wenn dieses entsteht, entsteht jenes. Wenn A entsteht, entsteht B, entsteht C, entsteht D. Eines wird vom anderen bedingt.

Diese vom Buddha formulierten Erkenntnis ist in der sogenannten Lehre des bedingten Entstehens, auch Lehre des abhängigen Entstehens genannt, zusammengefasst.

Gemäss dieser Sicht ist auch unsere Existenz in der Menschenwelt eine fortlaufende Kette von materiellen und geistigen Ursachen und Wirkungen. Das heisst sowohl unser Körper als auch unser Denken ist geprägt vom Denken und Handeln anderer Menschen aus der Vorzeit und der Gegenwart. Und unsere gegenwärtigen Handlungen – die heilsamen wie die unheilsamen – sind Ursachen, die sich im Leben anderer Lebewesen auswirken, seien es Pflanzen, Tiere oder Menschen.

Die Macht des Denkens

Da das menschliche Verhalten von Gedanken abhängt, die man in der Regel von anderen übernommen hat und die sich gegenseitig beeinflussen – Meinungen, Urteile, Täuschungen, Glaubenssätze usw. – leben wir alle in gegenseitiger Abhängigkeit von einander. Nichts und niemand lebt allein aus sich heraus, unabhängig und getrennt vom ganzen Leben.

Es ist aber nicht so, dass damit alles prädestiniert ist und wir das Opfer der Vergangenheit sind.

Denn sobald sich das Bewusstsein eines Neugeborenen entwickelt und zur geistigen Reife heranwächst, gibt es immer auch eine Wahl. So können wir zum Beispiel entscheiden, ob wir im Falle eines Wutanfalls der Tendenz zur Gewaltanwendung folgen wollen oder einen Weg zur Deeskalation einschlagen. Mit anderen Worten: Man kann sich der eigenen Gedanken bewusst werden und die Verantwortung für das eigenen Tun übernehmen.

Im Dhammapada heisst es zum Beispiel:

Wer mit unlauteren oder unheilsamen Gedanken redet und handelt, dem folgt das Unglück so wie ein Wagen dem Zugpferd folgt. Wer mit lauteren oder heilsamen Gedanken redet und handelt, dem folgt das Glück so wie der Schatten, der ihm nicht von der Seite weicht.

Jeder Tag unseres Lebens birgt also die Möglichkeit in sich, sich so weiter zu entwickeln, dass man in einem anderen Zustand stirbt als man geboren wurde. Diese Möglichkeit der geistigen Reifung und Erkenntnis und die Verantwortung für das eigene Denken und Handeln im Alltag ist die Basis aller buddhistischen Geistesschulen.

Ob wir nun bekennende Buddhisten sind oder nicht, wenn wir ernsthaft daran interessiert sind, unserem Leben einen Sinn und eine Ausrichtung zu geben und auf das Wohl aller Lebewesen bedacht sind, dann sollten wir uns mit den grundlegenden Prinzipen des bedingten/abhängigen Entstehens, der Vier edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades vertraut machen.

Im sogenannten Rad des Werdens – Bhavachakra – werden diese auf anschauliche Weise bildhaft dargestellt. Anhand dieser Darstellung erklärte der Buddha, wie und warum die Lebewesen so verschiedene Bewusstseinszustände und Erlebniswelten durchlaufen. Und zwar sowohl innerhalb eines individuellen Lebens hier und jetzt als auch in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Lebenszyklen. Da wir diesen Themenkreis in der Vergangenheit schon oft besprochen haben, gehe ich jetzt nicht weiter darauf ein. Diejenigen, die dies zum ersten Mal hören, können auf unserer Webseite (zzbzurich.ch) und auf allen buddhistischen Plattformen viele Informationen dazu finden.

Besinnung auf den Ursprung

Mit diesem Hintergrundwissen können wir nun zum Zitat von Ikkyu zurückkehren.

Um zu werden, was wir waren, müssen wir aufhören, zu werden.

Im ersten Teil des Satzes – um zu werden, was wir waren – nimmt Ikkyu Bezug auf die spirituelle Sehnsucht vieler Menschen, den leidvollen Verstrickungen ihres Lebens zu entkommen, in dem sie zu einem hypothetisch ursprünglichen Seinszustand zurückkehren.

Wie schon erwähnt, ist «was-wir-waren» nicht zeitlich zu verstehen. Es geht nicht um die Rückkehr in die Vergangenheit oder eine Flucht in schöne Erinnerungen an die «glückliche Kindheit» oder die Wiederherstellung vergangener Schönheit um jeden Preis.

Da Ikkyu ein erfahrener Buddhist war, können wir mit grösster Sicherheit annehmen, dass er hier vom ursprünglichen, unvoreingenommene Seinszustand eines noch nicht vom Ich geprägten Menschen sprach. Denn wie wir alle wissen, predigte der Buddha im Grunde nichts anderes als die Befreiung vom Leiden durch die Besinnung auf den ursprünglichen Geist.

