Entleere Deinen Geist

Teisho von H. Platov; gesprochen am 12. Juli 1986 in Zürich. Präsentiert am ZZB-Tagesretreat 02.03.2019

Entleere deinen Geist – Im alten und sehr bekannten Zen-Tempel und Kloster namens Nanzenji in Kyoto, Japan, gibt es eine berühmte Faltwand, ein Soji, mit einer Kaligraphie aus den Worten: «Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein». Das Wort «Tao» hat verschiedene Bedeutungen, es kommt darauf an, in welcher Verbindung man es benutzt. Im hier gegebenen Zusammenhang von «eintauchen» bedeutet Tao ein Urzustand oder das Urbewusstsein. Das Eintauchen ist das, was man im indischen Ausdruck, in Sanskrit, ein Samādhi nennen würde.

Hier ist die Rede von einer Form der Meditation, die ohne Vorstellungen ist; eine inhaltslose, vorstellungslose Form der Meditation. Im Unterschied von Meditation, in der man Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Bilder und alles Mögliche, was sich im Bewusstsein abspielt, zum Inhalt hat.

Zen-Meditation

Zen-Meditation gehört zur Form der inhaltslosen Meditation. Der Buddhismus kennt viele Schulen. Die sogenannte Meditationsschule, die Dhyāna-Schule, kam nach China und wurde dort Ch’an genannt. Von dort gelangte sich nach Japan und wurde zu Zen. Man könnte sagen, der indische Baum der Dhyāna-Schule, der Meditationsschule des Buddhismus, wurde nach China gebracht und in den Boden des Taoismus gepflanzt. Deshalb gibt es im frühen Zen sehr viel taoistisches Gedankengut. Die Anweisung Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein ist ein Beispiel dafür.

Um ein Sinnbild als Beispiel zu geben: Es ist als ob man auf einen Wasserspiegel eines tiefen dunklen Teiches schauen würde. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Bergteich. Dieser Bergteich ist tief und dunkel. Auf seiner Oberfläche spiegelt sich das Licht und in diesem Spiegel sieht man sich selbst. Man sieht sein eigenes Gesicht. Man sieht auch alles andere, was sich noch in diesem Spiegel spiegelt: der Sternenhimmel oder das Sonnenlicht; Bäume, Wolken und was sich halt so alles spiegelt. Taucht man aber in diesen Spiegel, in dieses Wasser hinein, dann sieht man keine Spiegelbilder, nichts, das sich spiegelt und keinen Spiegel. Das ist ein Sinnbild für den Bewusstseinszustand, der in der indischen Tradition des Raja-Yoga Samādhi genannt wird, das tiefe Eintauchen in das Urbewusstsein.

Raja-Yoga

In den Yoga Aphorismen von Patanjali, der das Raja-Yoga genau studiert und erläutert hat, findet man dasselbe. Dort heisst es: «Verhindere die Modifikation des Bewusstseins». Das heisst, man soll es nicht zulassen, dass sich das Bewusstsein in diesen und jenen Gedanken, diese und jene Empfindung, dieses und jenes Gefühl modifiziert. Man soll sich nicht identifizieren mit all den Inhalten des Bewusstseins. Gewöhnlich ist man ja damit identifiziert: meine Gedanken, meine Gefühle usw. Diese Inhalte muss man quasi «ausschalten».

Um in das reine, kristallklare Bewusstsein zu kommen, muss man also den Geist entleeren und die Modifikation des Bewusstsein verhindern. Dies ist das Wesen der sitzenden Meditation, Zazen. Man setzt den Körper hin und hört auf, mit allen möglichen Gedanken beschäftig zu sein. Man entleert sich von sämtlichen Inhalten, man entkleidet den Geist sozusagen vollständig. Man hört auf, sich mit dessen Inhalten zu identifizieren. So soll man sitzen. So! einfach so! (HP nimmt Meditationshaltung ein.)

Wie macht man das?

Nun stellt sich die Frage, wie macht man das? Wie kann man in diesen Zustand kommen? Zuerst ist es eine Sache der Konzentrationsfähigkeit. Man soll sich auf nur eines konzentrieren. Die natürlichste Form der Konzentration auf eines, ist die Achtsamkeit auf den Atem. Auf das Gewahrseins des Atems, der ganz natürlich vorsichgeht, ob man im Schlafzustand ist oder im Wachzustand, ob man geht oder steht, sitzt oder liegt; andauernd ist der Atem da.

