Bewusstsein

Bewusstsein – “Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!” (J.W. Goethe) Was ist das Gute, das so nahe ist? Wir alle werden damit geboren. Wir haben Wörter dafür geprägt wie Bewusstsein oder Geist. Es ist nicht das Denken, aber das Denkvermögen basiert darauf. Die Art und Weise, wie wir leben und handeln spiegelt in jedem Augenblick den Zustand unseres momentanen Bewusstseins wieder.

Diese Nummer von Dhyāna handelt von den Möglichkeiten, mit denen wir Menschen mit diesem uns von der Natur verliehenen Gut des Bewusstseins in Kontakt treten und sein Licht als Lebenshilfe nutzen können. Denn wer dieses Licht in sich selbst nicht kennt, läuft Gefahr, sich selbst als Opfer des Schicksals zu sehen und ganz falsche Schlüsse aus seinen Erfahrungen zu ziehen.

Das Bewusstsein als Kraft ist ein bearbeiteter Zen-Vortrag, den Henry B. Platov im Jahre 1987 in Zürich gehalten hat. Wie immer in seinen Vorträgen griff H. Platov auf seinen grossen Erfahrungsschatz und Fundus an Wissen zurück, um am Beispiel der Zen-Überlieferung den Blick der Zuhörer für die Wirklichkeit zu schärfen.

Das Diamant-Bewusstsein ist eine Leseprobe aus dem lang angekündigten und demnächst endlich erscheinenden Buch mit dem Titel Das andere Ufer ist hier. Sein Inhalt besteht aus einer Auswahl aus den Kommentaren, die der Zen-Meister Sokei-an zum Sutra des Sechsten Patriarchen gegeben hatte. Einige Leser und Leserinnen erinnern sich vielleicht an das Buch Der 6. Patriarch kommt nach Manhattan (publiziert 1988) oder sind im Besitz davon. Leider ist dieses Buch, das Sokei-ans Übersetzung und Kommentare des ganzen Sutras enthält, seit vielen Jahren vergriffen und konnte nicht in der gleichen Form neu veröffentlicht werden. Deshalb werden Teile davon im Rahmen der Schriftenreihe Der springende Punkt – eine kleine Zen-Bibliothek weitergegeben. Das andere Ufer ist hier ist der sechste Band dieser Reihe.

Sokei-ans Darlegungen enthalten zahlreiche praktische Hinweise zur Selbsterforschung, zeigen aber auch zahlreiche Fallen und Tücken der Selbsttäuschung auf und geben viele Beispiele aus seinem eigenen Ringen um Erkenntnis und dem grossen Spektrum seiner weit über das Individuelle hinausgehenden Sicht.

So geht es nicht ist ein Dialog zwischen einem Fragenden und J. Krishnamurti, in dem es um das Verlangen nach Erleuchtung geht. Krishnamurti macht darin deutlich, dass jedes Suchen danach zwangsläufig scheitern muss, was aber nicht heisst, dass man „stumpf und passiv werden soll.“ Der klare Geist entfaltet sein Licht in der Stille der Meditation, wo es keine Erwartung und kein Suchen mehr gibt.

Diesen drei Artikel ist gemeinsam, dass sie auf drei Menschen zurückgehen, die einen Blick getan haben in die Wirklichkeit und dann mit grosser Ernsthaftigkeit und Ausdauer ihren Geist erforschten. Sie kamen aus drei verschiedenen Kulturen, doch das, was sie erfuhren – jeder auf seine Art – ist nicht verschieden. Verschieden sind nur die Worte, mit denen sie darüber sprachen – jeder auf seine Art, in seinem eigenen Stil.

Wir sollten uns nicht an ihre Worte heften, nicht ihren Fussstapfen zu folgen versuchen, denn die Erfahrung der Wirklichkeit ist für jeden Menschen einzigartig. Jeder muss und kann es nur für sich allein erfahren, in der Stille, in der es nichts zu vergleichen gibt. – Jeder auf seine Art. Die Worte der Vorgänger können jedoch grosse Inspiration und Wegweiser sein. Wenn wir wissen, dass es möglich ist, in diesem Leben die Wand von Erwartungen und Meinungen zu durchbrechen und die Wirklichkeit zu sehen, warum sollte dies dann nicht auch uns selbst möglich sein?