Er definierte diesen Zustand als «der reine, ursprüngliche Geist», vergleichbar mit dem Geist eines kleinen Kindes, das noch nicht von der Elternwelt geprägt ist. In der Welt eines solchen Kindes ist alles möglich. Es kann sich in alles verwandeln. Es erlebt und durchlebt schöne und unschöne, angenehme und unangenehme Eindrücke/Erlebnisse so, wie sie kommen, ohne sie festzuhalten. Weinen und Lachen folgen frei und ungehemmt aufeinander so, wie sie sich eben in ihm abspielen. Es sagt noch nicht Ich dazu.

Das ist der Seinszustand eines Menschen, der nicht in den unrealistischen Wünschen und Begehren seines Ichs gefangen ist. Die chinesischen Weisen nannten es das «wahre Wesen» oder der Geist «vor Vater und Mutter».

Vor Vater und Mutter

«Vor Vater und Mutter» bezieht sich nicht auf die leiblichen Vorfahren. Diese waren genau so wie wir von ihrer Zeit und Umgebung geprägt. Sie haben mit ihren persönlichen Gedanken und Handlungen das Lebensrad von Ursache und Wirkung auf ihre Weise gedreht. Ohne sie wären wir nicht auf dieser Welt. Folglich sind unsere Lebensbedingungen auch durch ihre Gedanken und Handlungen bedingt.

Es wäre und ist jedoch müssig, sich immer wieder zu wundern oder zu beklagen, was uns die Ahnen eingebrockt und zu Leide getan haben. Ebenso unnütz ist es, die Kindheit oder die gute alte Zeit zu idealisieren und wieder herbeizusehnen.

Der ursprüngliche Seinszustand «vor Vater und Mutter» ist eine Metapher, ein sprachliches Sinnbild, für das Wesen der Natur. Denn sowohl die Natur, die wir in der Aussenwelt erleben als auch die Natur des Geistes weiss nichts von schön-hässlich, angenehm-unangnehm, Sympathie-Antipathie. Deshalb gibt es in ihr kein Festhalten oder Ablehnen. Sie Sonne scheint auf alle Kreaturen gleich und dem Wasser ist es egal, von wem es getrunken wird.

Nur weil wir um diese unsterbliche Natur in uns nicht wissen, halten wir all die Ideen, Meinungen und Gewohnheiten, die wir von den Eltern und anderen Autoritätspersonen übernommenen haben, für unsere eigenen. Wir richten uns in der kollektiven Gedankenwelt häuslich ein und bilden uns ein, sie sei die Wirklichkeit.

“Werden, was wir waren” bedeutet also nichts anderes, als sich darauf zu besinnen, was man ursprünglich ist. Deshalb ist es besser zu sagen: Um zu werden, was man ist,… muss man aufhören zu werden. Vielleicht hatte Ikkyu es ja auch so gesagt. Wir können nicht wissen, wie der ursprüngliche Text lautet.

Die Illusion des Werdens

Im zweiten Teil des Satzes spricht Ikkyu von demjenigen zukunftsgerichteten Werden, das sich nur auf das Glück des Einzelnen bezieht. Es ist doch so, dass wir immer irgendetwas wollen, das unser Leben verbessern soll, nicht wahr?

An dieser Stelle will ich deutlich darauf hinweisen, dass es nicht darum geht, keine Wünsche oder Zukunftspläne zu haben. Für die meisten Menschen ist es ganz natürlich, sich ein Ziel zu setzen, sei es in Bezug auf materielle, soziale oder geistige Werte.

Das menschliche Streben nach einem Ziel ist an und für sich kein Problem. Zum Problem wird es erst dann, wenn das Werden wichtiger ist als das Sein und wenn das, was werden soll, nicht eintrifft. Wie jeder beobachten kann, werden Wünsche, Zukunftsphantasien und Pläne meistens nie ganz befriedigt. Aber statt uns damit abzufinden, versteifen wir uns darauf und kämpfen bis zur Erschöpfung: Es muss doch möglich sein, dieses oder jenes zu werden – besser oder freundlicher oder liebevoller oder erleuchtet. Ich muss mich bloss mehr anstrengen.

Dieses Werden-Wollen und Kleben am Werden-Wollen, das ist das Problem!

In unserer Verblendung und Unwissenheit merken wir nicht oder wollen nicht wahrhaben, dass wir einem Phantom, einer Ausgeburt unseres Denkens und unserer Ich-Fantasie verfallen sind.

Also verwickeln wir uns immer mehr in unsere Vorstellungen und leiden, weil sich diese nicht erfüllen. Nicht selten beschuldigen wir uns selbst des Versagens mit Gedanken wie: Was mache ich falsch? Warum geht es nicht? Bin ich zu dumm?

Und so verbreiten wir das Gift von Unzufriedenheit und Neid in die ganze Welt. Es sollte keine grosse Anstrengung brauchen, um zu verstehen, dass wir mit diesem Werden aufhören sollten.

Aber wie macht man das?

