AWH, Tagesretreat Dez. 24
Der Klang von Schnee – Heute möchte ich noch einmal auf Zen-Meister Hakuin zurückkommen, von dem schon im letzten Dharma-Vortrag die Rede war und mit dessen Zitaten der Kalender 2024 endete.
Wie damals erwähnt, galt Hakuin als ein sehr strenger Zen-Lehrer, der zu einer Zeit lebte, als die Zen-Praxis ziemlich kraftlos geworden war. Was heisst das, wenn es in einer Praxis kaum noch Leben gibt?
Stagnation
Ich glaube, die meisten von uns kennen das. Es gibt Phasen, in denen Zazen zu einer Art Pflichtübung geworden ist.
Man absolviert brav, was man sich einmal vorgenommen hat. Ein bis zwei Mal in der Woche, ein Mal im Monat oder vielleicht sogar jeden Tag. Aber eigentlich weiss man nicht so recht, warum man das tut. Man opfert der «Meditation» eine gewisse Zeit und schaut dabei auf die Uhr. Vielleicht hat man eine App, die einem sagt, wann diese Zeit um ist. Und während man vermeintlich «Zazen macht», ist man in Wirklichkeit in Gedanken, Probleme, Sorgen, Pläne usw. verwickelt. Wenn die Zeit um ist, steht man auf und lässt das Kissen und die Meditationsecke hinter sich. Die Probleme, Sorgen, Pläne usw. dürfen ungehindert weitergehen. Ausser Spesen nichts gewesen…
Oder man meint vielleicht, Zazen sei dafür da, um über die Probleme von sich und der Welt nachzudenken. Man spaziert mit den Gedanken in der Weltgeschichte herum und wird ganz konfus ob dem Chaos, das sich dort abspielt. Oder man tut das Gegenteil: Man versetzt sich in eine Art Trance und verliert sich in der Vorstellung einer heilen Welt voller Licht und Freude, die allerdings verblasst, sobald man wieder zu sich kommt.
Diese Art von Zazen ist nichts anderes, als das Schmoren im eigenen Saft. Dabei verändert sich nichts. Es dreht sich alles nur um das Stückchen Fleisch, das ich für mein Selbst halte und das in der Brühe schmort, die ich selber schaffe, um mir die eigene Welt schmackhaft und geniessbar zu machen.
Echtes Zazen
Das ist aber nicht die Meditationsform, die der Buddha praktizierte und auf der die echte Zen-Praxis aufbaut. Seine Meditation begann dort, wo die selbstzentrierten Gedanken aufhörten. Seine Aufmerksamkeit war ganz nach innen gerichtet. Der Fokus lag auf dem, was nicht Gedanke, nicht Erinnerung, nicht Zukunft war. Auf diese Weise entdeckte er die Weisheit seines wahren Selbst, das nichts anderes ist, als das reine Bewusstsein, das uns allen von Geburt aus innewohnt.
Der Leitsatz für diese Meditationsform und damit auch für das Zazen lautet:
Entleere deinen Geist und ruhe gelassen in der grossen Stille.
Die meisten von euch kennen die Geschichte von Bodhidharma, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Meditationsform Buddhas von Indien nach China zu bringen. Er soll bloss in einer kahlen Höhle gesessen und mit weit offenen Augen gegen die Felswand gestarrt haben. Auf diese Weise sammelte er seine Geisteskraft so, dass nichts zwischen ihn und die Felswand dringen konnte – keine Ablenkung von aussen und keine Ablenkung von innen. Mit anderen Worten: Bodhidharmas Geist und die Felswand waren eins – es gab kein Ich und Du, kein Innen und Aussen mehr.
Wer diesen Geisteszustand noch nie erlebt hat, denkt wahrscheinlich: Wozu soll das gut sein, an eine leere Wand zu starren?
Der innere Film
In der Verbindung mit der leeren, harten Felswand ist der Geist stabil und ebenfalls leer. Dann beleuchtet sein Licht die Wand – die nun nicht aussen und nicht innen ist – so, wie das Licht des Projektors einer Filmanlage eine Leinwand beleuchtet. Dadurch werden alle Gemütsbewegungen auf der Leinwand des Gewahrseins sichtbar.
Nun gilt es, sich nicht im Geschehen des Films zu verlieren. Dies ist nur möglich, wenn man sich völlig neutral verhält, im Wissen, dass man nicht nur Betrachter, sondern auch Autor der Filmvorführung ist. Aber nicht nur das, man ist die ganze Einrichtung selbst: Das Licht, der Projektor, der Film, die Leinwand, die Zuschauer und selbst der Raum, in dem der Film läuft. Wer dies realisiert, kann auch erkennen, dass von all diesen Bestandteilen nur das Licht nicht von einem selbst geschaffen ist.
Das Licht ist die transzendente, ichlose Quelle, die das ganze Universum – das innere und das äussere – sichtbar und erkennbar macht.
