Rückkehr in die Welt

Meditationswoche 2024, 6.Tag

Wie gestern schon angesprochen, ist es von Vorteil, wenn man bei der «Rückkehr in die Welt» auf einige Stolpersteine und Fallgruben gefasst ist. Ich will deshalb noch einmal darauf zurückkommen und etwas tiefer darauf eingehen, besonders für diejenigen, die so eine Woche zum ersten Mal erlebt haben.

Einerseits freut man sich auf das Wiedersehen mit den Angehörigen und Freunden, andererseits gibt es ein etwas mulmiges Gefühl; man hat etwas Angst vor dem, was auf einen zukommt. Denn wie gestern erwähnt, die Wäsche ist noch nicht ganz trocken, die Gemütslage ist verletzlich und unsicher. Es kann sein, dass sich eine Art Traurigkeit einstellt, weil die Leichtigkeit und Tiefe der Retreat-Erfahrung nicht anhält.

Viele Fragen, die mir gestellt werden, drehen sich denn auch um diese Zeit nach einem Retreat. Zum Beispiel:

Wie kann ich mich schützen, damit ich von den Pflichten und Herausforderungen des täglichen Lebens nicht wieder überrannt werde? Wo kann ich den Gleichmut herholen, wenn ich wieder dem ganzen Trubel ausgesetzt bin?

Zuerst ganz prinzipiell: Habt keine Angst, nichts ist verloren. In Wirklichkeit gibt es weder Rückschritt noch Fortschritt. Aber der Fokus ist im Alltag zwangsläufig ein anderer als in einem Retreat. Doch je besser man dies versteht und weiss, worauf man achten sollte, umso besser kann man die Stolpersteine umgehen.

Pissende Babies

Angehörige mögen gleich nach der Begrüssung fragen: Wie war es? Im Freundeskreis und an der Arbeit wird man vielleicht gefragt: Hast du schöne Ferien gehabt?

Einige Rückkehrende haben ein grosses Bedürfnis zu erzählen und mitzuteilen, was sie in dieser Woche Schönes erlebt haben – oder wie schrecklich es war – wie verrückt. Andere scheuen sich davor.

Kann man, will man, solche Fragen beantworten? Kann man von der emotionellen Achterbahn, die man eventuell durchlaufen hat, erzählen? Oder von den Momenten des Friedens oder vom Lachen über sich selbst?

Versuche, dies zu tun, führen meist zu Frustration. Denn es ist unmöglich. Nicht einmal untereinander kann man wirklich sagen, was war. Und man sollte es auch nicht tun.

Deshalb rate ich immer: Redet über alles andere, als über euer Innenleben während der vergangenen Woche (Gelächter). Und zu Hause erzählt vom Wetter, dem guten Essen usw … (Gelächter). Denn es gibt nichts Schädlicheres, als einen Retreat zu zerreden.

Dies gilt schon für morgen beim Frühstück und dann auf dem Weg nach Hause.

Meister Sokei-an hat seine Schülerschar immer wieder ermahnt: Seid nicht wie pissende Babies – oben rein und unten raus! Er bezog dies nicht nur auf die geistige Inkontinenz vieler Leute, die alles, was sie denken, immer sofort rauslassen, in dem sie es anderen kundtun. Er betonte dies vor allem als Disziplin in der Meditation: Behaltet den Fokus, lasst nicht alles, was sich in eurem Bewusstsein zeigt – Gedanken, Gefühlsregungen, Erkenntnisse, Ideen – wie eine Trinkpuppe oder ein undichtes Gefäss ausfliessen.

Ob in der Sammlung des Geistes im Zendo oder in der Achtsamkeitsübung des Alltags: Bewahre das Wesentliche in der Stille des Herzens. Erlebnisse und Erkenntnisse lassen sich nicht festhalten; einfrieren können wir sie auch nicht. Sie gleichen den Blumen auf unserem Altar hier. Sie werden welken und in neuen Blumen auferstehen. Die Schönheit der Blumen geht nicht kaputt, denn sie ist ewig. Aber wenn wir sie zerreden, dann geht ihr Duft verloren.

