Die Predigt einer Blume

Predigt einer Blume – AWH, Tagesretreats April u. Mai 2025

Ein Zen-Lehrer zeigte auf einen Blumenstrauss und fragte: «Wie kannst du deine Buddha-Natur erkennen, wenn du diese Blumen siehst?»

Die Frage nimmt indirekt Bezug auf eine berühmte Geschichte der buddhistischen Überlieferung:

Einmal sass der Buddha schweigend mit einer Blume in der Hand vor einer Versammlung. Man erfährt nicht, ob er die Blume einfach locker in der Hand hielt oder sie für alle sichtbar zeigte. Es wird nur gesagt, dass die Anwesenden mit ernsten Gesichtern und gespannt auf den Beginn der angesagten Lehrrede vom Buddha warten, auf dass sie etwas über die Wahrheit des Lebens lernen würden. Nur der älteste Schüler, Mahakashyapa, sass völlig entspannt und lächelte.

Der Buddha sah das Lächeln und verkündete, er habe die wahre Sicht, den wunderbaren Geist von endgültigem Frieden, das subtile Dharma, und übergebe dies nun Mahakasyapa. (Mumonkan, Falls 6)

Diese Begebenheit gilt als der Anfang der geistigen Übertragungslinie, die von Buddha bis in die heutige Zeit reicht.

Was hat Mahakashyapa gesehen, als der Buddha schweigend mit einer Blume in der Hand sass? Warum wurde er gerade in diesem Moment zum Nachfolger erklärt?

Leider wird uns das niemand sagen können, was und wie und der Anblick einer Blume über unsere Buddha-Natur enthüllen kann.

Nichts Mysteriöses

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Buddha-Natur ist nichts Mysteriöses, kein esoterisches Geheimnis. Das Wort steht für den von Natur aus wachen Geist (Bodhi), der allen Lebewesen angeboren ist. Pflanzen und Tiere folgen dem Wissen ihrer Natur ganz selbstverständlich. Da wir Menschen aber von unserem selbstzentrierten Denken irregeführt werden, müssen wir diese Natur in uns erst wieder suchen und entdecken. Die Tatsache, dass wir die Fähigkeit dazu haben, ist der Beweis, dass es die Weisheit, das Wissen in uns gibt.

Machen wir es doch so, wie es der Buddha und alle seine Nachfolger getan haben und schauen einfach hin.

(Agetsu stellt einen Blumenstrauss in die Mitte des Raumes.)

Was sehen wir, wenn wir diese Blumen anschauen?

(Das folgende Frage-und-Antwortspiel zwischen Agetsu und den Anwesenden wird hier in einer Zusammenfassung wiedergegeben.)

Namen, Farbe, Form

Namen
Wir nennen diese Wesen «Blumen» und «Osterglocken»! In anderen Sprachen heissen sie z.B. Narzissen, Daffodils, Jonquilles. Der Name ist also auswechselbar. Wir haben ihn einst gesagt bekommen und memoriert.

Worte und Namen sagen nichts aus über die Natur der Dinge und Lebewesen.
Lassen wir sie also ausser Acht. Was sehen wir?

Farben
Als nächstes sprechen wir von den Farben Gelb und Grün. Es könnte allerdings sein, dass jemand von euch sagt, diese Blumen seien gräulich oder blau. Dann würden wir sagen: Ach, du bist farbenblind.

Das Sehen von Farben ist also abhängig von der Beschaffenheit und Funktionsweise der Sehorgane. Die Farben, die wir sehen, sind nicht in den Blumen und Blättern. Sie entstehen in einem Prozess unserer menschlichen Wahrnehmung.

Das Licht, das von der Oberfläche dieser Wesen reflektiert wird, wird zuerst in der Retina nach Wellenlängen sortiert und dann in mehreren Schritten im Gehirn analysiert. Zuletzt wird der visuelle Sinneseindruck von unserem unterscheidenden Bewusstsein als «Farbe» abgestempelt und benannt.

