Wie alles zusammenwirkt – AWH, Meditationswoche 2024, 1.Tag
Wieder haben wir uns hier für eine Meditationswoche zusammengefunden. Und wie immer frage ich: Warum, wozu sind wir hier? Wie kommt es, dass Leute ihr Zuhause verlassen, auf Ferien am Meer oder in den Bergen verzichten, um eine ganze Woche lang zu schweigen und zu meditieren?
Vordergründig kann man wohl sagen, dass wir etwas suchen, was uns der Alltag nicht gibt:
Ruhe, Pause, Abstand, Zeit für sich selbst, Gemeinschaft von Gleichgesinnten …
Wir nehmen dafür einiges in Kauf: Früh aufstehen, einen strikten Stundenplan, langes Sitzen, das manchmal schmerzhaft ist, Abstinenz vom gewohnten sozialen Austausch …
Aber ich glaube nicht, dass dies die ganze Wahrheit ist. Da ist noch etwas anderes im Spiel. Etwas, das mit unserem ganzen Dasein in dieser Welt zu tun hat und nicht bloss mit den trivialen Freuden und Leiden. Diesem «Anderen» möchte ich im Laufe dieser Woche mit euch zusammen auf die Spur kommen und aufzeigen, wie alles zusammenwirkt.
Zum Einstieg erzähle ich euch eine Geschichte aus meinem Alltag:
Alle Vögel sind schon da …
Seit geraumer Zeit sitzt frühmorgens oft eine Krähe auf der hohen Wand, die den Spielplatz unserer Wohnsiedlung vor dem Lärm der vorbeifahrenden Züge schützt. Sie gehört zur Familie der Rabenkrähen, ist also recht gross und hat einen kräftigen, schwarzen Schnabel. (Ich erkenne sie an zwei weissen Federn im linken Flügel.)
In der Regel sehe ich sie durch die Glastüre unserer Küche dort sitzen, irgendwann zwischen 8.00 und 10.00 Uhr. Manchmal beachte ich sie allerdings erst, wenn sie kräht.
Wenn es soweit ist, sammle ich eventuelle Futterreste aus den Näpfen unserer beiden schwarzen Kater Caruso und Pico oder etwas Trockenfutter in einem Gefäss, feuchte es mit wenig Wasser an und trete hinaus auf den Spielplatz.
An dessen Rand befindet sich ein Geländer und dahinter ein schmaler Sims. Dort verteile ich das Futter auf einer Länge von 3-4 Metern. Warum ich diese Distanz erwähne, wird aus dem weiteren Verlauf der Geschichte ersichtlich.
Dann wende ich mich der Krähe zu und sage gut hörbar zu ihr: «Guten Morgen, du kannst kommen.» Sie schaut mich mit zur Seite gedrehtem Kopf aus einem Auge an und bleibt sitzen.
Aus Erfahrung weiss ich, dass sie erst dann zum Futter fliegt, wenn ich mich mindestens 3 Meter davon entfernt habe. In dieser sicheren Distanz bleibe ich «gewollt unauffällig» kurz stehen, bevor ich mich in die Nähe der Küche zurückziehe. Das ist das Signal: In einem eleganten Bogen schwingt sich die Krähe auf den Sims und beginnt zu picken. Meine Gegenwart ist kein Thema mehr.
Es dauert nicht lange, dann landet eine zweite Krähe (ohne weisse Federn) auf dem Sims.
Manchmal bemerken auch Pico und Caruso mein Tun und kommen neugierig in meine Nähe.
Aus ihren diversen Erfahrungen wissen beide Kater, dass es keinen Sinn macht, die Vögel zu jagen oder ihnen das Futter streitig zu machen. Deren Schnäbel, ihre flatternden Flügel und das fürchterliche Krächzen senden eine zu deutliche Botschaft aus: Geht weg, dieser Platz gehört uns!
Das Morgenritual
Und so schauen zwei schwarze Kater und ich zwei schwarzen Vögeln bei ihrem Morgenritual zu. Das geht so:
Vogel 2 (V2) stellt sich mit etwas Abstand neben Vogel 1 (V1), der sich vom einen Ende der Futterstrecke bereits gegen die Mitte hin durchgefressen hat, und pickt hastig etwas auf. V1 geht entschlossenen Schrittes auf V2 zu. V2 flattert auf und setzt sich z. B. ans linke Ende der Futterstrecke. Sofort rennt V1 sichtlich unzufrieden auf ihn los. V2 fliegt wieder auf und versucht es am rechten Ende der Futterstrecke. Aber wieder kommt V1 empört angetrippelt, dreht V2 den Rücken zu und versperrt ihm so den Zugang zum Futter.
Nachdem sich dieses Manöver 1 oder 2 mal wiederholt hat, gibt V2 auf. Da die Futterstrecke aber eine gewisse Länge hat (!) war es ihm immerhin gelungen, doch einige Bissen zu erhaschen, bevor V1 bei ihm ankam. Aber erst wenn dieser genug hat und wegfliegt, kann V2 in Ruhe picken, was er ihr übrig gelassen hat.