Lachen

Ganz abgesehen davon: Es ist auch gar nicht nötig, den anderen Menschen zu erzählen, was die Meditationswoche «mit einem gemacht hat». Sie merken dies von selbst.

Ich kannte ein Ehepaar, das gemeinsam unter der Führung eines Zen-Meisters stand und ab und zu Retreats in dessen Kloster besuchte. Nach dem Umzug in eine andere Gegend, hörte der Mann auf zu praktizieren, während die Frau weiterhin Retreats im Kloster besuchte. Dies war nun allerdings wegen der langen Reise dorthin nicht mehr so oft möglich.

Und so kam es, dass die Frau von ihrem Mann manchmal zu hören bekam: Geh doch wieder einmal in einen Retreat! Du bist viel erträglicher, wenn du zurückkommst … (A. wartet, bis das Gelächter aufgehört hat und sagt dann:)

Verliert das, was ihr jetzt gerade gezeigt habt, nicht! Verliert dieses Lachen nicht! Verliert den Humor nicht.

Auch wenn unser Denken so absurd ist, so ist es doch sehr menschlich. So widersprüchlich sind wir nun mal gestrickt.

Deshalb möchte ich einmal mehr betonen: Überschätzt euch nicht mit der Idee, ihr müsstet oder könntet wegen eurer «Meditationspraxis» besser, heiliger, ernster oder klüger sein als die gewöhnlichen Menschen. Niemand ist etwas Besonderes, bloss, weil er oder sie «Zen macht».

Es ist, wie Meister Sokei-an sagte: Man mag in der Stille der Abgeschiedenheit noch so hohe Berge besteigen, man muss zurückkommen zu Brot und Käse. Das heisst: Das, was zählt ist das Dasein als Mensch unter Menschen.

Ganz abgesehen davon, wenn man sich demonstrativ ein spirituelles Gewand überstülpt, macht man sich automatisch zu einem Sonderling: Schau, ich habe dieses Kleid selber gewaschen! Schau, wie sauber es jetzt ist! Aber fass mich ja nicht an, komm mir nicht zu nahe, damit es nicht schmutzig wird… (Gelächter)

Ja, wenn wir so lachen können über uns selbst, dann zeigt dies, dass wir die Sache ein wenig von oben anschauen können, aus ein bisschen Distanz. Nicht Distanz zu anderen Lebewesen, aber Distanz zu uns selbst, unseren eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Das sollten wir uns bewahren. Dann können auch unsere Mitmenschen besser mit uns leben.

Leben in der Kollektivität

Die Rückkehr in den Alltag hat zwei Aspekte. Einerseits kehren wir zurück in das persönliche soziale, familiäre und berufliche Umfeld, andererseits in die kollektive Gesellschaft.

Die kollektive Befindlichkeit oder Grundstimmung ist zur Zeit sehr stark geprägt von Verunsicherung, Angst, Ohnmachtsgefühl und Wut. Diese Mischung äussert sich in der Öffentlichkeit als unterschwelliges Misstrauen oder offene Aggressivität.

Deutlich spürbar wurde dies zuerst im Laufe der Corona-Pandemie vor ein paar Jahren. Damals lautete die allgemeine Botschaft: Komm mir nicht zu nahe, du könntest ansteckend sein. – Die Folgen dieser Zeit sind noch lange nicht überstanden. Die erzwungene Isolation, die Verteufelung von Andersdenkenden sowie die Verunsicherung in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Promotoren und Medien sind uns in jenen Monaten eingeimpft worden. Ihre Wirkungsdauer ist mindestens so lang oder länger als diejenigen der chemischen Impfstoffe.

Ein weiteres Dauerthema der kollektiven Verunsicherung ist der sogenannte Klimawandel. Auch da herrscht eine gewisse Gehässigkeit über das Warum und Wie und Wo. Es sind lange nicht alle einverstanden mit den Theorien, die herumgereicht werden, oder mit den verordneten Massnahmen.

Dann natürlich die aktuellen Kriege in nah und fern. Selbst wenn man nicht im Kriegsgebiet wohnt und sich eigentlich raus halten will, ist man betroffen und darin verwickelt. Politik ist keine Privatangelegenheit.