Schöpfer von Freud und Leid

Der einzige Weg ist es, über die Realität unseres Daseins nachzudenken und sich des eigenen Verhaltens bewusst zu werden. Das Mittel dazu ist die Meditation. Und zwar sowohl die verweilende Meditation als auch die analytische, erkennende Meditation der Introspektion. Beide basieren auf der Praxis der reinen Achtsamkeit: Man beobachtet alle Aktivitäten und Empfindungen des Körpers – gehen, sitzen, stehen, liegen, denken, fühlen usw. – mit passivem Gewahrsein, d.h. ohne sich einzumischen.

Die verweilende Meditation betont das Ruhen in der Stille mit wachem Geist und passivem Gewahrsein, wobei alle Unterscheidungen zwischen Körper und Geist, Innenwelt und Aussenwelt wegfallen. Die analytische Meditation schliesst die Kontemplation eines Meditationsinhaltes ein – eine Frage, ein Koan, ein Bild. Man denkt solange über das Meditationsobjekt nach, bis das Denken nicht weiterkommt. Man gibt aber nicht auf und betrachtet das Objekt geduldig weiter. Dann kann es passieren, dass sich der Schleier plötzlich lüftet und man auf einmal wortlos versteht …

Wenn wir mit Hilfe der Meditationspraxis aufhören, dauernd Ausreden zu fabrizieren, und uns darauf einlassen, unser Denken und unser Verhalten objektiv und ehrlich zu beobachten – ohne Scham oder Selbstvorwürfe – dann gewinnen wir die nötige Distanz, die uns erlaubt, ein zunehmend bewussteres, glücklicheres und friedvolleres Leben zu führen.

Mit dem Werden aufhören

Nachdem der Buddha erklärt hatte, wie alle Lebensformen in einer Kette aus bedingten und abhängigen Ursachen und Wirkungen in Erscheinung treten, hat er auch erklärt, dass durch richtige Meditation, Sicht und richtiges Handeln die Kette an irgendeiner Stelle durchbrochen werden kann.

Zuerst sagte er: Wir werden, was wir denken. – Unser ganzes Leben ist eine Folge Ursache und Wirkung, nach dem Prinzip: Wenn dieses entsteht, entsteht jenes.

Dann sagte er: Wenn dieses nicht entsteht, entsteht jenes nicht.

Wenn also – sagte der Buddha – irgendein Glied der Kettenreaktionen durch einen bewussten Akt der Erkenntnis unterbunden wird, d.h. am Entstehen gehindert wird, dann entstehen auch alle anderen Reaktionen nicht. Dann fällt die Kette auseinander. Das Rad des Werdens steht still.

Am Anfang dieses Vortrages habe ich an einem einfachen Beispiel gezeigt, wie aus einer Sinneswahrnehmung (Blume oder Mensch) innerhalb von Millisekunden ein Gefühl von angenehm, unangenehm, sympathisch oder unsympathisch oder weder-noch entsteht und in einer Kettenreaktion von Gedanken zu einer Handlung des Ichs mutiert. Wenn nun in der Meditation dieses Geschehen erkannt wird, dann kann man aktiv eingreifen, indem man sich bewusst darauf konzentriert, ein Gefühl oder einen Gedanken nicht zu ergreifen und weiterzuspinnen, sondern zu ignorieren. Dadurch wird dieses Glied der Kette nicht genährt und stirbt ab. Das ist die befreiende Wirkung von rechter Meditation und rechtem Tun. Die beiden bedingen sich gegenseitig, sie sind Ursache und Wirkung zugleich.

Die buddhistische Tradition ist voll von erprobten und hilfreichen Methoden und Anleitungen, die diese Art von Verständnis fördern. Ein einzelner Mensch kann sie gar nicht alle meistern. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wir können uns für heute an Ikkyus Empfehlung halten: Wenn man das sein will, was man eigentlich ist – ein im Ursprung freies und friedvolles Wesen – dann muss man aufhören, immer etwas werden zu wollen, das den eigenen Vorstellungen von Glück und Frieden entspricht.

Sein ohne werden

Schauen wir nun zurück auf das Zitat von Ikkyu: Um zu werden, was wir waren, müssen wir aufhören, zu werden.

Verstehen wir nun, dass “aufhören zu werden» dann beginnt”, wenn wir ganz einfach sind, was wir in schon immer sind? Nämlich ein Wesen, das von Natur aus mit Verstand, Herz und Erkenntniskraft ausgestattet ist und sein Leben selber gestalten kann? Und dass dieses Leben ein dauernder Fluss des Werdens ist?

Denn wenn wir uns mit voller Hingabe dem momentanen Geschehen zuwenden – ohne an die Vergangenheit oder Zukunft zu denken – und uns selbst mit unparteiischem Gewahrsein zuschauen – ohne zu nörgeln oder sich lobend auf die Schultern zu klopfen – dann kann unsere fühlende und schöpferische Natur zum Durchbruch kommen. Und sie ist es, die intuitiv die richtigen, den Umständen entsprechenden Entscheidungen trifft.

Zum Schluss noch dies: In einem Sutra heisst es: Der Buddha Dipankara (der Buddha der Urzeit ) meditierte viele Äonen lang und konnte trotzdem kein Buddha werden. – Wisst ihr warum nicht?

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