Perspektiven

Das Prozess

„Entleere dich und ich werde dich füllen“.


Evangelium nach Thomas
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Entleere deinen Geist von allen Vorstellungen über wirklich und unwirklich. Entleere deinen Geist von der Vorstellung, dass du der materielle Körper und das Denken bist.

„Zu erkennen, dass der Geist leer ist, bedeutet, den Buddha zu sehen. Das Denken zu benutzen, um die Wirklichkeit zu finden, führt zur Täuschung. Das Denken nicht zu benutzen, um die Wirklichkeit zu finden, führt zum Gewehrsein.“


Bodhidharma

Bodhidharma machte Zazen einer kahlen Wand zugekehrt, auf welche er seinen Geist projizierte, damit er ihn untersuchen konnte.

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Auf das „Entleeren“ des Geistes kommt es an, ob man es Kontemplatives Gebet nennt oder Meditation oder Yoga oder Zazen….

„Es geht darum, die Bewegungen des Geistes anzuhalten.“


Patanjali

Die Methode

Werdet Vorübergehende. – Evangelium nach Thomas


Der Geist ist wechselhaft, kaum in die Schranken zu weisen, er folgt seinen Wünschen, wie es ihm beliebt. Es ist gut, diesen Geist zu beherrschen, ein disziplinierter Geist bringt Frieden und Glück. – Dhammapada


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Yoga ist der Prozess, die Bewegungen des Geistes anzuhalten. Dann lässt sich der Beobachtet (in uns) in seinem eigenen Wesen nieder. Andernfalls kommt es zur Identifikation mit den Geistesbewegungen. Das Anhalten dieser Bewegungen ist möglich durch unaufhörliche Selbst-Gewahrsein und Nicht-Anhaften. Selbst-Gewahrsein bedeutet, im Zustand des Nicht-Reagierens gegenüber den Sinneseindrücken zu bleiben. Wenn das Selbst-Gewahrsein über lange Zeit ehrlich und ununterbrochen im Handeln angewendet wird, gewinnt es einen tiefen Boden. – Patanjali

„Entleere deinen Geist“ und „Werdet Vorübergehende“

„Entleere deinen Geist“, indem du die Kraft und Methode deiner Praxis benutzt, um das Gewahrsein dessen was du wirklich bist, ständig zu nähren und zu stärken. Benutze dein Mantra, dein Koan, dein Gebet, um dich dauernd daran zu „erinnern“, wer du in Wirklichkeit bist. Halte dieses Selbst-Gewahrsein dauernd aufrecht. Durch dieses nicht nachlassende Bemühen wird es mit der Zeit natürlich, sich nach der eigenen „Buddha-Natur“, dem eigenen“ Selbst“, dem „Das bin ich“ zu richten.


„Werdet Vorübergehende“ ist ein Aufruf zum Nicht-Anhaften. Das bedeutet, nichts und niemanden in Besitz zu nehmen. Nicht-Anhaften ist niemals physisch gemeint, es bedeutet nicht, die Frau oder den Mann sitzen zu lassen, Familie, Freunde und Geld aufzugeben und in ein abgelegenes Kloster zu fliehen im Namen des Nicht-Anhaftens.

Man soll nicht Vorstellungen von Nicht-Anhaften verfallen, die einen von alle Mitmenschen entfremdet. Nicht-Anhaften bedeutet, überhaupt keiner Vorstellung anzuhaften, dazu gehören z.B. auch, alle Vorstellungen aufzugeben darüber, wie ein Ehemann, eine Ehefrau oder andere Menschen denken, sein oder handeln sollten oder könnten sowie die Vorstellungen, wie die eigenen Familie sein sollte oder hätte sein sollen oder hätte sein können. All dies gehört ins Land der Fantasie! In der Wirklichkeit gibt es nichts namens „Ehefrau“ oder „Ehemann“.

Meister Krishnamacharya sagte:

„Denke immer daran, dass das, was du hast, nicht das ist, was du bist.“

Titel wie „Ehemann“ und „Ehefrau“ gehören in die materielle Welt. Sie bringen die üblichen mit dieser Welt verbundenen Gedankenspiele mit sich.