Ebenfalls spürbar sind die Probleme an den Schulen und in den Spitälern, als Begleiterscheinungen der kränkelnden globalisierten Wirtschaft. Es gibt mehr und mehr Menschen, die nicht mehr genug Geld zum Leben haben, keine Wohnungen finden, die sie bezahlen können. Nicht nur in den Städten – auch auf dem Land. – All dies brodelt in uns.

Und jetzt kommt noch das neueste Gespenst daher. Es heisst KI – künstliche Intelligenz. Für die einen der Teufel in Person – es wird uns alle zu Robotern oder Sklaven machen – für die anderen der neue Messias – es wird alle Probleme lösen…

Alle diese Probleme sind da, wenn wir wieder nach Hause kommen. (Und sie waren schon immer da in unterschiedlichen Variationen.) Sie sind nicht aus der Welt verschwunden, weil wir hier in einem Retreat sind. Verschwunden sind sie nur aus unserem gegenwärtigen Bewusstsein. Und das ist ein Beweis dafür, dass man sich innerlich davon befreien kann, ohne sie zu leugnen.

Die Realität von Samsara

Neulich sagte ein Bekannter in beinahe vorwurfsvollem Ton zu mir: «Wenn man eine Woche lang meditiert, ist man doch nicht mehr wirklich in dieser Welt… aber leben muss man ja dennoch in dieser Welt – ausser man geht ins Kloster.»

Diese Vorstellung von Meditation als Flucht in eine andere Welt höre ich oft. Doch echte Meditation ist keine Flucht. Im Gegenteil.

Um im aktuellen Dasein an die Quelle der allgegenwärtigen Weisheit zu gelangen, kommen wir nicht darum herum, die bequeme Haltung der Ignoranz aufzugeben und uns durch Beobachtung, Studium und Selbsterkenntnis den Tatsachen der menschlichen Realität zu stellen. Und dieses ist nun einmal voller Widersprüche, Freud und Leid. Gegensätze und Widersprüche bilden die Realität von Samsara, der dualistischen Menschenwelt.

Gewisse gesellschaftliche Kreise haben ein veritables Interesse daran, die Allgemeinheit im Zustand ständiger Unsicherheit und Angst zu halten. Dazu säen sie Schreckensbotschaften und verkünden immer neues Unheil. Sie ziehen die Fäden und sorgen mit Versprechungen und Anreizen dafür, dass der unlöschbare Durst nach dem illusorischen «endgültigen Glück» nie versiegt.

Es gibt die zerstörerischen Dämonen in und unter uns. Auch die hungrigen Geister, die nie genug bekommen, sind Teil unserer Welt. Es gibt aber auch wohlwollende Menschen sowie mitfühlende, erwachte Bodhisattvas, die echte Weisheit und echte Liebe aufrechterhalten und weitergeben.

Alle diese Kräfte nehmen abwechselnd Besitz von unserem Gemüt. In der Stille und Wachheit der Meditation könnten wir sie alle beleuchten und erkennen – wenn wir denn in der Lage wären, die Ego-Grenze zu durchbrechen und unsere wahre Natur zu verstehen. Denn in jeder Welt, in jedem Menschen schlummert die potentielle Erkenntniskraft, die Möglichkeit, aus dem Schlummer der Unbewusstheit zu erwachen. Mit ihrer Hilfe kann man die persönliche, begrenzte Sicht überwinden und sich im überpersönlichen, übergegensätzlichen Geisteszustand verankern. Das ist das, was uns echte Meditation lehrt.

Deshalb: Statt sich an unlösbaren kollektiven Widersprüchen unserer Welt wund zu reiben, täte man besser daran, den Geist jeden Tag zu sammeln und sich auf die eigene gegenwärtige Rolle, Aufgaben und Möglichkeiten – hier und jetzt, heute – zu besinnen.