Man kümmert sich nicht um das, was man eventuell hört, sieht denkt, fühlt, sondern man richtet die Aufmerksamkeit nur auf den Atem. Einfach so! Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Das ist eine sehr natürliche Konzentration. Die Verbindung mit dem Rhythmus des Atems ermöglicht das Verblassen und schliesslich das Verschwinden der Gedanken.

Aber am Anfang geschieht es leicht, dass Gedanken kommen und einen forttragen. Auf einmal ist man wieder mitten im Denkprozess oder es tauchen irgendwelche Bilder auf. Dann muss man die Aufmerksamkeit oder das Gewahrsein auf den Atmen zurückbringen. Nur Atem! Das kann einem ziemlich langweilig vorkommen. Kommt man aber in diese Sammlung hinein, wird man sozusagen eins mit dem Atem, dann stellt sich ein rhythmischer Ruhezustand ein.

Verbleibt man darin — man kann die Fähigkeit, darin zu verbleiben, entwickeln — dann braucht man sich nicht mehr bewusst auf den Atem zu konzentrieren. Man weilt einfach in einem rhythmischen oder harmonischen Ruhezustand. Verbleibt man darin, vertieft sich das Bewusstsein. Es ist, um das Symbol der Bergteichs zu benutzen, so, als ob man sich von der Oberfläche des Wasserspiegels löst und unterhalb des Wasserspiegels tiefer und tiefer in das Wasser eintaucht.

Das ist also gemeint mit Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein. So soll Meditation sein, vorstellungslos, und inhaltlos. So, dass sich ein harmonischer Ruhezustand einstellt. So soll es sein!

Was leider nicht so ist…

Was leider nicht so ist. Weil man mit einem Eigenwillen an die Sache geht: «Ich muss jetzt meditieren; ich darf jetzt nicht denken; ich darf nichts sehen, nichts hören …».

Also schottet man sich ab — «Ich darf nicht denken, nicht sehen, nicht hören» —, und ist weit entfernt von dem rhythmischen, harmonischen Zustand, in dem man eins ist mit dem natürlichen Atem. Man zwingt sich sozusagen in dieses Nicht-Denken, Nicht-Hören, Nicht-Sehen, so: (HP macht ein verkrampftes Gesicht und gibt einen gequälten Laut von sich).

Wenn man dies tut, ist es nichts weiter als ein Unterdrücken von all dem, was sich im Bewusstsein abspielt. Man unterdrückt das Gedankenleben, das man hat, das Gefühlsleben, das man hat, die Triebkräfte, die da sind. Man unterdrückt sie alle Das ist natürlich nicht Meditation. Das ist vollkommen falsch. Aber gewöhnlich ist es so.

Ich muss wiederholen: Das Unterdrücken von allem, was sich im Bewusstsein abspielt — das Innenleben, die Gedanken, die Gefühle, die Verbindung mit der Aussenwelt, die Interessen, die Arbeit oder was es auch sein mag — das ist falsche Meditation.

Selber beobachten

Man kann dies gut selber beobachten: Man hat auf diese Weise gesessen, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, und dann, sobald man aufhört damit, kommt all das, was man unterdrückt hat, wieder an die Oberfläche; alles ist sogleich wieder da. Es kommen die alten Gedanken, die Gefühle, dieses und jenes und man ist wieder mitten drin.

Ein Aussenstehender mag sich wundern: «Diese Person hat meditiert? Hat in Stille gesessen? Die hat doch einfach auf dem Zeug, das in ihrem Bewusstsein lebt, drauf gesessen.» Es ist, wie wenn man einen Deckel auf eine Mülleimer legt, sich auf diesen Deckel setzt und sagt: «Jetzt meditiere ich.» Man sitzt aber auf einem Mülleimer. Und auch die Fliegen kommen, die riechen das nämlich, und summen einem um die Ohren. Das kennt man ja! Und wenn man fertig ist und aufsteht, geht der Deckel auf und das ganze Gemüse im Mülleimer quillt heraus.

So kann man sich selber den Beweis liefern: Habe ich wirkliche, echte Sitzmeditation gemacht? Bin ich wirklich in den Meditationszustand gekommen oder habe ich nur einfach alles, was sich da abspielte, unterdrückt? Die Antwort zeigt sich in dem Moment, wo man aufhört zu sitzen. Man schwatzt, man unterhält sich, man sieht sich gegenseitig an und lacht oder diskutiert und alles geht wieder los. Dies ist eine sehr arme Meditation. Das ist gar keine Meditation!