Auf diese Weise kann man das Wesen der Akteure auf der Leinwand erkennen. Was auch immer sich in unserem Gemüt abspielt und sich im Licht des stillen klaren Geistes zeigt: Es sind Vorstellungen, die wie unsere Nachtträume auftauchen und wieder verschwinden, sobald man sie zu fassen und festzuhalten versucht. Und genau so wie Nacht-, Alp- und andere Träume sehr wirklich zu sein scheinen, schmelzen sie dahin, sobald man die Augen öffnet.
Das innere Geisteslicht so zu bündeln, dass es den inneren Film klar und unverzerrt ins Gewahrsein stellt, und ihm seinen Gang zu lassen, ohne sich darin zu verwickeln, das ist rechtes Zazen, rechte Sitz-Meditation. Auch der zeitgenössischen indischen Meister Sadhguru hat einmal sehr klar und verständlich dargelegt, was Stille ist und was sie in unserem Leben bedeutet.
Wach auf!
Wie wohl viele von euch schon erfahren haben, ist es sehr schwer, sich selber aus einem Nachttraum aufzuwecken. Es braucht eine Art innere Kraft und den Willen dazu, dies zu tun.
Noch schwieriger ist es, uns selber aus den Tagträumen aufzuwecken, die Augen zu öffnen und die tatsächliche Realität zu sehen. Doch genau das ist die Aufgabe, die Funktion der Zen-Meditation und das Anliegen aller Meister dieser Kunst.
Im Westen hört man oft die Frage: Warum waren und sind eigentlich die traditionellen, authentischen Zen-Meister so streng?
Wenn man das Glück hatte, einmal, zweimal oder mehrere Male einem solchen Zen-Meister zu begegnen und unter seiner Führung zu praktizieren, dann erübrigt sich diese Frage.
Denn das Anliegen aller traditionellen Meister ist das gleiche wie das von Buddha selbst. Nämlich jedem einzelnen Menschen zu zeigen, dass die Erkenntnis der Wirklichkeit und die damit verbundene Befreiung in jedem Augenblick möglich ist, wenn man bereit ist, die nötige Kraft und Ausdauer aufzubringen, das Dasein in der Traumwelt zu beenden und in der Wirklichkeit aufzuwachen.
Da unsere Ich-Panzer – bestehend aus Unbewusstheit und Oberflächlichkeit – jedoch so dick ist, griffen die alten Meister halt manchmal zu sehr drastischen Mitteln! Manchmal helfen Worte allein nicht, dann muss man einen Schlafenden schubsen oder anbrüllen: Hey, wach auf! Komm schon, mach die Augen auf!
Wenn man dieses Bemühen seitens eines solchen Meisters mit Dankbarkeit aufnimmt, kann man spüren, dass seine kraftvollen Ausdrücke aus einem grossen und warmen Herz kommen. Hinter ihrer Strenge versteckt sich eine enorme Güte.
Das war auch bei Hakuin so. Er war ein berühmter Poet, ein grossartiger Kalligraph und Maler. Ich denke, diese poetische Seite zeigt sich auch im Zitat auf dem Kalenderblatt vom Dezember dieses Jahres.
Diesmal brüllte er nicht «Hey!» sondern sagte bloss (vielleicht mit einem Seufzer):
Wenn du doch nur den Klang des Schnees hören könntest!
Das war sein grösster Wunsch für seine damaligen Schüler und auch für uns.
Den Klang von Schnee hören
Was ist der Klang von Schnee? Wie kann man ihn hören?
Ihr denkt jetzt vielleicht: «Heute schneit es nicht. Was willst du von mir? Wie soll ich jetzt Schnee hören, wenn es nicht schneit? Das ist doch alles nur Vorstellung.» … Zugegeben. Aber ich bin sicher, dass gerade jetzt selbst die Vorstellung von «Schnee hören» etwas in uns bewirkt. Wir kennen ja Schnee. Hakuin sagte nicht «Regen» – er sagte «Schnee».
Ich denke, es ist klar und ihr spürt es alle: Um Schnee zu hören, muss man absolut still sein. Wenn Schnee fällt und die Landschaft bedeckt, verschwimmen die Konturen von Steinen, Bäumen und Häusern. Die Welt liegt unter einer sanften weissen Decke und ist sehr still.
Natürlich sprach Hakuin nicht von dem Schneebetrieb, den wir auf unseren Skipisten haben. – Das gab es damals nicht. Er sprach vom Schnee, den man hört, wenn man irgendwo alleine sitzt und sich ganz dem Geschehen hingibt.
Können wir so sitzen? So still? Eins mit dem grenzenlosen Weiss von Schnee? Lauschend auf das, was dieser uns «sagt»?
Kater Mu
Das Bild auf dem Kalender zeigt unsern Kater Mu. Dieser kam vor ungefähr elf Jahren als dreimonatiges Baby zu uns, zusammen mit seinen drei gleichaltrigen Brüdern. Vier Jahre später verschwand er spurlos. Genau so wie einer der Brüder vor ihm und einer nach ihm.