Es gibt noch eine andere Version dieses Spiels: Anstelle von V2 kommen 2 Elstern angeflogen. Auch sie kennen den Futterplatz. Dann vermischen sich Krähengeschrei und Elsterngeschrei zu einem ziemlichen Lärm und es gibt einen veritablen Kampf ums Futter.
Für mich ist es sehr interessant, zu beobachten, wie alle Beteiligten diverse Strategien und Listen erfinden, um nicht ganz leer auszugehen.
Zum Beispiel sehe ich ab und zu, wie sich eine der Elstern und V1 die Stange halten. In diesem Fall arbeiten sich beide rückwärts von einem Ende der Futterstrecke gegen die Mitte hin zu und tun so, als ob sie sich nicht sähen.
Ein zartes Lüftchen
Als ich vor einigen Tagen diesem Geschehen wieder einmal ganz selbstvergessen zuschaute, spürte ich plötzlich einen Lufthauch auf meiner Hand, in welcher ich das leere Futtergefäss festhielt. Zuerst beachtete ich dies kaum, doch die Empfindung wurde stärker. Als ich hinschaute, sah ich eine Wespe, die über dem Gefäss in meiner Hand kreiste. Sie war offensichtlich an einem Nadelkopf grossen Futterrest interessiert, der noch an der Wand des Gefässes klebte.
Ich stellte das Gefäss in sicherer Entfernung von mir auf den Boden, worauf die Wespe sofort von mir abliess und sich an das winzige Stückchen einer Vogelspeise machte, die einmal eine Katzenspeise gewesen war.
Grosses Staunen meinerseits: Wie hat dieses winzige Insekt, mitten in der grossen weiten Welt, diesen winzigen Rest einer Futterquelle geortet, gefunden und für sich entdeckt?
Welche Kräfte haben hier zusammengewirkt, dass aus dem Körperfleisch eines einst grossen Lebewesens – eines Huhns oder eines Fisches oder gar einer Kuh – Nahrung für so viele Lebewesen wurde, vom Menschen bis zur Wespe, die ihrerseits vielleicht demnächst Ameisen als Nahrung dient? Und wie viele Kräfte wirkten zusammen, bis die Kuh, das Huhn oder der Fisch gewachsen waren?
Welche Ursachen und Wirkungen waren im Spiel, dass ich in diesem Moment als Zeuge eines kleinen Abschnitts dieses Wunders in Staunen versetzt wurde?
Wer hat der Wespe, den Krähen und den Elstern gesagt, wo und wie diese Nahrung zu finden ist? Und wer hat mir gesagt, dass die Krähe auf ihr Frühstück wartet? Welche Weisheit ist hier am Werk?
Dabei ist ausser meinem «Guten Morgen» in Richtung der Krähe, kein einziges Wort gefallen.
Das grosse Ganze
Wie oft haben wir schon gehört und gelesen, dass die Natur für jedes Lebewesen sorgt, mag es winzig klein oder riesengross sein, weil ihre Weisheit keine Unterschiede kennt, weil es nichts – wirklich nichts – gibt, das unabhängig und getrennt vom grossen Ganzen existiert. Wobei das grosse Ganze selber keine Form und keine Sprache hat, sich aber in den Formen und «Sprachen» aller Lebewesen offenbart.
Ich wünsche uns allen, dass wir diese allgegenwärtige Weisheit – das Wunder unseres Daseins – nicht nur in der äusseren Natur erkennen, sondern auch als unser eigenes wahres Wesen erfahren.
Denn ich bin überzeugt, es ist dieser Natur und nicht dem Zufall zu verdanken, dass wir uns hier an diesem Ort, in diesem Haus für eine Meditationswoche eingefunden haben. Wie man so schön sagt: Es hat sich so gefügt.
Doch diese Fügung hat schon vor langer Zeit «begonnen».
Ich gebe euch deshalb für den Beginn dieser Woche folgende Fragen auf den Weg: Was weiss ich von meiner wahren Natur? Habe ich ihr Wirken in meinem persönlichen Leben schon erfahren? Kann ich mich vielleicht an ein oder mehrere Ereignisse erinnern, die mich unerwartet so berührt haben, dass ich etwas zu suchen begann und auf den Weg der Meditation «geführt» wurde.
Nachtrag:
Auch wer den obigen Dharma-Vortrag nicht live gehört hat, sondern jetzt im Internet liest, könnte sich zum Beispiel fragen: Wie kommt es, dass ich in der schier unermesslichen Fülle an Inhalten im weltweiten Informationsnetz ausgerechnet auf diese eine Webseite gestossen bin und genügend Interesse habe, um einige Zeit mit der Lektüre über einen Meditationsretreat zu verbringen?