Es ist nichts, als ein Unterdrücken.

Im Leben hat man diese und jene Schwierigkeiten mit sich selbst, wie man so sagt, und auch mit anderen. Und dann sagt man sich: «Wenn ich meditiere, dann werde ich diese Schwierigkeiten los.» Ja, aber nur wenn man wirklich meditiert. Sonst wird man sie nicht los. Wenn man die Probleme bloss unterdrückt, sind sie vielleicht für eine gewisse Zeitdauer «weg», aber nicht lange und alle sind wieder da.

Bei echter, richtiger Meditation…

Bei echter, richtiger Meditation ist das anders. In diesem Fall lösen sich viele Bewusstseinsinhalten auf. Man könnte dies mit der Funktion von Wasser vergleichen. Gewöhnliches Wasser besitzt eine gewisse Auflösungskraft. Aber nicht in dem Masse wie destilliertes Wasser. Destilliertes Wasser ist ein vollkommen reines Wasser. Es enthält keine Inhalte und hat ausserordentlich grosse Auflösungskraft.

Wenn man das Bewusstsein entleert, ist es ein reines Bewusstsein und hat Auflösungskraft. In der psychologischen Symbolik verbindet man das Bewusstsein oft mit Wasser, das Element Wasser. Das wird z.B. in der tiefen-psychologischen Analyse sehr oft getan. Es gibt viele Träume von Wasser. Das Wasser gilt dann als ein Symbol für das Bewusstsein.

Also, wenn das Bewusstsein vollkommen rein ist, das entleerte Bewusstsein, dann ist es wie destilliertes Wasser. und hat Auflösungskraft. Darin lösen sich dann die Inhalte, die einen plagen und hin-und-her bewegen, auf.

Richtige, echte Meditation beweist sich also auch dadurch, dass sich die Bewusstseinsinhalte auflösen. Falsche Meditation, bei der man alle möglichen Vorstellungen hat, und Ideen, — tut das nicht. Das ist, wie schon gesagt, nichts als eine momentane Unterdrückung. Dann kommt alles wieder raus.

Deshalb merke man sich den Satz: Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein.

Andere Hinweise

Es gibt noch andere Hinweise, die sich auf richtige Meditation beziehen. Man liest z.B. im Tao te King von Lao-tzu: «Wer kann durch Stille das trübe Wasser klären …» Wie kann man das trübe Wasser des Bewusstseins durch die Stille klären? Man kann dies am Sinnbild von einem Glas mit «schmutzigem» Wasser erläutern. Das Wasser ist trüb, weil alles Mögliche darin schwimmt. Lässt man das Glas in Ruhe, sinken die «schmutzigen» Inhalte auf den Boden und das Wasser wird klar. Das trübe Wasser durch Stille klären, ist also kein Unterdrücken. Der Geist wir still und alle Gedanken und mentalen Inhalte lösen sich auf. Dann ist das Bewusstsein klar. Wer kann das bewirken?

Lao-tzu fragt weiter: « … und wer kann durch Bewegung die Stille lebendig machen?» Wer kann die harmonische Ruhe lebendig werden lassen? Das wäre ein Hinweis auf echte Meditation.

Ein weiterer Hinweise lautet: «Schliesse deine Sinnespforten und bewahre den Vitalgeist.» Erlaube nicht, dass deine Vitalität, die fundamentale Lebenskraft … wie soll ich sagen, … dass der Vitalgeist im Hören, Sehen, Empfinden usw. verplempert oder sich verzettelt. Darum: Schliesse die Sinnespforten, bewahre den Vitalgeist! Dann wird die Vitalität zu reinem Bewusstsein. Auch das ist ein Hinweise auf richtige Meditation.

Oder, wie schon gesagt, bei Patanjali kann man lesen: «Verhindere die Modifikation des Bewusstseins.» Verhindere, dass sich dein Bewusstsein in diese und jene Gedanken, dieses und jenes Gefühl, dieses und jenes Bild modifiziert. Verhindere das!

Wie man sieht, kommt es letzten Endes nicht darauf an, welcher Meditationsschule man folgt: Entweder man tritt in den Meditationszustand ein, ins Samādhi, oder nicht.

Warum Samādhi?