Das Bewusstsein als Kraft

Der Buddhismus hat sehr grundsätzliche Charakterzüge und diese Charakterzüge kommen in verschiedenen Schulen oder Zweigen des Buddhismus zum Ausdruck. Diese entwickelten sich über lange Zeit aus der Fülle von Buddhas Lehre und sind gekennzeichnet durch verschiedene Betonungen oder Schwerpunkte. In der Zen-Schule liegt die Betonung auf der Meditation. Das Wort Zen kommt aus dem chinesischen Cha’n oder Cha’nna und dieses kommt aus dem Sanskritwort Dhyāna. Dhyāna bedeutet Meditation. Zen ist also derjenige Zweig des Buddhismus, der grundsätzlich auf der Meditation basiert.

Der Charakter der Zen-Meditation kommt sehr schön zum Ausdruck in der Darstellung von Bodhidharma. Bodhidharma ist der legendäre Mönch, der die Meditationsschule des Buddhismus von Indien nach China brachte. Angeregt durch ihn entwickelte sich auf dem Boden Chinas und im Rahmen des Taoismus das, was man später Zen nannte. Daher ist Zen sozusagen ein Kind vom Vater Buddhismus und von der Mutter Taoismus. Aber das, was heutzutage alles unter Zen läuft, ist nicht die Originalform.

Dargestellt wird Bodhidharma mit weit geöffneten Augen. Mit diesen weit offenen Augen starrt er hinaus in die Welt. Die Überlieferung besagt, dass Bodhidharma einfach gekommen sei und in grosser Stille einer Felswand zugekehrt gesessen habe. Er habe nichts gelehrt und keine Worte über Meditation verloren. Er philosophierte und psychologisierte also nicht. Er setzte sich einfach vor eine kahle Felswand und starrte diese an, Tag und Nacht. So erzählt man das.

Was Bodhidharma tat, war das, was man im indischen Ausdruck „Samjana“ nennt („sam“ bedeutet eins, „jana“ bedeutet Bewusstsein): Er entleerte sein Bewusstsein von allen Inhalten und wurde eins mit der Felswand. Natürlich hat er keine Gedankenformen auf diese Felswand projiziert, keine Empfindungen, keine Vorstellungen; da war nichts zwischen seiner Wahrnehmung und der Wand. Auf diese Weise zeigte er, was Zen ist. Er sagte nichts von Chakra-Meditation, nichts von Kundalini-Meditation oder allen anderen Formen von Meditation; er zeigte einfach das leere Bewusstsein, das eins ist mit dem, was es wahrnimmt.

In den meisten anderen Schulen oder Zweigen des Buddhismus zeigt man das Wesen der Meditation anhand der Gestalt von Buddha, der mit halbgeschlossenen Augen und einem leichten Lächeln im Lotossitz ruht. Er schaut nicht in die Welt hinein, seine Augen sind aber auch nicht geschlossen wie im Schlaf. Die halbgeschlossenen Augen deuten einen verinnerlichten Zustand an: Das Bewusstsein ist nach innen gerichtet. So wird der meditierende Buddha dargestellt.

In vielen tibetischen Mandalas sieht man den Buddha in der Mitte eines Kreises sitzen. Unterhalb dieses Kreises sind die sogenannten bösen Wesen dargestellt. Sie symbolisieren schlechte Geistesinhalte, teuflische Gedanken und schädliche Tendenzen wie Gier, Zorn usw. Es sind Dämonen und Halbgötter, welche die Region der Hölle bilden. Oberhalb des Kreises sind die Bodhisattvas und Heiligen dargestellt, jeder hat einen Heiligenschein. Sie symbolisieren das Gute.

So haben wir Irdische und das Himmlische, aber der Buddha sitzt mitten drin. Er hat keinen Heiligenschein, ist aber auch nicht den teuflischen Kräften ausgesetzt. In diesem verinnerlichten Zustand ist sein Bewusstsein gross und weit, aber von allen geistigen Inhalten losgelöst. Die Sinneseindrücke erreichen seinen gesammelten Geist nicht. Die gelöste Körperhaltung sowie der Gesichtsausdruck zeigen, wie schön dieser Zustand ist.