Die Natur der Blumen und Blätter ist weder gelb noch grün. Lassen wir die Farben also auch ausser Acht.

Was bleibt? Was ist das, was da vor uns steht?

Form
Nennt man es nun einfach «eine Form», ist damit nichts gewonnen.

Formen sind, wie Namen und Farbe, Erscheinungen, die abhängig sind von der Beschaffenheit und Funktionsweise unserer Sinnesorgane.

Dies lässt sich leicht beweisen, man muss bloss einmal jemanden fragen, der eine funktionelle Sehstörung hat, um festzustellen, dass ein Gegenstand in allen möglichen Formen gesehen werden kann. Unter dem Einfluss einer psychedelischen Droge kann es sein, dass sie überhaupt verschwinden.

Unsere gewohnte Welt der Formen und Namen (Skr..Namarūpā) ist also nicht so stabil und wirklich, wie wir meinen.

Willkürliche Projektionen

Wir merken, es wird immer schwieriger, eine klare Aussage über das Wesen dieser Blumen zu machen. Man mag noch so viele Worte benutzen und Beschreibungen anstellen, man haftet immer bloss an der äusseren Erscheinung. Dies gilt für sämtliche Objekte unserer Wahrnehmung: Das Wort ist nie die Sache selbst.

Als Ausweg sucht man das Wesen nun vielleicht von «innen», im Gefühl, das man hat, wenn man die Blumen betrachtet.

Schön-hässlich, angenehm-unangenehm, wertvoll-wertlos, leben-sterben …
Man nennt die Blumen schön oder leuchtend. Und wenn sie verblüht sind, dann sind sie nicht mehr schön, nicht wahr? Solange sie schön sind, freuen wir uns daran, und wenn sie hässlich sind, dann werfen wir sie weg. Sie sind nichts mehr wert.

Meinung

Vielleicht fühlt man Mitleid, weil die Blumen abgeschnitten wurden und nicht mehr draussen im Freien leben. Man fällt ein emotionales Urteil.

Sagt die Blume wohl: «O weh, ich wurde abgeschnitten, man hat mir Unrecht getan?» – In Wirklichkeit kann man beobachten, dass viele Schnittblumen im Wasser einer Vase weiter wachsen und nicht länger oder kürzer blühen, als diejenigen auf dem Feld.

Umgekehrt könnte man auch sagen: Diese Blumen sind «heilig»; sie sind dazu auserwählt, den Buddha-Altar zu schmücken und unser Gemüt zu erfreuen.

Doch wenn diese Blumen «heilig» sind, weil wir sie als solche betrachten, was ist dann mit den unzähligen Blumen, die in den Wiesen, auf den Bergen, im Wald oder sonstwo blühen , ohne dass ein menschliches Auge sie je sieht, geschweige denn bemerkt? – Denken Sie wohl: «O weh, kein Mensch beachtet mich, niemand anerkennt und respektiert mich, mein Leben hat keinen Zweck und keinen Sinn?»

Liebe und Hass
Ein anderes Merkmal dieser Blumen ist ihr Duft. Einigen ist er angenehm – aah; anderen ist er unangenehm – pfui. Liebe und Hass, Zuneigung und Ablehnung gehen angeblich durch den Magen, aber vorher gehen sie durch die Nase.

Aber auch der Duft ist nicht in der Blume!

Apropos Nase:

Die Nase ist ein sehr interessantes Sinnesorgan. Das Riechen verbindet uns mehr emotional als rational mit den subtilen Botschaften der feinstofflichen Welt. Düfte bringen oft tief verborgene Erinnerungen ins Bewusstsein oder lösen starke Gefühlsreaktionen aus.

Wenn man jemanden «nicht riechen kann», hat das in der Regel nichts mit dessen Körperausdünstung zu tun. Dieses Riechen manifestiert eine seelische Verbindung, eine zwischenmenschliche Beziehung, welche in diesem Fall nicht sehr harmonisch ist, nicht wahr?