Das heisst, wer im ruhigen Sitzen mit passivem Gewahrsein geübt ist und die wechselhafte Natur des Daseins versteht, könnte den Sorgen und Ängsten mit Mut und Entschlossenheit mitten ins Gesicht schauen: Wer bist du, Angst? Was ist deine Botschaft? – statt vor ihnen wegzurennen oder sie unter einem Deckel zu verstecken. Mein persönliches Motto heisst in solchen Fällen: Was ist das Schlimmste, das passieren kann?

Auf diese Weise könnte man dem Fluchtreflex, dem Impuls zu fliehen, widerstehen!

Das Wechselspiel der Gegensätze

Als ich zum Beispiel als Jugendliche in den Bergen in einem engen Bergtal im Landdienst war (freiwillige Mitarbeit während der Schulferien), haben die Bauern das Gras an den steilen Hängen noch mit den Sensen gemäht. Das Heu wurde von Hand gezettelt, am Abend zu grossen Ballen zusammengerecht, die der Bauer dann auf den Schultern in die Scheune trug oder auf halsbrecherischen Seilen ins Tal sausen liess. Die Ähren des Korns auf den Äckern wuchsen doppelt so hoch wie heute und wurden regelmässig von Wind und Sturm zu Boden gedrückt. Den neu-gezüchteten kurzen Halmen von heute passiert das viel weniger. Pestizide waren so gut wie unbekannt.

Heute gibt es für alles passende Maschinen. Die Arbeit der Bauern ist körperlich weniger anstrengend, erfordert aber viel mehr digitales und chemisches Wissen. Das Wetter – die Natur – aber spielt immer noch die entscheidende Rolle.

Viele Erfindungen haben die Allgemeinheit etwas unabhängiger gemacht von den Naturbedingungen. Es gibt Heizungen, elektrisches Licht. Die Luft in den Städten ist besser als zur Zeit, als noch unverbrannte Kohlenpartikel aus allen Kaminen aufstiegen.

Und manche Tierarten, die auf Grund menschlicher Nahrungsbeschaffung oder schierer Unwissenheit gejagt und ausgerottet wurden, werden wieder angesiedelt und bekommen neuen Lebensraum. Die Anpassung an die Umstände ist noch immer ihre Stärke.

Manche Gesellschaftskritiker sagen, unsere gegenwärtige Zivilisation befinde sich generell auf dem absteigenden Ast, weil viele intellektuelle und praktische Fähigkeiten nicht mehr benutzt werden.

Wir müssen unsere Kleider nicht mehr selber nähen, den Stoff nicht mehr selber herstellen. Wir müssen und können bald nicht mehr selber rechnen, schreiben oder lesen. Es wird uns alles geliefert. Man muss bloss mit einem Finger auf eine Taste drücken. Das geht viel schneller und bequemer, nicht wahr?

Gleichzeitig arbeiten junge Menschen mit den neuen Techniken und mit schöpferischem Elan an Lösungen für kollektive Sozial- und Umweltprobleme. Und viele ältere Personen setzen ihre freie Zeit als Freiwillige für die Gemeinschaft ein.

Auf diese Weise gestalten wir Menschen unsere Welt, Samsara, sowohl mit zerstörerischen als auch mit schöpferischen Mitteln, während die Natur nach wie vor ihren eigenen Gesetzen folgt.

Es gibt Erdbeben, Überschwemmungen, Trockenzeiten – aber im Ganzen herrscht weniger Hungersnot oder Kindersterblichkeit.

Das ist keine Schönrederei, ich leugne das Leid in der Welt keinesfalls. Ich möchte nur betonen, dass wir immer beide Seiten sehen sollten.

Das Klima hat sich schon immer verändert. Da wo wir heute wohnen, war schon einmal Steppe, dann Eis, dann war es wieder grün, dann wieder Eis – x-mal haben sich diese Zyklen wiederholt. Grönland zum Beispiel heisst nur Grönland, weil das Land grün wurde, nachdem das Eis geschmolzen war.

In einem Bergtal der Schweiz gab es Zeiten, in denen die Dorfbewohner zu Gott beteten, er möge doch das bedrohliche Gletscherwachstum anhalten. Sie brauchten sogar die Erlaubnis des Papstes, damit sie Gott mit dieser Bitte belästigen durften. Heute betet man um das Gegenteil: Gott möge doch die Gletscherschmelze wieder stoppen. – Und wiederum gab ein Papst seinen Segen. Das ist noch gar nicht so lange her (2009).