Mu bekam seinen Namen, weil er ein sehr ruhiges Wesen hatte. Er spielte und tobte zwar auch mit seinen Brüdern in der Wohnung umher, aber er sonderte sich oft etwas ab und schaute dem Geschehen bloss zu, so als ob er meditierte.
Ihr wisst ja, «Mu» ist ein Wort, das in der Zen-Meditation eine zentrale Rolle spielt. Wörtlich bedeutet es «nichts» oder «nein». Aber seine wahre Bedeutung ist nichts Negatives; es ist kein Nichts im Gegensatz zu Etwas. Es steht für die fundamentale Leere der geistigen und der materiellen Natur und ihren Erscheinungen.
In der Wirklichkeit gibt es kein Ich, keine Gedanken, keine Definitionen, keine Grenzen usw. Alles ist leer, Mu! So verstanden ist Mu der Urzustand unseres Geistes, auch Buddhanatur genannt.
Dieses Mu kann man nicht «verstehen», das dualistische, intellektuelle Denken kann damit nichts anfangen. Man kann den Mu-Geist nur intuitiv erleben und spüren. Aber sagen kann man darüber nichts.
Dasselbe gilt für Hakuins Worte: Wenn ihr doch bloss so still sein könntet, hellwach und «ganz Ohr», so dass ihr den Schnee hören könnt.
Aber Hakuin wäre kein Zen-Meister, wenn er nicht auf zwei Ebenen gleichzeitig gesprochen hätte.
Einerseits deutet er ganz konkret auf den Klang von Schnee, den man nur im leeren, absolut stillen Geisteszustand «hören» kann. Andererseits weist er noch auf etwas anderes hin, nämlich auf das Wesen von Schnee überhaupt.
Das Wesen von Schnee
Wir alle kennen das Wesen von Schnee. Wir haben es als kleine Kinder erlebt. Vielleicht haben wir dies inzwischen vergessen und denken nur noch an das Vergnügen oder die Gefahren, die Schnee für uns heutzutage mit sich bringt.
Aber ich bin sicher, dass die Erfahrung von Schnee, die man in der Kindheit gemacht hat, tief in jedes Gemüt eingegraben ist. – Das Staunen, die Freude; der Versuch, eine Schneeflocke zu fangen, mit der Hand oder mit der Zunge und das prickelnde Gefühl auf der Haut. Oder das Sammeln und Formen der weissen Masse zu Bällen, Figuren oder gar Hütten, in die man kriechen konnte.
Das «Wunder», das wir damals intuitiv erlebten, können wir als Erwachsene mit Bewusstsein betrachten und realisieren: Da kommt etwas vom leeren Himmel gefallen – sichtbare «weisse» und spürbare «kalte» zarte Formen. Aber sobald man diese erhaschen und festhalten will, sind sie weg. Es wird sofort etwas anderes daraus. Und selbst, wenn die Schneefiguren eine Zeit bleiben, es liegt in der Natur von Schnee zu vergehen.
Es gibt wohl kaum eine deutlichere Manifestation von Wandlung und Vergänglichkeit als Schnee.
Hakuins Worte können daher auch dahingehend verstanden werden: Wenn ihr doch bloss realisieren könntet – mit Haut und Haar und Knochen – wie sich alles wandelt, wie es nichts gibt, das man festhalten kann. Das ganze Leben, ja wir selber sind wie Schnee; wir «schmelzen», sobald wir in diese vergängliche Welt geboren werden.
Das Wesen vom Menschen
Aber dieses Vergehen ist kein Zu-Ende-Kommen. Die Formen kehren zu ihrem formlosen Urelement zurück. Und wenn die Bedingungen stimmen, entstehen sie aus diesem wieder neu. Das Element von Schnee ist ja Wasser, nicht wahr? Und Wasser kann unendlich viele Formen annehmen – sichtbare und unsichtbare. Ja nach Bedingungen ist es starres Eis, ein fliessender Fluss, ein ruhender See oder eben Schnee.
Und was ist das Element der Menschen?
Hakuin sagt es so:
Die Lebewesen sind im Grunde alle Buddha. Es ist wie bei Eis und Wasser. Ohne Wasser gibt es kein Eis. – Lied von der Meditation
Das Wort «Buddha» steht hier für die erleuchtete Intelligenz des universalen Bewusstseins. Das heisst, das Urelement aller Lebewesen ist das ursprüngliche klare Bewusstsein. Es kann nicht getrübt, nicht zerstört und nicht verloren werden. Denn es hat keine Form.
Sichtbar wird Bewusstsein erst, wenn es Form angenommen hat. Das heisst, alle Lebewesen sind im Grunde verkörpertes reines Bewusstsein. Dasselbe gilt für alle sichtbaren, hörbaren, fühlbaren, schmeckbaren, riechbaren, tastbaren und denkbaren Dinge. Ohne das reale fundamentale Bewusstsein gäbe es all dies nicht.
Hakuin fragt uns auch heute: Wie klingt der Klang von Schnee? Ob Kater Mu dies wusste oder nicht, wissen wir nicht. Entscheidend ist, ob wir selber es „wissen.“
Der Klang von Schnee