Und wenn man gesagt bekommt: «Gehe einfach deiner Nase nach», ist das nur selten wörtlich gemeint. Man kann ja gar nicht anders gehen, als in die Richtung, in der die Nase zeigt.

Diese Redewendung verweist auf die Nase als ein Organ der Intuition. Intuition ist eine Art Spürsinn, ein «Bauchgefühl», das unter Umgehung des logischen Denkprozesses direkt und unmittelbar «weiss» und «sagt», was in einem gegebenen Moment ist, was getan oder nicht getan werden sollte, was richtig ist und was nicht.

Intuition

Der Begriff Intuition stammt aus dem Latein, intuitio, und bedeutet: durch Schauen erworbene Kenntnis. Intuērī heisst: genau auf etwas hinsehen, etwas geistig betrachten.

Die geistige Fähigkeit, etwas durch wortloses Schauen direkt zu sehen, ist das Tor zur Meditation und wahren Erkenntnis. Dieses Schauen geschieht nicht mit den zwei Augen, mit denen man nur die Oberfläche der Dinge sieht. Körper, Herz und Geist sind als Ganzes gesammelt und wach. Nur das denkende Ich ist hier nicht gefragt, es muss für einmal schweigen.

Dieses einheitliche Schauen – ohne Kommentar, ohne Urteil, ohne Benennung – ist auch der Schlüssel zur Beantwortung der Fragen: «Wie kannst du deine Buddha-Natur erkennen, wenn du eine Blume siehst?» und: «Was hat Mahakashyapa gesehen, als er den Buddha mit der Blume in der Hand anschaute?» Wir können noch hinzufügen: Was hat der Buddha gesehen, als er Mahakashyapa sah?

Es nützt allerdings nichts, wenn man eine solche Erklärung einfach hinnimmt, man muss es selber tun, selber erfahren.

Die Buddha-Natur sehen

Am Anfang denken viele, man müsse sich in der Meditation anstrengen, um die mysteriöse Buddha-Natur oder das unbekannte Sosein irgendwie «auszugraben» oder zu erzeugen.
Dem ist nicht so. Man kann die Wirklichkeit direkt sehen, ohne den Verstand zu bemühen.

Lasst einfach alles bisher Gesagte, alle Ideen und Vorstellungen über diese Blumen, fallen. Wendet eure Aufmerksamkeit auf das, was da vor euren Augen steht, so wie es ist. Lasst euch mit Haut und Haar und Knochen auf dieses Betrachten ein. Lasst euren Körper und Geist der grosse Raum sein, in dessen Mitte der Blumenstrauss steht und atmet alles ein und aus. Kümmert euch um nichts anderes. Betrachtet bloss die Blumen im Raum.

Manche von euch haben es schon erlebt und viele Meditierende haben es bezeugt: Nach einer Weile ist die Trennung zwischen «mir und dem Anderen» auf einmal weg. Das, was man betrachtet, ist kein Gegenstand mehr. Statt Trennung besteht eine Beziehung. Beziehung bedeutet auch «Verbindung», «Kontakt», «innerer Zusammenhang», «Einssein».

In diesem uneingeschränkten Betrachten ist das Gehirn vollkommen still und der Geist ist absolut passiv. Es besteht nur waches Gewahrsein von dem, was ist.

Es ist keine Verschmelzung, keine Auflösung; ich, der Mensch, und die Blumen bleiben, was sie sind. Aber es gibt keine Trennung mehr; im reinen Sein, dem sogenannten Sosein, sind wir alle gleich.

Die eine Sonne scheint auf alle Lebewesen gleich, wir trinken dasselbe Wasser, ernähren uns von derselben Erde, wir sehen denselben Mond. Und, was das Allerwichtigste ist, wir werden vom einen Bewusstsein, von der einen Natur, belebt. Dieses eine, ursprüngliche Bewusstsein verhilft jedem Lebewesen, im Wasser, auf der Erde und in der Luft, seinen Weg in seiner Lebenswelt zu finden und zu gehen.