– So oder so: Man will behalten, was man hat, und fürchtet die Veränderung. Die Natur aber verändert sich immer, sie erneuert sich aus sich selbst heraus. Es gäbe noch viele weitere Beispiele für den ewigen Widerstreit zwischen Mensch und Natur.

Auch gab es schon früher weit entwickelte Zivilisationen mit vielen Bequemlichkeiten und kulturellen Errungenschaften. Manche verfügten über Wasserversorgung, kluge Architektur, medizinische Einrichtungen und Bibliotheken. Viele haben einige Jahrhunderte prosperiert und sind dann verschwunden.

Den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen: Ich will nichts wissen von den ganzen Problemen oder sich in einem Bunker einzuschliessen, damit man den Weltuntergang überlebt, ist unrealistisch und ändert nichts. Realistisch ist es, sich als Teil des Ganzen zu sehen und das zu tun, was man den eigenen Fähigkeiten und den Umständen entsprechend tun kann – zum eigenen Wohl und zum Wohl der Mitlebewesen. Aber was das Allerwichtigste ist: Man darf das Denken nicht den anderen überlassen.

Hindernisse

Die natürliche Intelligenz unseres ursprünglichen Geistes ist immer bereit, sich als Bewusstseinslicht zu manifestieren und uns den Weg aus Unzufriedenheit und Angst zu weisen. Wir müssten uns bloss darum bemühen, zu erkennen, welche Hindernisse wir ihr in den Weg stellen.

Dazu gehört zum Beispiel unser Glaube an das illusionäre Ich als eine solide, eigenständige Person. Daraus ergibt sich unter anderem der Drang nach Anerkennung. Wir möchten als Individuen von allen geschätzt und geliebt werden. Um dies zu erreichen, tun wir alles, um so zu sein wie alle! Wir kaufen, was alle kaufen; wir essen, was alle essen; wir wollen, was alle wollen. Und man vergeudet viele Lebensstunden damit, von anderen zu erfahren und anderen mitzuteilen, was man gerade isst, tut, denkt oder welche Unterwäsche man trägt.

Dies mag jetzt übertrieben oder absurd klingen, aber Hand aufs Herz, wieviel Lebenskraft benützt man mit innerlichen Diskussionen, gedanklichen und elektronischen Mitteilungen an irgendwelche entfernte, imaginäre «Andere»? Man baut sich eine Welt aus lauter Phantomen, nicht wissend oder nicht wahrhaben wollend, dass es keine derartige Individualität gibt.

Ein weiteres Hindernis ist die Arroganz der Besonderheit. Man hält sich für besser als die anderen. Das mag im Glück und im Unglück zutreffen.

In unserer Strasse gibt es zum Beispiel ein Lokal, das seit Jahren als Restaurant dienen sollte. Ich sage sollte … Denn es ist immer leer. Jahr für Jahr kommen neue Besitzer. Jeder scheint zu denken: Ich werde den Laden zum Laufen bringen, mein Angebot wird unwiderstehlich sein. Aber keiner merkt, dass das Lokal an einer öden Strasse liegt, eine hässliche unattraktive Fassade hat und ausserdem mehr oder weniger dasselbe Fast-Food anbietet, wie die gescheiterten Vorgänger.

Im Unglück zeigt sich die unrealistische Selbstüberschätzung zum Beispiel auch darin, dass man sich als besonders bestraft oder ungerecht behandelt fühlt. Man hält sich selbst für unsterblich und unverletzlich und ist völlig überrascht, wenn sich das als unwahr erweist.

Eine langjährige Schülerin von H. Platov gab mir ein Beispiel dafür, das einen bleibenden Eindruck auf mich machte. Nennen wir die Protagonistin kurz B.

B war eine kultivierte und gebildete Dame. Ihr Ehepartner ein angesehener Mann mit allerleih Orden und Auszeichnungen. Die beiden galten gewissermassen als Idealpaar. Ihr Leben lief gut und sie hatten eine Tochter. Kurz nach deren Geburt wurde B Schülerin von H. Platov und gab sich mit Kopf und Herz der Zen-Praxis hin.