Manchmal vergleicht man das Bewusstsein entsprechend dem Taoismus mit Wasser. Wasser hat einen flüssigen Zustand kann, aber auch zu Gas verdampfen oder sich zu Eis verfestigen. Analoge Zustände kennt man auch in der Zen-Meditation. Manchmal ist das Bewusstsein sehr flüssig und fliesst in diese und jene Gedanken- oder Gefühlswelt hinein. Das kennt man doch, nicht wahr? Oder es dehnt sich wie Gas im unendlichen Raum aus; dann herrscht ein Gefühl der Ausdehnung in eine Unendlichkeit. Manchmal ist es hart wie Eis oder wie ein Stein, vollkommen gesammelt, fest und bewegungslos. Dies sind drei Zustände des Bewusstseins, die man in der Meditation erfahren kann.

Hakuin Zenshi, der grosse japanische Zen-Meister, sagt in seinem Lied von der Meditation die Beziehung zwischen dem Zustand eines Buddhas und dem eines Menschen sei wie Wasser und Eis. Vom dritten, dampfartigen Zustand spricht er nicht. Er sagt, der Mensch stehe bis zum Hals im Wasser und schreie, wie durstig er sei. Damit ist gesagt, dass unser kopflastiges Denken uns daran hindert, uns ganz und gar mit dem natürlichen Bewusstsein zu verbinden, in dem wir bereits leben.

Wir sollten den Kopf nicht nur so über Wasser halten und uns beklagen, wie durstig wir sind, wir sollten in dieses Wasser eintauchen und davon trinken. Dieses völlige Eintauchen nennt Hakuin Zenshi „das Samādhi des klaren Himmels“. Samādhi ist ein anderes Wort für den ungeteilten, einheitlichen Bewusstseinszustand.

So wie dem Wasser eine grosse Kraft innewohnt, die alles belebt, so wird im Taoismus und im Zen auch das Bewusstsein als universale Kraft verstanden. Man spricht dann vom „Vitalgeist“, was eine Übersetzung ist aus den Begriffen „Chi“ oder „Ki“, wie z.B. in Tai-chi oder Ai-ki-do. Der Vitalgeist kann wie in einem Behälter gesammelt und bewahrt werden. Die Sitzmeditation (Zazen) ist eine Form dieser Sammlung. Man lässt die Kraft des Bewusstseins nicht in die Sinnesorgane, das Denken, Empfinden usw. fliessen. Man geht sozusagen weg von allem Denken, Sehen, Hören, Empfinden, Riechen und Schmecken und sieht davon ab, sich um das zu kümmern, was in den Sinnesorganen vorsichgeht.

Der taoistische Ausdruck dafür ist: „Schliesse deine Sinnespforten und bewahre den Vitalgeist.“ Der Körper ist sozusagen der Behälter, in dem das Bewusstsein gesammelt und bewahrt bleibt. In der Sprache der Erkenntnistheorie ausgedrückt: Man lässt nicht zu, dass sich das Bewusstsein modifiziert. Nicht modifizieren heisst, das Bewusstsein nicht in diese und jene Gedanken oder Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen, Erlebnisse zu verwandeln. Man hört damit auf. Man sammelt das Bewusstsein innen.

Doch das ist nur ein Aspekt der Zen-Meditation. Die innere Kraft, die sich durch Zazen entwickelt, bleibt nicht bloss in der ruhigen Verinnerlichung bewahrt, sie kommt auch nach aussen zur Anwendung. Während die Gestalt des sitzenden Buddhas die Verinnerlichung zeigt, zeigt die Gestalt von Bodhidharma die nach aussen gerichtete Bewusstseinskraft.

Nach der Sammlung richtet man sie auf ein Tun, auf diese und jene Gedanken oder diese oder jene Empfindung, dieses oder jenes Gefühl, dieses oder jenes Geräusch, diesen oder jenen Gegenstand usw. Es kann auch die Betrachtung einer Problemstellung sein, wie sie in den sogenannten Koans der Rinzai-Zen-Schule zur Anwendung kommt. Das ist dann nicht das übliche Verschwenden der Energie an alle mögliche Denkerei, an alle möglichen Geräusche, die man hört, alle möglichen Dinge, die man da sieht und sich gewissermassen darin verliert. Bodhidharmas starrer Blick ist ein Ausdruck dieser gesammelten von innen nach aussen gerichteten Kraft.