Man kann natürlich fragen, wozu überhaupt meditieren, wozu in das Samādhi kommen? Darauf könnte man antworten: Damit man sein wirkliches, wahres Wesen, sein wahres Selbst entdeckt — das wahre Selbst ist nicht das, was da so denkt und fühlt und tut —; damit man nicht andauernd gefangen ist in allen möglichen Vorstellungen, Gedanken, Empfindungen usw. Wenn man identifiziert ist mit den Vorgängen, kommt man nicht zur Erkenntnis des wirklichen Selbst. Man verliert sich, — das wahrhaftiges Selbst — in den Gedanken und Gefühlen und was sich so alles abspielt; man verliert sich darin. Wir sagen: «Meine Gedanken, meine Empfindungen, meine Gefühle…». Woher kommt denn dieses Denken? Das sollte man sich einmal überlegen. Woher kommen diese Gedanken, Empfindungen, Gefühle? Was ist es denn überhaupt, dass sich dieser Gefühle, Empfindungen, Gedanken gewahr ist?

Studiert man die verschiedenen sogenannten Pfade oder Wege der Religionen, stellt man fest, dass alle die Frage nach dem wahrhaftigen, ursprünglichen Wesen stellen und auf ihre Art zu beantworten suchen. In der indischen Tradition nennt man das wahre Wesen «Purusha» oder «Atman» oder «Nicht-Selbst». In der Kabala, dem Weisheitsbuch des jüdischen Überlieferung — man könnte diese quasi als westliche Form des Tantra bezeichnen — heisst das wahrhaftiges Wesen «Ruach». Das ist ein hebräisches Wort. Geht man zu den Gnostikern der christlichen Tradition ist die Rede vom dem, was im «Ebenbild Gottes geschaffen» ist. Bei den Sufi heisst das transzendente Wesen «Allah», im Buddhismus spricht man von der «Buddha-Natur» und im Taoismus vom «Urwesen» oder der «Urnatur». Ganz egal, welches Etikett man aufklebt, welchen Namen man gibt, das Wesentliche ist es, das wirkliche Selbst, das was über das persönliche Selbst hinausgeht, zu erkennen.

Und wie macht man das? Durch richtige, echte Meditation! Es ist gewissermassen ein Loslassen von sich selbst oder was man für sich selbst hält.

Selbst beobachten

Also musst man aufhören, sich zu identifizieren. Man soll lernen, das, was sich in einem und um einen herum abspielt, zu beobachten. Dann wird man nicht mehr derartig von den Geschehnissen kontrolliert. Man tritt sozusagen zurück, ist bloss Zeuge. Damit ist nicht gesagt, dass man aufhört zu denken oder zu empfinden. Natürlich nicht. Aber man wird nicht eingefangen. Man ist sozusagen von den Inhalten befreit.

Man kann diesen Vorgang z.B. in Kino studieren. Schaut man sich einen Film an, kann man feststellen, dass man auf ein Mal gar nicht mehr ans sich selbst denkt und ganz «in» den Vorgängen des Film gefangen ist. Man identifiziert sich mit den Vorgängen im Film — bewusst oder unbewusst. Man vergisst sich selbst und verliert sich im Drama des Films.

Wenn man dessen gewahr wird, kann das sehr interessant sein. Denn diese Selbstvergessenheit durch eine Identifikation mit den Vorgängen sieht fast so aus, wie ein Meditationszustand, in dem man gar nicht an sich selbst denkt und sozusagen eins geworden mit einem Geschehen. Aber im Film geschieht dies unbewusst. Wenn man es bewusst ausführt, wenn man mit einem Geschehen eins wird — sehr bewusst eins wird — dann wird man nicht übernommen davon, wird nicht kontrolliert. Es ist ein bewusstes eins werden mit einem gewissen Inhalt, sei es ein gedanklicher Inhalt oder eine Sinneswahrnehmung.

Das Einwerden ist die Zen-Übung im Alltag. Man macht nicht nur Zazen, Sitzmeditation, sondern übt auch, wenn man aktiv ist; bei der Arbeit oder sonst einer alltäglichen Verrichtung. Man ist dessen, was man tut, vollkommen gewahr, verbindet sich damit. Das ist der Meditationszustand im Tun. Also: Einerseits Meditation im Tun und andrerseits Meditation im Nicht-Tun, Wu-Wei.

Der Meditationszustand in Aktivität bedeutet, die Stille lebendig zu machen. Dann ist jedes Handeln, jedes Tun ein sehr bewusstes Tun, ein eins werden mit dem, was man tut.