Sie sind Teil der Welt des „Habens“. Die Welt des „Seins“ ist die Welt des Selbst. Aus dieser Es ist die Funktion von Körper und Geist, dem Selbst in dieser Realität zur Manifestation zu verhelfen. Wer dies versteht, versteht, warum wir „nicht das sind, was wir haben“.

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Gemäss der Yoga-Lehre von Patanjali führt das ehrliche Bemühen im Nicht-Anhaften zu Resultaten folgender Art:

• Das Begehren, Menschen und Dinge zu besitzen, wird ersetzt durch das Wissen, wie man mit Menschen und Dingen umgehen kann gemäss dem, “was sie sind“, und nicht gemäss dem, was wir denken das sie „sein sollten“.

• Die Nützlichkeit eines Gegenstandes ist nicht länger persönlich geprägt. Sie liegt in seiner Funktion. Etwas nur um seiner selbst „haben zu wollen“, ist Anhaften.

• Es gibt kein Bedürfnis mehr, die eigene Zukunft zu kennen. Im eigenen Zentrum stehend und in seiner eigenen Natur ruhend, versteht man, dass Vorstellungen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur in der Welt des „Habens“ eine Bedeutung zukommt.

• Es gibt kein Bedürfnis mehr, anderer Leute Meinung über einen selbst zu kennen. Im eigenen Zentrum stehend und in seiner eigenen Natur ruhend, erkennt man, dass die Meinungen nicht mehr sind als Störungen im Äther, verursacht von einem gestörten Geist.

• Verantwortung wird weder gefürchtet noch begehrt. Im eigenen Zentrum stehend und in seiner eigenen Natur ruhend, alles überblickend, macht man sich keine Sorgen um die Früchte des eigenen Tuns. Verantwortung wird zum selbstloses Handeln. (Das kleine Selbst stellt sich in den Dienst des grossen Selbst.)

• Der Tod wird weder gefürchtet noch begehrt. Im eigenen Zentrum stehend und in seiner eigenen Natur ruhend, entdeckt man, dass man nie geboren wurde und deshalb nie sterben kann, und dass das, was geboren wurde, ganz sicher sterben wird.

Der Hölle entkommen

Der Hölle zu entweichen setzt voraus, dass man erkennt, dass man darin ist. Sobald man dies tut, ist man draussen. Das ist einfach, sicher! Ist es leicht? Vielleicht. Das hängt von der Perspektive ab. Die Methode, die man benutzt, um der Hölle zu entkommen, ist im Übungsweg enthalten, dem man folgt, sei es Zen, Ch’an, Yoga, Kontemplation usw.

Am besten bleibt man bei dem Weg, den man kennt. Die verschiedenen Praktiken sollten nicht miteinander vermischt werden. Denn, obwohl ihr „Ziel“ dasselbe ist, können die verschiedenen Methoden und die Philosophie, die dahinter steckt, verwirrend sein. Die alten Übungswege wurden über Jahrhunderte getestet und verfeinert von Menschen mit einem schärferen Geist als dem unsrigen. Vertraut darauf, benutzt sie!

Es ist allerdings Vorsicht geboten mit modernen Versionen alter Weisheitslehren. Denkt an die berühmte Geschichte der Blinden, welche aufgefordert wurden, einen Elefanten zu betasten und dann zu sagen, was ein Elefant ist. Einige der heutigen „Gurus“ haben nur ein einzige Stelle des Elefanten berührt. Andere haben mehr als eine Stelle angefasst und nehmen daraus die Autorität, ihre eigene Kreation zu verbreiten (à la Christliches Zen, Yoga-Zen, Yoga-Tanz). Benutzt euer Unterscheidungsvermögen, stellt Fragen, überprüft alles, wirklich alles. Die Antworten sind da, es braucht nur Ausdauer und Geduld!

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Wenn du einen besonnenen Begleiter findest,
einen weisen Gefährten und liebenden Freund,
dann gehe mit ihm und überwindet alle Gefahren.
Wenn du keinen besonnenen Begleiter,
weisen Gefährten und liebenden Freund findest,
dann gehe allein voran,
wie ein König,
der auf ein erobertes Reich verzichtet,
wie ein grosser Elefant,
der im tiefen Wald umherstreift. – Dhammapada

Und nun gehe und tue etwas!

Dhyāna Winter 2001

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