Dann teilte ihr der Ehemann plötzlich mit, dass er sich in ihre Schwester verliebt habe und mit dieser zusammen leben werde. Nun stand die gute Frau völlig überrumpelt allein mit ihrer Tochter da – der Boden war ihr buchstäblich unter den Füssen weggezogen worden.

Beim nächsten Treffen erzählte sie H. Platov, was geschehen war und endete mit dem Satz: «Warum ist das ausgerechnet mir passiert?»

H. Platov schwieg eine Weile und sagte dann mit sanfter Stimme: «Warum Dir nicht?»

Ja, warum sollte ausgerechnet mir nichts passieren? – Wir sind alle im gleichen Boot. Niemand hat mehr Recht auf Glück als der andere; und man ist nicht besser geschützt vor Unglück als andere, bloss weil man etwas Besseres oder Besonderes zu sein glaubt.

Es kommt einzig und allein darauf an, was man aus einer Situation macht, wie man sich dazu stellt. Man kann Schwierigkeiten mit Selbstmitleid verstärken, man kann das Glück mit Überheblichkeit verderben oder man kann beides mit Weisheit und Geduld ertragen und nutzen, bis es sich von selbst wieder wandelt. Denn nichts bleibt so, wie es ist.

Das Kloster in der Welt

Kommen wir zurück auf die Frage: Wie kann ich mich schützen, damit ich von den Pflichten und Herausforderungen des täglichen Lebens nicht wieder überrannt werde? Wo kann ich Gleichmut herholen, wenn ich wieder dem ganzen Trubel ausgesetzt bin?

Ich hoffe, dass ihr inzwischen spürt und versteht, dass die Trennung von Retreat/Meditation und Alltag illusorisch ist. Denn in der echten Meditation greift eines ins andere. Unser Kloster – Ort der Praxis – ist in dieser Welt, genau so wie diese Welt in den Klöstern von Mönchen und Nonnen ist. Doch «die Welt» ist nur die äussere Hülle, die äussere Erscheinung unserer inneren Erlebniswelt. Denn im klaren Bewusstsein gibt es kein Innen oder Aussen.

Der wahre «Ort der Zuflucht» liegt in jedem Menschen selbst. Und ist in jedem Menschen gleich.

Es ist natürlich kein Ort, den man innerhalb des Körpers lokalisieren könnte. Aber es fühlt sich manchmal so an, als ob er «tief» im Herzen oder im Bauch, im Hara, zu finden sei. Nämlich dann, wenn man sich in der Meditation von den äusseren Dingen löst und tief und entspannt ein- und ausatmend den Zustand der Stille und des Friedens erfährt, in dem alles so ist, wie es ist und in dem alles seine Ordnung hat.

Verstand und Praxis

Diesen Zustand kann man erleben, aber nicht lokalisieren. Den Weg dahin muss man mit den beiden Beinen von «richtigem Verstehen» und «richtigem Lebenswandel» begehen.

Der bekannte Mitbegründer der Zen-Praxis, Bodhidharma, sagte es klar und deutlich:

«Viele Wege führen zum Tao, doch im Grunde genommen sind es nur zwei: Verstand und Praxis.» – Der rote Faden des Dharma (S.33ff)

Das Wort «Verstand» ist hier identisch mit dem innewohnenden Wissen, der Intelligenz des reinen Geistes. Er sagte:

«Diejenigen, die den Täuschungen den Rücken kehren und meditierend die Unwirklichkeit ihrer Welt realisieren und deren Gemüt unbeweglich bleibt, befinden sich in vollständiger und stillschweigender Übereinstimmung mit dem Verstand.»

Zum Verständnis der Praxis gab er folgende Erklärung:

«Das Tor der Praxis besteht aus den folgenden vier alles einschliessenden Übungen: Erleiden von Ungerechtigkeit, Anpassung an die Umstände, Wunschlosigkeit und Anwendung des Dharma.»