Bodhidharma

Die Meditationsschule, Dhyāna, des Buddhismus wurde von Indien durch einen Mönch, namens Bodhidharma nach China gebracht. Man sagt, er habe nichts gelehrt; er habe sich einfach vor eine kahle Felswand gesetzt und diese angestarrt, Tag und Nacht. Er ist also nicht gekommen wie ein Lehrer und hat über Dhyāna, Zen, gesprochen. Er hat nicht irgendwelche Gedanken zum Besten gegeben, sondern er hat gezeigt, was Zen ist. Er hat sich vor die kahle Felswand gesetzt und sie Tag und Nacht angestarrt. Darum sieht man manchmal Bilder von ihm mit diesen Glotzaugen. Was bedeutet das?

Die kahle Felswand ist erstens leer, da sind keine Bilder drauf gemalt, keine Worte drauf geschrieben und die Wand ist felsenfest. Das bedeutet, Bodhidharmas Geist war leer und stark; eins geworden mit der Felswand. Also keine Gedanken, keine Gefühle, keine Empfindungen, nichts «Ichiges», sondern einfach nur dieser Zustand des reinen Bewusstseins. Das Bewusstsein wurde wie eine Felswand. Heutzutage sagt keiner: «Setze dich vor eine kahle Felswand», aber man sagt, wer durch Meditation sein wahres Wesen realisieren will, soll seinen Geist «aufrichten», wie eine eiserne Wand. So dass das Bewusstsein in den klaren und vollkommen unbeweglichen Zustand kommt. Das heisst aber nicht, dass man die Zähne zusammenbeisst und mit starrer Haltung und verzerrten Gesicht da sitzt in der Absicht «Meditation zu machen». Nein! Man sitzt einfach ohne Gedanken, fest und ohne abgelenkt zu werden im Zustand der fundamentalen Stille.

Es ist nun mal sehr wichtig, dass man sich klar wird darüber, was echte, inhaltslose, vorstellungslose Meditation ist. Hat man diesen Zustand einmal erreicht und etabliert, dann kann man sich auch der Meditation mit Inhalt zuwenden. Weil man dann die unerschütterliche Konzentrationsfähigkeit hat, die nötig ist.

Rinzai-Zen-Schule

In der Rinzai-Zen-Schule benutz man z.B. ein Kōan als Inhalt. Oder man nimmt ein Sutra als Inhalt. In der tantrischen Schule des Buddhismus werden sogenannt Mandalas benutz. In der indischen Tradition und im tibetischen Buddhismus dienen auch Mantras als Meditationsobjekt. Was das Allerwichtigste ist bei dieser Praxis: Sie muss auf der Basis der richtigen Meditation gründen, dem reinen, stabilen, unerschütterlichen Ruhezustand des entleerten Geistes.

Denn nur in dieser Stille und Unbeweglichkeit kann man den Inhalt «halten» und sich ohne Störung durch Gedanken darauf konzentrieren. Ist eine Hand ruhig, kann sie einen Gegenstand halten; ist die Hand aber schwach und zittert, dann kann sie nichts halten. Also muss das Bewusstsein zuerst in diese Stille, in diesen Ruhezustand kommen, um einen bestimmten Inhalt zu betrachten. Dann, in dieser Stille und Konzentration destilliert die geistige Erkenntniskraft aus dem Inhalt sozusagen die Essenz heraus!

Gewöhnlich ist es der Lehrer, der den Inhalt gibt, vielleicht ein Mantra, vielleicht ein Mandala, oder Kōan. Entweder gemäss der Schule der er angehört oder gemäss der Notwendigkeit, wobei der Lehrer sieht, dass der Schüler einen bestimmten Inhalt gebrauchen kann.

In diesem Zusammenhang kann man sagen …. ich kann mir das ja erlauben bei meinem Alter … ich werde nun 82 und habe mit Zen in 1932 angefangen, als es noch fast keiner Zugang zum Zen gab … das war der Anfang als das Zen in die westliche Welt kam … 1931 und ich fing 1932 an, das wären also 50 Jahre … da kann ich mir jetzt erlauben zu sagen, dass so Vieles, das sich heutzutage Zen nennt … das hauptsächlich von Amerika her nach Europa gekommen ist … es kommt ja so vieles von Amerika nach Europa, nicht nur Bluejeans, dass also Vieles, das sich Zen nennt, verbunden mit allem möglichen Geschriebenen und allem möglichen Gesagtem … leider wirklich kein echtes, wahrhaftiges Zen ist.