Um ein anderes Sinnbild zu benutzen: Das Bewusstsein ist wie eine Quelle aus konzentriertem Licht. Das natürliche Licht dehnt sich im Raum nach allen Seiten aus, aber es kann, wie man es in der Physik macht, auch gebündelt werden. Licht kann auf einen Punkt konzentriert, gebündelt oder frei im Raum ausgedehnt wahrgenommen werden. Ebenso ist es mit dem Bewusstsein. Da ist eine Quelle (legt Hand auf den Bauch) von gesammeltem Licht und von hier gibt es eine Ausdehnung.

Man hat dann die Empfindung einer unbegrenzten Räumlichkeit. Kein Raum, der begrenzt ist durch vier Wände, sondern der reine grenzenlose Bewusstseinsraum. Dann bündelt man dieses Bewusstsein und konzentriert es auf eine Sache, sagen wir mal auf ein Wort oder auf einen Klang oder auf eine Farbe oder auf eine Form und so weiter. Das ist übrigens – weil ich schon dabei bin – auch eine Form von Yoga. In der Form, die sich Kriyā-Yoga nennt, übt man genau dies: eine Handlung mit vollkommener Aufmerksamkeit und gesammelter Kraft zu vollziehen.

In der ursprünglichen Zen-Meditation sitzt man nicht mit geschlossenen Augen. Man wird sonst sehr leicht in alle möglichen subjektiven Erscheinungen verwickelt oder verfällt gar in einen Traumzustand. Das muss man wissen und sich davor hüten. Man sitzt mit halb geöffneten Augen, schaut aber nirgends hin. Man wirft den Blick sozusagen vor sich hin, eventuell leicht seitlich von der Mittelachse. Doch ab und zu sitzt man auch mit weit geöffneten Augen wie Bodhidharma – so (macht es vor) – und wendet das Bewusstsein von innen nach aussen. Von innen bedeutet hier (zeigt auf den Bauch), im Hara.

Man richtet die Aufmerksamkeit von Anja, diesem Bewusstseinszentrum auf der Stirn, auch das Dritte Auge genannt, auf das Zentrum im Hara, der Leibesmitte. Dieses wird dann eine Stütze für das aufrechte wache Bewusstsein, so wie dieser Tisch eine Stütze ist, auf die man etwas legen kann. Zuerst also die Konzentration von hier (Anja) nach hier (Hara), wie es bei Buddha gezeigt wird, mit einer ruhigen gelassenen Festigkeit. Man lässt die Kraft eine gewisse Zeit dort gesammelt und danach lässt man sie sich frei im Raum ausdehnen. Die Stütze der Mitte bleibt dabei erhalten. So vermeidet man das Verzetteln des Bewusstseins und bleibt auch in der Aktivität gesammelt.

Es ist wie bei einer altmodischen Waage, einer Apothekerwaage zum Beispiel. Da sind die zwei Schalen, die im vollkommenen Ruhezustand im Gleichgewicht sind. Das Eintauchen in den verinnerlichten Meditationszustand und das Auftauchen in die Aktivität sind wie die beiden Schalen. Sie drehen sich um den einen Stützpunkt wie bei der Waage. Der Stützpunkt selbst bewegt sich nicht, der geht nicht auf und ab, der ist einfach da. Im natürlichen Zustand des Bewusstseins ist alles im Gleichgewicht. Da gibt es keine Trennung von innen und aussen, aktiv und passiv. Diesen Stützpunkt in sich zu finden nennt man im Zen „Kensho“, wörtl. „Sicht in das eigene Urwesen“.

Manche Leute meinen, die Hauptsache von Zen sei das sogenannte Satori (Erleuchtung) und schreien andauernd nach Satori, Satori. Mit diesem Gequassel und Geschreibsel von Satori sollte man aufhören, das ist nichts als Vorstellung. Aber Kensho ist etwas anderes; diesen Stützpunkt soll man finden. Auf dem Gleichgewicht von Eintauchen ins unterschiedslose Samādhi und Auftauchen in die fassbare Aktualität beruht die ganze Meditation. Da gibt es keine Unterscheidung von innen und aussen, aktiv und passiv. Dieses Gleichgewicht zwischen Bewegung und Nicht-Bewegung, innen und aussen, ist der Drehpunkt des Zen.

