Krank – AWH, Tagesretreat März 2024
Es ist jetzt genau ein Monat her, dass wir zum ersten mal überhaupt einen Tagesretreat kurzfristig absagen mussten, weil Robert und ich beide krank waren. Ich möchte euch ein bisschen erzählen, was dieser Einbruch in unser gewohntes Leben bewirkt hat.
Aber bevor ich weiterfahre, möchte ich euch allen danken für die diversen Gute-Besserungswünsche, Blumen und Hilfsangebote, die von allen Seiten zukamen. Wir waren einfach zu kaputt, um darauf zu reagieren. Sogar Blumen auszupacken war eine Riesenarbeit.
Also, was ist passiert:
In jener Woche hatten wir Besuch. Im Gespräch erwähnte dieser nebenbei: Ich glaube, ich habe eine beginnende Erkältung. Am-Abend darauf merkte ich, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte plötzlich Mühe, mich zu fokussieren. Und am nächsten Tag war es offensichtlich: Ich war krank! Das Fieber schnellte in die Höhe und die Energie in die Tiefe. Gegen Abend merkte Robert, dass es auch ihn auch erwischt hatte.
Von da an lagen wir ein paar Tage lang total kaputt, hustend und mit hohem Fieber im Bett. Am vierten oder fünften Tag riefen wir einen mobilen Notarzt. Dieser verordnete uns diverse Medikamente und ermahnte uns, diese Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Dann nahm die Krankheit ihren Gang und dauerte ihre Zeit.
Die Lehre aus der Geschichte
Nun, was ist die Lehre aus dieser Geschichte? Ich erzähle euch all dies nämlich nur, weil ich denke, wir alle können daraus etwas lernen.
Erstens: Wir können uns in Bezug auf unsere Gesundheit und die Gesundheit anderer keine Unachtsamkeit leisten. Als vor zwei, drei Jahren die Grippe den Namen Corona trug, war es selbstverständlich, dass man schon bei der kleinsten Ankündigung einer Unpässlichkeit keine alten Leute mehr besuchte. Damals wurden die Vorsichtsmassnahmen allerdings übertrieben, aber auch hier im Zendo beachteten wir die Grundregeln des gegenseitigen Schutzes und fuhren sehr gut damit.
Das scheint jetzt alles vergessen. Man geht wieder halbkrank zur Arbeit, steckt sich gegenseitig an und verzichtet auf die minimalsten Vorsichtsmassnahmen. Denn jetzt heisst es ja wieder bloss Grippe.
Unachtsamkeiten – und sind sie noch so klein – führen oft zu Eigenschaden oder zum Schaden von anderen. Alles, was man anrichtet, sei es gut oder schlecht, fällt irgendwie, irgendwann auf einen selbst zurück. Manchmal sofort, manchmal erst später. Die kleinste Ursache kann grosse Wirkungen haben.
Es ist unbedingt nötig, sich immer bewusst zu sein, dass wir unseren Mitmenschen gegenüber eine Verantwortung tragen. Das gilt nicht nur für dieses Beispiel einer Ansteckung. Es gilt überall, im Strassenverkehr, im Haushalt und in der Freizeit.
Gedankenlosigkeit
Ich erinnere mich an die erste Zeit mit meinem Zen-Lehrer im Kalifornien, als ich bei einer amerikanischen Familie Unterkunft bekam. Diese Familie nahm mich oft auf Ausflüge mit, einmal auch zum Skifahren in den kalifornischen Bergen.
Da ihre zwei kleinen Kinder noch nie Ski gefahren waren, dachte ich: Toll, als Schweizerin kann ich ihnen zeigen, wie das geht. Auf dem Gelände angekommen steuerte, ich allen voran, sofort den Skilift an. Dieser bestand aus einem sich drehenden dicken Seil, an dem man sich festhalten musste und so den Hügel hinaufgezogen wurde. Ich hatte zwar noch nie einen solchen Skilift gesehen, aber ohne einen Gedanken zu verschwenden, packte ich das Seil und … stand, nach zwei Sekunden mit einer aufgerissenen blutenden Handfläche da. – Ich hatte das Seil ohne Handschuhe angefasst!
Die Mutter der Familie musste mich ins nächste Krankenhaus fahren. Meine Hand wurde eine Stunde lang in Jod gebadet, und als die Sonne schon fast unterging, stand ich mit verbundener Hand wieder da, wo alles begonnen hatte.
Als mein Lehrer am nächsten Tag die verbundene Hand sah, (er hatte natürlich bereits erfahren, was geschehen war), hielt er mir eine lange und laute Standpauke. «Was bildest du dir eigentlich ein!» schimpfte er, «was erlaubst du dir? Denkst du, du kannst machen, was du willst? Wie kannst du dich bloss so benehmen! Ich hab dir von Anfang an gesagt, du sollst nicht so «ichig» (selbstbezogen) sein!»
