Die sechs Welten

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Die sechs Welten – Als ich mich auf den freien Platz neben meinem Trampartner setzte, war er in eine Zeitschrift vertieft. Er sah auf, lächelte und klappte geschickt die Ecke der Seite nach unten, bevor er die Zeitschrift schloss.

„Nicht so schnell“, sagte ich. „Was liest du da so konzentriert?“

„Ich lese über Hühner“, antwortete er.

„Hühner?“ Ich lächelte.

„Ja, Hühner. Wusstest du, dass sie über 100 verschiedene Hühner in ihrer Herde erkennen können? Oder dass sie mindestens so schlau sind wie Hunde oder Katzen? Was sie natürlich schlauer macht als viele Menschen“, fügte er grinsend hinzu.

„Da hast du mich erwischt“, gab ich zu. „Ich weiß, dass Hühner Eier legen und dass jedermann sein Lieblingsrezept für Hühnchen Cacciatore hat. Und natürlich, dass die Veganer Erbsenprotein und Sonnenblumenöl in hühnerähnliches Fleisch umwandeln.“

Mein Freund schlug dann einen aktuellen Report von der Tierschutzorganisation Vier Pfoten auf, und zeigte mir auf Seite15 einen zweiseitigen Artikel mit faszinierenden Fakten über Hühner.

Vier Pfoten hat eine Kampagne gestartet, um unser Wissen über die Tiere, die wir konsumieren, zu erweitern“, fuhr er fort. Du kannst dir diesen Link (vier-pfoten.ch/lerne-das-tier-kennen) kopieren. Es gibt da eine Menge interessanter Dinge.“

Wir hielten einen Moment inne und schauten aus dem Fenster der Tram, um die blühenden Magnolienbäume zu bewundern, die den Frühlings ankündigten, während die Tram zur nächsten Haltestelle raste. Dann begann ich langsam, da ich nicht sicher war, wie aufmerksam er in die vorbeiziehende Landschaft vertieft war und sagte:

„Weißt du, der Buddha lehrte, dass alle Lebewesen in einer von sechs verschiedenen Welten geboren werden können. Eine davon ist die Welt der Menschen. Er sagte auch, es sei ein seltenes Glück, als Menschen geboren zu werden. Er vergleicht es mit der Wahrscheinlichkeit, dass eine blinde Schildkröte einmal in hundert Jahren aus den Tiefen des Ozeans aufsteigt und ihren Kopf genau durch einen Rettungsring steckt, der auf den aufgewühlten Wellen treibt.“ – Balapandita Sutra

Mein Begleiter schaute mich verwirrt an, weil das Gespräch so plötzlich eine andere Richtung eingeschlagen hatte.

„Eine der anderen sechs Welten, in denen wir wiedergeboren werden können, ist die Welt der Tiere“, fügte ich hinzu.

„Du meinst, ich könnte als Huhn wiedergeboren werden?“, fragte er.

„Piep, piep. – Aber man kann in einem einzigen Leben in jeder der sechs Welten weilen, natürlich nicht als Huhn. Die Welt der Tiere zum Beispiel ist Teil des Reichs der Begierden. Wir alle haben Begierden, nicht wahr? Die Welt der Hölle mit ihren Eigenschaften von Wut und Hass wäre ein weiteres Beispiel.

„Lass uns auf das Huhn zurückkommen“, warf mein Freund ein. „Ich lebe mein Leben als Mensch, sterbe dann und komme als Huhn zurück?“

„Ja, das könnte passieren. Insbesondere, wenn man im jetzigen oder früheren Leben eine Vorliebe für Hühnerfleisch hatte. Alles hat seinen Preis, wie das alte Sprichwort sagt. Man isst Huhn und wird ein Huhn, bis man oft genug seinen Kopf verliert, um seine Rechnung für den Verzehr anderer Hühner zu bezahlen.

Ob man im nächsten oder in einem zukünftigen Leben tatsächlich ein Huhn wird oder nicht, ist eine offene Frage. Man könnte das auch vermeiden, indem man zum Beispiel einer Gesellschaft für den Erhalt alter Legehennen Zeit, Mühe oder Zuwendungen spendet. Der entscheidende Punkt ist es, zu verstehen, dass ein Huhn ein fühlendes Wesen ist, genau wie man selbst. Sobald man das verstanden hat, schreckt man automatisch davor zurück, Hühner zu essen. Sie stehen nicht mehr auf der mentalen Speisekarte und deshalb man hört auch auf, selber auf der Speisekarte eines anderen Wesens zu stehen.“

„Wenn das, was du sagst, wahr ist, wie erklärst du dir dann die vielen Berichte über tibetische Mönche und andere, die kurz nach ihrem Tod als Menschen wiedergeboren wurden? Die tibetische Geschichte ist voll von solchen gut dokumentierten Fällen“, fragte mein Freund.

„So wie ich es verstehe, besteht eine gute Chance, dass man, sobald man eine menschliche Geburt erlangt hat, danach wieder als Mensch geboren wird, wenn man ein gutes Leben führt und seine „Verdienste“ nicht verschwendet. Es ist, als hätte man eine Tasche voller Gummibärchen und jedes Mal, wenn man sich dumm verhält, verliert man ein paar. Wenn man sich nicht dumm anstellt, gewinnt man eines oder verlierst wenigstens keins. Früher oder später gehen einem die Gummibärchen aus, aber es kann eine Reihe von Wiedergeburten dauern, bis es soweit ist.

Der Buddha erzählt von Begebenheiten, in denen ihm die Gummibärchen ausgingen und er sich in der Tierwelt wiederfand. In den Jakata-Erzählungen erzählt der Buddha wie er ein Affe, ein Fisch, ein Otter, ein Reh, ein Löwe und sogar als ein Elefant war.“

„Aber“, fuhr ich fort, „es gibt außer der Menschen- und der Tiefwelt vier weitere Welten, in denen man sich wiederfinden kann, je nachdem, wie viele Gummibärchen man hat oder nicht hat, wenn die Zeit als Mensch abgelaufen ist. Es gibt die Welt der Götter, der Devas, der hungrigen Geister und der Hölle. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die Welt der Menschen der beste Übungsplatz für zukünftige Buddhas ist.“

„Erzähl mir mehr über die Tiere“, unterbrach mich mein nun neugieriger Trampartner. „Es gibt Zeiten, in denen ich mir fast wünsche, als Löwe geboren zu werden.“

„Sei vorsichtig, was du dir wünschst“, warnte ich ihn. “Das Shurangama-Sutra hat viel über die Geburt in verschiedenen Welten zu sagen. Vielleicht solltest du es zu Rate ziehen und dir eine zweite Meinung einholen, zu deinem Wunsch, als Löwe wiedergeboren zu werden. Oder in irgendeiner anderen Form, nur nicht als Mensch.“

„Vielleicht sollte ich mich einfach als eine sehr glückliche blinde Schildkröte betrachten“, schlug mein Partner vor.

„Ja, vielleicht sollten wir uns darauf konzentrieren, unser Sehvermögen wiederzuerlangen und ein paar Hühner zu retten, solange wir in diesem menschlichen Geisteszustand sind“, antwortete ich.

Das Gespräch endete und wir schauten beide aus dem Fenster der Tram, verzaubert vom Zauber des Frühlings. Die Magnolienbäume waren nicht mehr da, aber die Menschen in und außerhalb der Tram schienen in der Frühlingssonne, die jeden Winkel dieses verheißungsvollen Morgens erfüllte, aufzublühen.

-robert

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