Taoistisch ausgedrückt ist der passive Zustand der Yin-Zustand und der aktive Zustand der Yang-Zustand. Beide sollen in Balance sein, in einem guten Gleichgewicht. Das ist dann der Fall, wenn Meditation alle Tätigkeiten und alle Zustände des Lebens umfasst. Deshalb sagt man im Zen: Wenn du schläfst, dann schlafe, wenn du arbeitest, dann arbeite, und wenn du Vergnügen hast, dann habe Vergnügen, wenn du tanzt, dann tanze.

Wir sehen dies auch in den sogenannten Kriegskünsten wie Judo, Jiu-jitsu, Kendo oder Aikido, welche alle auf dem Prinzip des Zen aufbauen. Angeblich war es Bodhidharma, der in seinem Kloster Shaolin die Selbstverteidigungskunst Kung-fu einführte. Er lehrte, wie man sich gegen Angriffe böser Kräfte ohne irgendwelche Waffen verteidigen kann, indem man selbst zur Waffe wird. Aus dem Kung-fu entstand die japanische Form Karate. „Kara-te“ heisst auf Deutsch „leere Hand“. So konnten sich die Mönche ohne Schwert, ohne Revolver oder eine andere Waffe, allein durch ihr gesammeltes Bewusstsein gegen feindliche Angriffe wehren.

Dasselbe Prinzip der nach aussen angewandten inneren Kraft gilt auch für die Kalligraphie und Tuschmalerei und für das Schmieden der Samurai-Schwerter. All dies sind Anwendungen des Zen.

Die Bedeutung von Kung-fu oder Karate als sportliche Selbstverteidigung ist heute allgemein bekannt, was man weniger kennt, ist ihre innere Bedeutung, nämlich die Kunst, sich mit Hilfe der Bewusstseinskraft den inneren Feinden zu stellen. Alle diese Wesen, diese teuflischen Kreaturen, die das menschlichen Bewusstsein an sich reissen, sind solche Feinde, nicht wahr? (Dr. Platov lächelt.)

Das innere Kraftspiel ist auch das Thema der Bhagavad-Gita. Das ist eine Erzählung, in der der Gott Krishna in der Gestalt eines Wagenlenkers den Krieger Arjuna, das heisst die menschliche Seele, darin unterrichtet, wie er gegen seine Feinde kämpfen soll. Die Bhagavad-Gita ist ein Abschnitt aus dem grossen indischen Epos Mahabarata und gleichzeitig eine Anwendung der Meditation, wobei es darum geht, die äusseren Feinde als innere Feinde zu erkennen, sich ihnen zu stellen und sie durch Einsicht und nicht durch Gewalt zu besiegen.

Zen hat also diese zwei Aspekte. Einerseits das Sammeln und Kondensieren des Bewusstseins und dann die Ausdehnung und Ausrichtung auf eine Sache hin.

Seht eine Hausfrau oder einen Bäcker. Sie sammeln das Mehl, die Milch und das Wasser und kneten daraus einen Teig. Und dann nehmen sie diesen Teig und machen daraus, was sie machen wollen: Semmeln oder Brotlaibe oder Figuren. Dann werden diese Formen gebacken, gegessen und nähren den Körper. Das ist ungefähr so, wie wenn man das Bewusstsein wie einen Teig knetet, also kondensiert, und dann in eine bestimmte Form bringt. Das wäre ein Beispiel, wie man als Mensch das eigene Bewusstsein nutzen kann.

Das Wort Bewusstsein bedeutet in der deutschen Sprache „bewusstes Sein“. Also nicht ein unbewusstes, dahin träumendes Sein, sondern ein aktives, lebendiges Dasein in dieser Welt. Das ist das Wesen der Wirklichkeit.