«Wenn du meine Schülerin bist,» fuhr mein Lehrer fort, «erwarte ich von dir Bewusstheit in jedem Moment, Präsenz in jedem Augenblick; du sollst wissen, was du tust! Schau, was du angerichtet hast mit deiner Unvorsichtigkeit! Schau, wie du die Freundlichkeit deiner Gastfamilie missbraucht und sie in die Bredouille gebracht hast.»
Heisst das, dass man kein Vergnügen haben darf, wenn man mit Zen anfängt? Natürlich nicht. Wir sollen und dürfen am vollen Leben teilnehmen. Aber mit Achtsamkeit – Sorgfalt – Umsicht – lieber mit ehrlichem Nichts-Wissen als mit eingebildetem Wissen.
Kontrollverlust
Unser Leben ist sehr fragil. Und das bringt mich zum zweiten Teil von dem, was ich euch gerne sagen möchte.
Robert und ich haben beide folgendes festgestellt: Wenn der Körper so total schwach ist, scheint sich der Kopf – die Gedankenwelt, das oberflächliche Bewusstsein – gewissermassen zu verselbstständigen. Mit anderen Worten: Es herrschte ein riesiges Tohuwabohu im Oberstübchen! Es war fast unmöglich, den Geist zu sammeln und zu fokussieren.
Ich habe immer gedacht: Wenn man das ganze Leben lang meditiert und im dabei in einen Ruhezustand kommt, dann funktioniert dies selbstverständlich auch in einer Notsituation oder wenn man stirbt.
Aber nein. Dem ist nicht zwangsläufig so! Da gibt es keine Sicherheit. Natürlich gibt es Menschen, die einfach aus dem Leben gleiten. Aber erfahrene Meditationsexperten, vor allem die tibetischen Weisen, die sich sehr intensiv mit den Sterbeprozessen beschäftigen, warnen uns seit jeher: Wenn dein Körper schwach ist oder zerfällt, verliert dein Bewusstsein gewissermassen den Boden. Sei darauf gefasst und wisse, dass dein Gemüt, das heisst dein oberflächlicher, ichbezogene Geist, dann äusserst verwirrt sein kann und vielleicht sogar in Panik gerät.
Im vergangenen Jahr, als mehrere Menschen aus meinem Umfeld schwer krank waren, zum Teil mit Todesfolge, haben mir einige genau das berichtet: «Es ist furchtbar, ich gehe durch die Hölle, ich kann nicht mehr meditieren!»
Nichts ist selbstverständlich
Nun hatte ich die Gelegenheit, ähnliches zu erleben und zu beobachten. Nicht dass ich in Panik geriet, aber die Mind spielte tatsächlich verrückt. Worte und Gedankenketten zogen wie auf Lautsprecherwagen durch mein Gemüt. Uralte Erinnerungen tauchten auf und nahmen meine ganze Aufmerksamkeit in Besitz. Auch fand ich zum Beispiel zeitweise keine englischen Worte und Robert keine deutschen, so dass es für uns schwierig war, überhaupt zu kommunizieren.
Auch das Raumgefühl war gestört. Beim Gehen durch die Wohnung – zum WC, zur Küche – stiess ich gegen Möbel und Wände. Ich musste wirklich sehr vorsichtig alle Ecken bewusst umgehen. Sorgfältig einen Fuss vor den anderen stellen!
Das eindrücklichste Erlebnis war beim Essen: Da habe ich gemerkt, wie verrückt wir normalerweise essen. Kaum haben wir einen Bissen geschluckt, kommt schon der nächste! Man wirft sozusagen das Essen in den Bauch wie in einen toten Sack.
Dies war nun absolut unmöglich. Ich erlebte wieder einmal, wie das ist, wenn man die Nahrung Löffel um Löffel aufnehmen, kauen, sie dann sorgfältig den Hals hinunterschicken und warten muss, bis der Magen sagt: Ok, ich habe es angenommen, du kannst noch einen Löffel voll schicken. Manchmal aber schrie er: Nein, um Gottes Willen, keinen zweiten!
Ich habe auch realisiert, wie absurd es ist, etwas zu essen und schon an ein anderes Essen zu denken, was man ja sehr oft tut.
Und so sind mir ganz viele Dingen aufgefallen, die man für selbstverständlich hält, und wie bequem ich normalerweise bin, wenn alles funktioniert. Ich hatte den grossen Wunsch und fasste den Entschluss, nachher, wenn ich wieder gesund bin, nicht einfach so weiter zu machen wie vorher.
Und wisst ihr was? Auch das ist schneller gesagt, als getan! Die Gewohnheiten stehen sofort Spalier und verlangen ihren Tribut!
Durchlässigkeit oder die andere Seite der Medaille
Einmal, als ich das Gefühl hatte, am Ende meines Lateins angekommen zu sein und nichts mehr zu wissen – aber nicht das Gefühl zu sterben – tauchte eine andere lebhafte Erinnerung aus meiner Zeit mit meinem Lehrer in Kalifornien auf.