Zum Erleiden von Ungerechtigkeit führte er aus, dass es immer einen Grund, gibt für das, was man erlebt. Denn alles, was wir erleben, folgt dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Die Ursache kann in der Gegenwart oder weit zurück in der Vergangenheit liegen. – Irgendwann hat man selber irgendetwas getan, das nicht recht war, und jetzt kommt der Bumerang zurück.

Auch der Buddha sagte im Dhammapada ja: Wer mit lauterem Geist denkt und handelt, wir mit Sicherheit viel Gutes empfangen und wer mit unlauterem Geist denkt und handelt, wird mit Sicherheit viel Leid erfahren.

Das Unlautere oder das Unrechte besteht in den wenigsten Fällen in Mord oder Totschlag. Es liegt viel näher, nämlich in den alltäglichen Gedanken, so wie es im Dhammapada heisst:

Man hat mich verletzt, man hat mir Unrecht getan … Wer solche Gedanken hegt, wird mit Sicherheit Unglück ernten.

Wer allerdings solche Gedanken nicht nährt, die Ressentiments nicht aufrecht erhält oder gar nicht erst in Ach und Weh verfällt, dem geht es gut. (Befreites Gelächter der Zuhörerschaft – so einfach ist das!!!)

Ja, so simpel, so einfach ist diese Praxis … einerseits! Andererseits ist sie gar nicht einfach, denn wir tun uns sehr schwer mit der Kontrolle oder Beherrschung unserer Gedanken. Deswegen: Wahre Befreiung aus der Gefangenschaft der konfliktuellen Denkgewohnheiten ist nur dann möglich, wenn man Theorie und Praxis, das Studium der Lehre und ihre Anwendung sowie Zeiten des Rückzugs und die Aktivitäten in der Welt in sich selbst zusammenführt.

Das heisst: Nehmt die Achtsamkeit und Weisheit der Meditationswoche mit in den Alltag. In eure Küche, an eure Arbeit! Haltet euch bei nichts auf. Geht weiter, immer weiter. Dann ist jeder Tag ein guter Tag.

Zusammenfassung:

Der einzige Schutz vor dem inneren und äusseren Chaos findet man durch die Sammlung in der Stille. Stille entsteht durch das Loslassen/Ausatmen der mentalen Sorgen und Ängste. Loslassen kann man mit Hilfe von Vertrauen in den eigenen Geist bzw. in die angeborene universale Weisheit. In dieser Weisheit sind die Gegensätze und Widersprüche des leidvollen Daseins neutralisiert. Die Erkenntnis und Verwirklichung dieser Wahrheit äussert sich als Gleichmut.

Gleichmut ist also nicht etwas, das man von irgendwo herholen kann. Gleichmut ist eine Frucht der Meditation, geboren aus Weisheit und Realitätssinn.

Realitätssinn bedeutet zum Beispiel auch:

Wir putzen uns jeden Tag die Zähne.
Wir gehen jeden Tag mehrfach aufs WC.
Wir waschen unseren Körper und unsere Kleider.
Das ist das Gebot der körperlichen Hygiene.

Eben so wichtig ist die psychische oder seelische Hygiene:

Wenn man den Geist nicht regelmässig entleert, sammeln sich die unverdauten Überbleibsel von Gedanken, Emotionen, Ressentiments usw. an. Man leidet an geistiger Verstopfung. Das Gemüt kann nichts Neues aufnehmen und das, was drin ist, fault vor sich hin.

Das tägliche Innehalten, die Besinnung auf das Wesentliche sollte so selbstverständlich sein, wie das Zähneputzen am Morgen und am Abend und der Gang aufs WC.

Wenn du die Augen morgens öffnest, nimm dir einen Moment Zeit, dich für den Tag zu sammeln. Und am Abend, bevor du schlafen gehst, nimm dir einen Moment Zeit, den Tag zu überdenken.

Auf diese Weise wird der Alltag zur Fortsetzung des Retreats und der nächste Retreat zur Fortsetzung des Alltags.

In diesem Sinne beende ich nun meinen verbalen Anteil an dieser Woche und freue mich auf das nächste Wiedersehen mit euch.

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