Henry B. Platov

Das Diamant-Bewusstsein

An dieser Stelle des Sutras des Sechsten Patriarchen spricht Hui-neng von der alles durchdringenden Schärfe der Klarsicht, die sich nur einstellen kann, wenn der Geist völlig leer von Ideen und Vorstellungen ist. Er nimmt dabei Bezug auf einen Text, der schon zu seiner Zeit unter dem Titel Diamant-Sutra bekannt und weit verbreitet war. Er sagte:

“Meine gelehrten Freunde, wenn ihr das tiefe Mysterium der Wirklichkeit und der Meditation verstehen wollt, sollt ihr das Diamant-Sutra rezitieren und studieren. Dies befähigt euch, euer geistiges Auge zu öffnen und eure Geistessenz zu realisieren. Ihr müsst wissen, dass die positiven Auswirkung, die das Studium dieses Sutras mit sich bringt, unermesslich und grenzenlos ist.“

Sokei-ans Kommentar: Das Diamant-Sutra (Vajraprajñāpāramitā-Sūtra) ist eine Lehrrede Buddhas und handelt vom absolut klaren Bewusstsein, dem sogenannten Diamant-Bewusstsein. Hui-neng war durch einen Satz aus diesem Sutra zur plötzlichen Klarsicht gelangt. Wohl deshalb vertrat er die Meinung, das Studium und die Rezitation des Diamant-Sutras bringe unendlichen Segen.

Zu sagen, das Sutra lasse einen das „tiefe Mysterium“ der Wirklichkeit verstehen, ist allerdings irreführend. Denn damit wird die Vorstellung geweckt, die Wahrheit sei irgendwo tief verborgen, geheimnisvoll und unzugänglich. Es gibt nichts dergleichen. Das tiefste Mysterium befindet sich hier auf dem Teppich. Und mit der Aufforderung, das Diamant-Sutra zu rezitieren, könnte der Sechste Patriarch sogar noch grössere Verwirrung stiften.

Um Gottes Willen, warum würde jemand dauernd das Diamant-Sutra rezitieren wollen? Es gibt viele Leute, die meinen, das Rezitieren von Sutren und anderen Texten mache den echten Buddhismus aus. Das ist ein grosser Irrtum. Wenn man eine solche formelle Religion propagiert, wird sie früher oder später abgelehnt werden. Das Diamant-Sutra kann unendlichen Segen bringen, aber nur, wenn man seine Bedeutung verdaut hat, und sicher nicht, weil man es rezitiert.

Eigentlich geht es aber gar nicht um das Diamant-Sutra, das auf Papier geschrieben steht. Es geht nicht um das Studium der gedruckten Buchstaben, sondern um das lebendige Sutra in unseren Herzen. Die ganze Wahrheit, alles, was der Buddha darlegte, ist in unserem Herzen enthalten. Alle Menschen auf der Welt besitzen das lebendige Diamantschwert, mit dem sie ihre Täuschungen durchschneiden können. Doch wie liest man dieses lebendige Sutra? Indem man eine Brille aufsetzt und das Licht anzündet?

Das lebendige Sutra kann nur durch Meditation erfasst werden. Das ist tatsächlich so. Man kann den Geist nicht von aussen öffnen. Man muss nach innen gehen, um die Wirkungsweise dieses ewigen Diamant-Bewusstseins zu erfassen. Es kann nicht in der Aussenwelt gefunden werden, weil es uns angeboren ist. Es ist nicht nötig, es zu aktivieren. Es ist unsere Urnatur. Diese wirkt in jeder unserer Handlungen – beim Niesen, beim Sich-am-Kopf-kratzen usw. – ohne dass man sich dessen dauernd bewusst ist. Sie lässt sich aber ohne Weiteres beobachten, denn sie ist eine ganz natürliche Sache.

Um Weisheit zu erforschen, nutzt Weisheit! Erforscht euch selbst durch Introspektion und Kontemplation! Ihr könnt alleine eine gute Analyse machen, ganz ohne erklärende Worte eines anderen. Ihr braucht kein Messer, um am Gehirn zu operieren – fühlt die Wirklichkeit einfach unmittelbar. Philosophie ist völlig nutzlos, um echte Weisheit zu finden.

