Leben in Erinnerung

Ein wundersamer Sommer ist plötzlich zu seinem Ende gekommen: Viele heisse Sommertage, üppige Blumenpracht in Gärten und Pärken, frühmorgendliche Sonnenaufgänge, laue Nächte, nur selten ein willkommenes Gewitter, dann der grosse Regen und Temperatursturz. Die vorher kaum wahrgenommene Ermüdungszeichen der Natur sind nun offensichtlich: Das Grün der Bäume matt, viele Blätter geschrumpft, neue Knospen an Blumen selten oder ganz ausbleibend, Wiesen und Felde abgeerntet; die Tage deutlich kürzer und kühler. Wieder ist ein Herbst im Anzug. …Leben in Erinnerung

Auch das Leben unserer Freundin E ist zu seinem Ende gekommen. Ganz plötzlich und nach einem wundersamen Sommer.

Wir alle hatten uns gefreut, dass es E wieder recht gut ging. «Wir» sind einige Freunde und Freundinnen von E. «Recht gut» bedeutet hier: Zaghaft wieder aufblühende Lebensfreude und -energie. Denn im Januar hatte E eine lebensbedrohende Herzschwäche erlebt und dank mehrwöchiger Intensivpflege im Spital überstanden. Vor diesem dramatischen Zusammenbruch lagen Jahre eines langen Herbstes, in dem die Lebensgeister von E mehr und mehr erblassten. Sie lebte mehr und mehr zurückgezogen in ihrer Wohnung. Kontakte zu Freunden und Bekannten wurden spärlich oder blieben ganz aus. Dies war ganz und gar anders als das, was man «vorher» von E. kannte und schätzte.

«Vorher» bedeutet die Zeit vor E Leidenszeit. D.h. bevor bei ihr im Alter von gut 50 Jahren diffusen Rückenschmerzen auftraten. Deren ärztliche Abklärung brachten einen angeborener Herzfehler ans Tageslicht. Eine Operation am offenen Herzen brachte zwar eine deutliche Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Rückenschmerzen aber blieben ein stetiger und unberechenbarer Begleiter.

«Vorher» war E bekannt als eine aufgestellte, vielseitig interessiert, immer zu einem Lachen bereite Frau mit Ecken und Kanten, grosser Entschlusskraft und einem starken Willen. Sie betätigte sich in verschiedenen Berufssparten, mit Schwerpunkten im administrativen-Finanzbereich und in Körpertherapie. In dieser Kombination spielten ihre intellektuellen, geistigen und seelischen Fähigkeiten wunderbar zusammen.

Und dann der plötzliche Tod. Alle Bezugspersonen befanden sich in den Ferien. Nicht nur sie, auch die betreuenden Ärzte glaubten E in einer den Umständen entsprechend bestmöglicher Verfassung und waren überrascht und bestürzt, als sie erfuhren, dass E mitten in der Wohnung liegend einige Tage nach einem Herzstillstand gefunden wurde.

Die Betroffenheit bei Freunden und Bekannten war gross. Die Fantasien über das «Wie» des letzten Augenblicks breiteten sich aus wie graue Nebelschwaden; die einen hofften, dass es ein schneller Tod war, die anderen fürchteten, es könnte ein langer Kampf gewesen sein; Selbstvorwürfe oder Hilflosigkeit wegen der eigenen Abwesenheit oder unterlassenen Telefonanrufen machten die Runde …

Dann kam die Abschiedsfeier. Man traf sich bei einem Baum, zu dessen Füssen eine kleine Grube ausgehoben worden war. Es regnete in Strömen. Wegen einer unvorhergesehene Verspätung traf ich erst ein, als die kurze Feier bereits vorüber war. Das kleine Loch, in das die Urne entleert worden war, war noch offen und ich wurde eingeladen, eine Handvoll Erde hineinfallen fallen zu lassen und eine letzte Handvoll Rosen. Alles schien mir so kompakt und konzentriert: Hier unter diesem einen Baum, in Anwesenheit von eine Handvoll Menschen, hatte ein kleines Loch in nasser Erde die materiellen Überreste eines Menschen verschluckt, der fast 66 Jahre lang auf dieser Erde gelebt und dessen Lebensbahn irgendwann die unsrige gekreuzt hatte. Mir schien als ob auch alle meine inneren Bilder von E in diesem einen Loch verschwanden.