Lebensfreude

Man empfindet in der Tat eine grosse Freude, wenn man mit allen Geschöpfen in lebendiger Beziehung steht. Echte Lebensfreude ist ohne Ich, ohne Besitznahme, ohne Grund – sie existiert aus sich selbst heraus. Es ist die Freude, das Glück, der Buddha-Natur.

Nun ist es nicht mehr mein Leben, mein Körper, mein dies und das! Nur noch allumfassendes, grenzenloses SEIN, allumfassende universale Gemeinschaft. Und ich, der Mensch, habe das grosse Glück, dieses Eine zu erkennen, zu erleben und zu sein.

Standhaftigkeit

Wer inmitten des Seins verankert ist – in Gemeinschaft mit allen anderen Lebewesen –, wird selbst in schwierigen Lebensumständen nicht untergehen.

Ein Beispiel dafür gibt ein kleines Sutra, namens Ogha-tarana Sutra. (Sutra vom Überqueren des Flusses)

So habe ich gehört: Einmal weilte der Buddha in der Nähe von Savatthi im Jeta-Hain, dem Kloster von Anathapindika, als er von einer Göttin (Deva) gefragt wurde: «Sagt mir, Erhabener, wie hast du den reissenden Fluss überquert?» (Der Fluss steht für Samsara, die vergängliche, leidvolle Welt.)

Der Buddha antwortete: «Ich bin über die Flut gekommen, ohne vorwärts zu drängen und ohne stehen zu bleiben.»
«Aber wie, von aller Welt Verehrter, bist du über die Flut gekommen, ohne vorwärts zu drängen und ohne stehen zu bleiben?»
«Als ich mich vorwärts bewegen wollte, wurde ich herumgewirbelt. Als ich stehen blieb, sank ich. Und so überquerte ich die Flut, ohne mich vorwärts zu bewegen, ohne stehen zu bleiben.»

Übersetzt mit DeepL

So mitten im Lebensfluss stehend, ist die Mitte kein Ort, keine Substanz. Es ist reine Präsenz. Tritt man aus dieser Mitte heraus in die Hülle des Ichs mit seiner Vergangenheit oder Gegenwart, verliert man das Gleichgewicht und wird von den Wellen mitgerissen.

Fazit

Blumen, Bäume, Tiere – alle Geschöpfe der Natur – ruhen ganz in sich selbst. Sie haben keine Worte, keine Zweifel, keine Sorgen um Gewinn und Verlust, Leben und Tod und alles andere, mit dem wir Menschen unser Dasein belasten. Sie leben ihr Leben so, wie es ist, weder vorwärts drängend noch stehen bleibend. Das ist ihre Urnatur.

Sie können uns dies nicht sagen oder erklären, aber dank unserer intuitiven Erkenntniskraft (Prajna) können wir erkennen, dass dies auch unsere Urnatur ist.

Noch einen Schritt weiter

Die intuitive Erkenntniskraft, mit der wir Menschen geboren werden, erlaubt es uns, noch einen Schritt weiterzugehen. Wenn man nicht bei der Betrachtung der Objekte der Aussenwelt stehen bleibt, sondern das eigene Bewusstsein genau untersucht, wird man früher oder später erkennen, dass selbst die Buddha-Natur vollkommen leer ist – leer von jeglichen Eigenschaften und Attributen. Es gibt keinen Buddha in der Buddha-Natur.

Dies ist die Wahrheit der Geschichte vom Buddha – Blume – Mahakashyapa.

Ich bin weder Verstand noch Intellekt noch Ego noch die Spiegelungen des inneren Selbst.
Ich bin nicht die fünf Sinne, sondern jenseits von ihnen.
Ich bin weder der Äther noch die Erde noch die fünf Elemente.
Ich bin wahrhaftig ewiges Wissen und Glückseligkeit, Liebe und reines Bewusstsein …

Aus: Adi Shankara: Nirvana Atma Shatkam

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