Im Zen macht man sich von keinem Sutra abhängig. Unser Sutra ist dieser lebendige Geist, dieser lebendige Körper. Ohne diesen Körper gibt es kein Sutra. Aber statt sich auf den eigenen erleuchteten Geist zu verlassen, macht man sich abhängig vom Buddhismus, von Gebeten, von Wissenschaften, von der Philosophie oder von Christus. Man ist abhängig von Worten, Gedanken, Methoden, logischem Denken oder Symbolen. Man stützt sich wie ein alter Mann auf einen Stock, aus Angst zu fallen…

…Die meisten Menschen hegen die Vorstellung, ihre Natur sei a priori primitiv und bedürfe der Erziehung. Man müsse sie durch Askese und Disziplin auf immer höhere Stufen heben, bis sie schliesslich Gott ebenbürtig werde. Solche oder ähnliche Vorstellungen sind in der Menschheit weit verbreitet. Hui-neng aber sah spontan, dass die Urnatur von Anfang an vollkommen ist. Wer dies entdeckt hat, braucht weiter nichts zu tun. Wenn man alle Vorstellungen von Materie, Geist, Zeit, Raum, alle diese relativen Gedanken, die den Geist füllen, ausser Acht lässt – stösst man unmittelbar auf das ursprüngliche reine Bewusstsein.

Auszug aus dem Buch: Das andere Ufer ist hier Meister Sokei-an

So geht es nicht

Fragender: „Ich möchte mich gerne – ganz plötzlich – in einer vollkommen anderen Welt finden, äusserst intelligent, glücklich, mit einem grossen Gefühl der Liebe. Ich möchte am anderen Ufer sein, möchte nicht darum kämpfen müssen, um hinüber zu kommen und Experten nach dem Weg fragen. Ich habe viele Gegenden der Welt durchwandert und die menschlichen Bemühungen in diversen Lebensbereichen studiert. Nichts hat mich wirklich gelockt, ausser Religion.

Ich würde alles tun, um an das andere Ufer zu gelangen, in eine andere Dimension einzutreten und alles mit klaren Augen so zu sehen, als wäre es das erste Mal. Ich glaube fest daran, dass es einen plötzlichen Durchbruch geben muss aus all dieser Flatterhaftigkeit des Lebens. Es muss ihn geben!

Neulich war ich in Indien und hörte eine Tempelglocke läuten und das hatte eine merkwürdige Wirkung auf mich. Plötzlich erfasste mich die ausserordentliche Empfindung von Einssein und Schönheit, wie ich sie nie zuvor erlebt habe. Es geschah so plötzlich, dass ich etwas benommen war davon; es war echt, keine Fantasie, keine Illusion.

Dann kam ein Touristenführer und fragte, ob er mir die Tempelanlage zeigen soll und sofort war ich wieder zurück in der Welt von Lärm und Gewöhnlichkeit. Ich will das Gefühl wieder einfangen, aber natürlich ist es, wie Sie sagen, nur noch eine tote Erinnerung und deshalb wertlos. Was kann ich tun, oder nicht tun, um an das andere Ufer zu gelangen?“

Krishnamurti: „Es gibt keinen Weg ans andere Ufer. Es gibt keine Tat, kein Verhalten, kein Rezept, das die Türe öffnet zum anderen. Es ist kein Entwicklungsprozess; es ist nicht der Schluss einer Disziplin; es kann nicht gekauft, gegeben oder eingeladen werden. Wenn das vollkommen klar ist, wenn der denkende Geist sich selbst vergessen hat und nicht mehr sagt – das andere Ufer oder dieses Ufer – wenn der Geist aufgehört hat herumzutasten und zu suchen, wenn im Geist nichts als totale Leere und Raum ist – dann und nur dann ist es da.“

Fragender: Ich verstehe, was Ihre Worte sagen, aber ich kann nicht aufhören zu tasten und zu verlangen, denn tief in mir glaube ich nicht, dass es keinen Weg gibt, keine Disziplin, nichts, was ich tun kann, um an das andere Ufer zu gelangen.

Krishnamurti: Was meinen Sie mit ‚Ich glaube nicht, dass es keinen Weg gibt‛? Meinen Sie, ein Lehrer wird Sie bei der Hand nehmen und hinüber tragen?“

Fragender: Nein. Aber ich hoffe, dass jemand, der versteht, es mir direkt zeigen wird; denn es muss immer vorhanden sei, weil es wirklich ist.