Im Anschluss an die Abdankung versammelte sich ein Dutzend Freunden und Bekannte von E zu einem Imbiss in einem nahen Restaurant. Kaum hatten wir uns gesetzt, zeigte sich ein grosses Bedürfnis, von den anderen zu erfahren, wer E für sie gewesen war. Wir begannen, einer nach dem anderen von den Erlebnissen mit E zu erzählen.

Bei den einen entlud sich die ganze Frustration der letzten Jahre, wie schwierig es gewesen sei und wie hilflos man sich gefühlt habe als sich E nicht mehr so verhielt, wie man es gewohnt war von ihr. Andere beschworen das «vorher» und setzten sich tapfer über das, was nachher gewesen war, hinweg. Alle hatten wir unsere eigene E-Geschichte und waren froh, diese zu erzählen zu dürfen.

So sahen wir E als interessante Gesprächspartnerin, mit der man über Gott und die Welt diskutiert hatte, als unkomplizierte Reisegefährtin, als Freundin, die immer für einen da war, wenn man sie brauchte, als Therapeutin, die zur inneren Befreiung verhalf, als temperamentvolle Arbeitskollegin, als Mäuschen und als Nilpferd (sie pflegte sich selber ab und zu so zu bezeichnen); man hörte ihr Lachen, ihre Sprüche, ihre manchmal harschen Worte; man erlebte ihre Erschöpfung im Krankenbett, ihre Ablehnung jeglicher sog. «guten Ratschläge», ihre Entschlossenheit, den eigenen Weg zu gehen; man erlebte letzte Begegnungen oder letzte Telefonate mit.

Im Laufe von gut zwei Stunden schafften wir aus all unseren fragmentierten Erinnerungen gemeinsam eine grosse, runde, raumfüllende geistige Collage in der wir E zu erkennen glaubten. Alle schienen wir glücklich zu sein, dass unsere eigenen beschränkten und widersprüchlichen Erfahrungen mit E durch die Erfahrungen der anderen relativiert und ergänzt worden waren und — dadurch versöhnt. Wir verabschiedeten uns von einander als kleine Gemeinschaft, vereint in der Freund- und Bekanntschaft mit E, die jetzt nicht mehr unter uns war, an die wir uns jetzt aber gerne erinnern. Wie es in Todesanzeigen so oft zu lesen ist: «In unserer Erinnerung lebst Du für immer weiter.»

Doch halt! Wäre es nicht vermessen und wirklichkeitsfremd, wenn man tatsächlich glauben würde, eine verstorbene Person lebe in der Erinnerung weiter? Erinnerungen sind immer bloss Momentaufnahmen, Standbilder von einer vergangenen Wahrnehmung oder Empfindung im eigenen Gemüt. Erinnerungen erlauben keine Entwicklung, also kein Leben. Die E, die wir in unserer Collage geschaffen haben, hat nichts zu tun mit der wahrhaftigen E. Sie ist ein kollektive geschaffenes Bild. So ein Bild mag und kann Hinterbliebene trösten und ihren Schmerz besänftigen, aber mit dem wahren Leben hat es nichts zu tun. Die E, die mit uns auf der Erde war, ist längst verschwunden, weggetragen von der Strömung des grossen LEBENS. Dieses beginnt für uns Menschen dort, wo Erinnerungen, Vorstellungen, Meinungen und alle anderen mentalen und emotionalen Gebilde zu ihrem Ende kommen. Egal, wo und wann und wie wir leben, in dieser Welt oder in der geistigen Welt.

Leben in Erinnerung ist begrenztes Leben.
Die Grenzen heissen Geburt und Tod.
Leben jenseits von Erinnerungen ist unbegrenztes, zeitloses LEBEN. Geburt und Tod sind von ihm umfangen.

Lebewesen entstehen und vergehen, LEBEN bleibt.

Teisho Tagesretreat September 2017 Agetsu Wydler Haduch

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