Das war ebenfalls ziemlich am Anfang meines Aufenthaltes. Noch fühlte ich mich fremd in der Gastfamilie und konnte ihre Sprache kaum verstehen. Ich lag fiebrig im Bett und fühlte mich elend und verlassen. Da kam mein Lehrer zu Besuch, stellte sich neben mein Bett, schaute mich freundlich an, sah meine Tränen und sagte: «Jetzt musst du einfach ganz durchlässig werden, lass alles einfach durch dich hindurch gehen.»
Diese Erinnerung stärkte die andere Seite des gegenwärtigen Erlebens. Das Durchlässig-Werden – was einem Loslassen und sich Ergeben gleichkommt – wurde begleitet vom tiefen Wissen, dass das Tohuwabohu in meinem Gemüt nur die Oberfläche meines Geistes betraf.
So gab es beides: Einerseits das akute Unwohlsein, andererseits die absolute Gewissheit und Ruhe, dass dies alles seinen Sinn hat. Denn solche Dinge passieren nicht zufällig. Ich sagte mir: Jetzt kannst ich vielleicht ein bisschen üben und sehen, wo in letzter Zeit eventuell zu viel Nachlässigkeit, Selbstzufriedenheit, Pseudo-Sicherheit vorhanden war, so dass sich all diese kleinen Unachtsamkeiten und Gewohnheiten einschleichen konnten und mich krankheitsanfällig gemacht haben.
Das Kartenhaus
Wenn man denkt: «Ich übe jetzt schon so lange Meditation und weiss, wie es geht,» ist das eine Falle.
Wir leben nämlich in einem Kartenhaus – allesamt! Unsere Überzeugungen, unsere Gewissheiten, unsere Sicherheiten können in kürzester Zeit plötzlich zusammenfallen und man landet auf dem Boden der Realität.
Wartet also nicht, bis ihr alt oder gebrechlich oder krank seid. Nutzt eure Zeit, den wahren Boden zu finden, zu nähren, zu pflegen. Den Boden unseres Bewusstseins, unseres Geistes, der unser persönliches Auf und Ab, Freud und Leid, trägt und überdauert.
Vergegenwärtigen wir uns die Unsicherheit und Vergänglichkeit unseres Erlebens in dieser Welt. Und verwurzeln wir uns im Wissen, dass unsere Freuden und Vergnügungen, unsere Leiden und Sorgen, unsere Ängste und Schmerzen – das ganze Spektrum des lebendigen Daseins – aus der gleichen Quelle gespiesen wird, nämlich aus dem einen, allen Lebewesen zugehörigen Bewusstsein.
Wenn wir wissen, dass alles aus dieser fundamentalen, kollektiven, universalen Quelle des Lebens spriesst und mit allem anderen zusammenhängt, dann können wir uns bewusst und aktiv, ja sogar freudvoll dem alltäglich Leben stellen und es annehmen. Wir sind hier, um genau die Erfahrungen zu machen, die wir machen und um daraus zu lernen. Denn das Leben strebt aus sich selbst heraus danach, zu wachsen und sich zu entwickeln.
Zwar ist nichts ist so, wie man denkt oder wie man es will, aber es hat seine Ordnung, seinen Platz. Wenn man den Boden der Ralität in sich selbst kennt und nicht aus den Augen verliert, hat man tatsächlich einen Zufluchtsort, der einen auch in der grössten Bedrängnis trägt und schützt.
Präsenz
Man muss lernen, den trivialen Gedanken, Freuden und Leiden in der Meditation keine Beachtung zu schenken. Hier haben die Verstrickungen der Außenwelt nichts zu suchen. Bei der Sammlung in der lebendigen Stille, geht es nicht darum, was ich morgen tue oder gestern getan habe, wer oder was mich gekränkt hat oder was für Wünsche ich habe. Es geht nur darum, hier und jetzt präsent zu sein. Wenn wir diese Präsenz dann in unser tägliches Tun und Lassen hineinbringen, hat dieses eine ganz andere Qualität.
Ich fand meinen Einstieg in die Zen-Meditation durch ein kleines Buch mit dem Titel Alltag als Übung und jetzt, 50 Jahre später, bin ich immer noch und immer wieder überzeugt: Das ist es: Alltag als Übung!. Unser Weg ist im Alltag.
Und so können wir immer neu anfangen, jeden Tag. Wir sollen bloss nicht denken, wir seien fertig und wir können es. Dann wird es langweilig, dann kommen wir in die Mühlen von unseren Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, Pseudo-Sicherheiten.
Wenn man dann ab und zu etwas aus diesem Zustand herauskatapultiert werden, ist es ratsam, sich auf das Wesentliche zu besinnen, statt sich zu beklagen und im Selbstmitleid zu versinken.