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Darum will ich sagen, wenn man wahrhaftiges Zen aktualisieren will, d.h. im eigenen Leben verwirklichen, dann darf man sich nicht von all dem Geschriebenen und all den falschen Vorstellungen verführen lassen. Wenn sich jemand als Zen-Lehrer ausgibt, soll man ihn frage: «Wer war dein Lehrer? Und hat dir dein Lehrer die Erlaubnis gegeben, d.h. hat er dich qualifiziert zu lehren?» Weiter soll man fragen, wer der Lehrer seines Lehrers war. Ein Lehrer muss authentisch sein. Es gib leider so viel Geschriebenes, so viel Gesagte, das nicht authentisch ist.

Authentisches Zen ist keine Spielerei. Es ist ein Lebensweg. Es ist nicht etwas, das man so nebenbei tut, wenn man neben Beruf, Verantwortung für die Familie und anderen Interessen noch «etwas Zeit hat» um zu «meditieren». Es ist ein Lebensweg. Nicht etwas, das man mal in diesen Kurs oder jenen Kurs «macht».

Der Zen-Weg

Der Zen-Weg ist eine Angelegenheit der wahrhaftigen Existenz der Person. Dies muss im Alltag zum Ausdruck kommen. Es ist ein Trainieren, ein tägliches Trainieren des Gewahrseins. Gewahrsein! Bewusstsein! Ein bewusstes Sein! Es ist, wie schon gesagt, ein eins sein mit dem, was man gerade tut. Jetzt ist es das; jetzt ist es dieses; dann ist es das! Dieses Gewahrsein tritt in Verbindung mit dem, was ist, was man sieht, hört, spürt, denkt. Man wird nicht übernommen von den Sinneseindrücken. Das Gewahrsein erlaubt einen zu entscheiden: Entweder verbindet ich mich mit dem, was geschieht, oder ich trete zurück. Wenn man Kontakt aufnimmt mit der Gedankenwelt, mit der Gefühlswelt, mit der Empfindungswelt, der Aussenwelt, aber sich nicht damit identifiziert, dann wird man nicht von den Bewusstseinsinhalten kontrolliert. Es ist eine bewusste Entscheidung, Kontakt mit der Welt aufzunehmen oder sich des Kontakts zu enthalten.

Wenn man in diesem Gewahrsein lebt, dann wirkt sich das im Alltag positiv aus. Man wird z.B. eine «bessere» Mutter, ein «besserer» Vater, ein «besser» Partner, eine «bessere» Partnerin, ein «besserer» Mitarbeiter usw. Psychologisch lässt sich das leicht erklären: Man ist nicht so von sich selbst «besetz»; man ist frei von unbewussten Mechanismen der Projektion und Identifikation. Man legt den Kindern und anderen Mitmenschen nicht so viele Bedingungen auf, die sich später als Probleme äussern. Wenn man sich selbst kennt und bewusst tut oder nicht tut was man tut oder nicht tut, wirkt sich das positiv aus auf alle und alles, womit man in Kontakt kommt.

Das aktuelle, gelebte Zen hat also zwei Aspekte: Einerseits die sitzende Meditation im absolut stillen, unbeweglichen, leeren Geisteszustand, andererseits die Meditation in Bewegung. Wenn man beide Aspekte im Alltag anwendet, wird der Geist immer klarer, das Gefühlsleben intensiver, die Wahrnehmung weniger verzerrt und das Handeln harmonischer.

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Ein zu diesem Zweck häufig benutztes Kōan lautet: «Realisiere das sich dauernd nicht Bewegende im sich dauernd Bewegenden.» In diesem Zusammenhang kann man das Sinnbild eines Rades, Chakra, als Verständnisbrücke anführen. Ein Rad — jedes Rad — dreht sich um eine Achse. Ohne diese Achse dreht sich das Rad nicht. Die Achse selbst jedoch dreht sich nicht. Das heisst: Die Achse des Rades ist unbeweglich, aber das Rad kann sich nur dank der Unbeweglichkeit der Achse drehen. In der richtigen Meditation ist es, als ob der Geist im Zentrum, in der Achse des Rades, fest und unbeweglich ruht. Das ist das Unbewegliche im sich Bewegenden. Das Rad, man kann es das Lebensrad nennen, — das kleinen Lebensrad des persönlichen Lebens und das grosse Lebensrad des Universum — ist das dauernd sich Bewegende im dauernd Unbeweglichen.

Also noch einmal: Man kann sein wahre Wesen nur realisieren durch richtige, echte Meditation. Und ein Zen, die sich nicht in die Anwendung des täglichen Lebens übersetzt, ist ein ziemlich wertloses Zen.

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