Krishnamurti: Das ist mit Sicherheit alles Annahme. Sie hatten das plötzliche Gefühl von Wirklichkeit als Sie die Tempelglocke hörten, aber das ist, wie Sie sagen, eine Erinnerung, und daraus ziehen Sie einen Schluss, dass es immer da sein müsse, weil es wirklich sei. Wirklichkeit ist eine eigenartige Sache; sie ist da, wenn Sie nicht hinschauen; aber wenn Sie hinschauen, mit Begierde, dann ist das, was Sie einfangen, der Bodensatz Ihres Begehrens und nicht Wirklichkeit. Wirklichkeit ist etwas Lebendiges und kann nicht eingefangen werden, und man kann nicht sagen, sie sei immer da.

Einen Weg gibt es nur zu etwas, das stationär ist, zu einem fixen, statischen Punkt. Wie könnte es einen Führer oder einen Weg geben zu etwas, das lebt, das ständig in Bewegung ist, das keinen Ort der Ruhe hat? Der denkende Geist ist so begierig ,es zu erlangen, zu packen, dass er es zu einer toten Sache macht.

Also: können Sie die Erinnerung an den gehabten Zustand zur Seite legen? Können Sie den Lehrer, den Weg, das Ziel zur Seite legen – und zwar so vollständig zur Seite legen, dass Ihr Geist frei von allem Suchen ist? Zur Zeit ist Ihr Geist so beschäftigt mit diesem unbändigen Verlangen, dass er selber zum Hindernis wird. Sie sind voller Suchen, Fragen und Sehnsucht nach dem anderen Ufer. Das andere Ufer impliziert, dass es diese Ufer gibt, und um von diesem Ufer zum anderen zu gelangen, braucht es Raum und Zeit. Das ist es, was Sie im Griff hat und diesen Sehnsuchtschmerz nach dem anderen Ufer erzeugt.

Das ist das wirkliche Problem – Zeit, die unterteilt, Raum, der trennt; die Zeit, die es braucht um dorthin zu gelangen und der Raum, die Distanz, die zwischen diesem und jenem besteht. Dieses will jenes werden, und findet es unmöglich, wegen der Distanz und der Zeit, die es braucht, um die Distanz zu überwinden.

Da wird nicht nur verglichen, sondern auch gemessen, aber der Geist, der fähig ist zu messen, ist auch fähig, Illusionen zu haben. Raum und Zeit zu unterteilen, zwischen diesem und jenem zu unterscheiden, ist die Arbeitsweise des denkenden Geistes. Wissen Sie, dass dann, wenn Liebe vorhanden ist, Raum und Zeit verschwinden? Nur wenn Gedanken und Wünsche aufkommen, gibt es eine Kluft von Zeit zu überwinden. Wenn Sie dies sehen, ist es das, was es ist.

Fragender: Aber ich sehe es nicht. Ich fühle, dass Ihre Worte wahr sind, aber es entzieht sich mir.

Krishnamurti: Herr, Sie sind so ungeduldig, und eben diese Ungeduld ist in sich selbst aggressiv. Sie greifen an, Sie behaupten. Sie halten nicht still, um zu schauen, zu horchen, tief zu fühlen. Sie wollen um jeden Preis ans andere Ufer gelangen und schwimmen wie wahnsinnig, ohne zu wissen, wo das andere Ufer ist. Das andere Ufer könnte dieses Ufer sein und in diesem Fall schwimmen Sie davon weg. Darf ich Ihnen vorschlagen: Hören Sie auf zu schwimmen.

Das bedeutet nicht, dass Sie stumpf und passiv werden sollen, untätig dahin vegetieren; es bedeutet eher, dass Sie passiv gewahr sein sollten, ohne jede Vorliebe, ohne irgend ein Mass – und dann sehen, was geschieht. Vielleicht geschieht nichts; aber wenn Sie darauf warten, dass jene Glocke wieder läutet, wenn Sie dieses ganze Gefühle und Entzücken zurück erwarten, dann schwimmen Sie in die entgegengesetzte Richtung. Still zu sein erfordert grosse Energie, schwimmen verzettelt diese Energie. Sie brauchen Ihre ganze Energie für die Gedankenstille, und nur in der Leere, in der vollständigen Leere, kann etwas Neues sein.

J. Krishnamurti

Dhyāna: Winter 2008

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