Die Lehre vom Tao

Das Tao des Atems, Ch’i

Der Schlüssel zur Welt von Chuang-tzu und seinen Gesinnungsgenossen ist das Prinzip der “Übergegensätzlichkeit der Gegensätze”. Wenn man versteht, dass das Tao jegliches “Ja” und “Nein” , “Ich” und” Nicht-Ich” durchdringt, versteht man, dass die Gegensätze nicht wirklich existieren. Das Leben ist ein ständiger Fluss, es kennt keine Unterscheidung in gut und schlecht. Was heute gut und angenehm ist, mag morgen schlecht und nicht auszuhalten sein.

Was heute unmöglich ist, mag morgen plötzlich möglich sein. Was richtig scheint vom einen Standpunkt aus, mag, von einem anderen Aspekt aus gesehen, völlig falsch sein. Wer dies versteht, kann Ja und Nein in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Bedingtheit sehen und ist offen für die Entfaltung des Augenblicks. Das ist wahrhaftige Unbekümmertheit wie die Taoisten sie sehen: 

Der zahnlose Nieh Ch’ueh suchte P’i auf und bat um eine Lektion über das Tao. 

P’i begann: “Zuerst gewinne Kontrolle über den Körper und alle Organe. Dann kontrolliere den Geist. Weile in vollkommener Konzentration auf einen Punkt. Dann senkt sich der Friede des Himmel herab und tritt in dich ein. Du wirst voller Leben stahlen, du wirst im Tao ruhen, du wirst den unbedarften Blick eine neugeborenen Kalbes haben. Oh, du Glückspilz, du wirst die Ursache deines Zustandes nie wissen.”

Doch lang bevor P’i in seiner Predigt so weit gekommen war, fiel der Zahnlose in tiefen Schlaf. Sein Geist konnte einfach nicht ins Fleisch dieser Doktrin beissen. Aber P’i war es zufrieden. Er ging weg und sang: 

“Sein Körper ist trocken, wie ein alter Knochen. 

Sein Geist ist tot, wie tote Asche: 

Sein Wissen ist fest, seine Weisheit ist echt! 

In dunkler Nacht wandert er frei, ohne Ziel und ohne Plan: 

Wer kann sich mit diesem zahnlosen Mann messen?”

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Gemäss der taoistischen Auffassung beruht alles Leben auf der Urenergie Ch’i. Wörtlich kann Ch’i übersetzt werden als “Luft, Hauch, Dampf, Äther, Energie.” Es steht auch für die Lebenskraft oder den kosmischen Geist, der alle Dinge durchdringt und belebt 

Im Zusammenhang mit der Atmung hat das Wort Ch’i zwei Aspekte. Einerseits steht es für die Luft, welche durch Nase und Lunge eingeatmet wird und für den Akt des Ein-und Ausatmens; andererseits steht es für die transformative Kraft des Atems als Wärme, durch welche z.B. Flüssigkeit zu Dampf wird. Diesen beiden Aspekten der Atmung entsprechend unterscheiden die Taoisten zwischen äusserem Ch’i und innerem Ch’i. Das innere Ch’i spielte vor allem in der taoistischen Alchemie eine zentrale Rolle als Mittel zur inneren Wandlung und zum Erreichen von Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit. 

Auch die taoistische Meditationspraxis macht sich das innere Ch’i zu Nutzen. Durch bewusste Lenkung des Atems und der Vorstellungskraft wird das Ch’i gereinigt, gesammelt und durch die geistigen Zentren des Körpers geleitet. Das Ziel dieser Meditation ist es, den Geist vollkommen zur Ruhe zu bringen und sich selbst völlig zu vergessen. In dieser stillen Selbstvergessenheit, kann es zur sogenannten “Erfahrung der Goldenen Blüte” kommen. Die “Goldene Blüte” ist ein taoistisches Sinnbild für das “Licht des reinen Yang, das im Dunkeln des reinen Yin scheint”. Mit diesen Metaphern umschrieben die alten Chinesen die letztlich unsagbare Meditationserfahrung, die auch als “Rückkehr zum Ursprung” bezeichnet wird.

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Man darf vermuten, dass es sich bei dieser “Rückkehr zum Ursprung” um dasselbe archetypische Erleben handelt, wie bei der buddhistischen “Erleuchtung” oder beim “Satori” des Zen. Es ist charakterisiert durch eine Art “Schauen des wahren Wesens”. Man darf diese Erfahrung als archetypisch bezeichnen, da sie von vielen Menschen verschiedener Kulturen und Zeiten berichtet wird. Egal, ob es sich um Taoisten, Buddhisten oder westliche Mystiker handelt, sie alle sprechen in der einen oder anderen Form vom “reinen Licht” und von der “reinen Liebe”, die sich aus der tiefsten Dunkelheit offenbaren. Um die selbstvergessene Versenkung zu verwirklichen, braucht es in der Regel jahrelange Übungen und Meditationen, welche die Taoisten nur im direkten Kontakt von Meister zu Schüler erklärten. 

In der Methodik der taoistischen Meditation verbindet sich das Konzept von innerem und äusserem Ch’i mit dem Konzept der pränatalen und postnatalen Atmung. Die grundlegende Idee besagt, dass die vorgeburtliche Atmung des Kindes von Nase und Lunge unabhängig ist. Das aus dem mütterlichen Blutkreislauf stammende, sauerstoffreiche Blut tritt durch den Nabel des Kindes und zirkuliert im Körper. Nach der Geburt, wenn die Nabelschnur durchschnitten ist, übernehmen die Atemorgane des Kindes ihre Funktion, und die Bauchatmung wird vergessen.

In der Auffassung der Taoisten geht sie aber nicht verloren. Zwar atmen die meisten Menschen ihr Leben lang nur mit der Nase und der Lunge, doch wenn es darum geht, Ch’i zu aktivieren, um den ruhenden Pol in der innersten Mitte zu finden, greifen die Taoisten auf die pränatale Atmung zurück. Die pränatale Atmung findet im Unterleib statt. “Rückkehr zum Ursprung” bedeutet in diesem Fall auch die Vereinigung von postnataler und pränataler Atmung. 

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Bei erfahrenen Meistern gibt es in den weit fortgeschrittenen Meditationsstadien keine Atmung mehr durch Nase und Lunge, auch kein Puls ist zu fühlen und jegliches bewusstes Denken ist verlöscht Die “Grosse Stille” ist erreicht. Dieselbe Erfahrung ist auch den Meistern des Yoga und der buddhistischen Meditation bekannt. 

Obwohl es äusserst schwierig ist, eine derart intime Sache wie das Atmen in Worte zu fassen, sei im folgenden ein Versuch gewagt, die taoistische Technik der Bauchatmung zu beschreiben. Doch es kann nur die rudimentäre Grundlage beschrieben werden, in der Praxis kennen die Meister zahlreiche Abwandlungen und Ergänzungen.

Die grundlegenden taoistischen Atemübungen können im Stehen, Sitzen, Gehen oder Liegen durchgeführt werden. Die folgende Beschreibung betrifft die Sitzhaltung: 

Vorbereitung

Man suche sich einen ruhigen, sauberen Ort, ziehe lose Kleidung an und setze sich auf einen festen Stuhl oder auf ein festes Kissen auf den Boden. Bei der Körperhaltung sind folgende Punkte zu beachten: Die Wirbelsäule ist aufrecht. der Kopf zentriert, die Schultern und Arme entspannt, letztere leicht gebeugt in den Ellbogen. Die Hände liegen im Schoss. Die Augen sind weder ganz offen noch ganz zu, die Lippen leicht geschlossen. Motto: Nicht zu steif, nicht zu schlaff. 

Mindestens so wichtig wie die Körperhaltung ist die innere, geistige Haltung. Dafür gelten folgende Anweisungen: Es ist nicht zu erwarten, dass die inneren Vorgänge wie Gedanken und Sinneswahrnehmung oder die inneren Bilder verschwinden. Man soll sich nicht anstrengen, sie “abzustellen”; besser ist es, die Aufmerksamkeit davon abzulenken und auf den Atem zu richten. Ungeduld, Erwartungen sowie Selbstkritik sind hinderlich und sollen deshalb unterbunden werden. Motto: Sei wach, nicht zu verspannt, nicht zu locker. 

Atmung

Noch wichtiger als die Körperhaltung und die innere Haltung ist die richtige Art des Atmens. Zu Beginn mache man einige kräftige Atemzüge durch den Mund, um alle verbrauchte Luft aus den Lungen zu entfernen. Traditionelle taoistische Schriften empfehlen, sechs Mal ein- und auszuatmen. Nach dieser Vorübung atme man normal durch die Nase ein und aus: ruhig und langsam, ohne ein Geräusch zu verursachen. 

Dann richte man die Aufmerksamkeit auf das innere Zentrum etwas 3 cm unterhalb des Nabels, welches als (unteres) Tant’ien, Hara oder Manipura-Chakra bekannt ist. Dieses Zentrum gilt als der ursprüngliche Sitz des Ch’i. Nun atme man langsam vollständig ein. Dabei hebt die innere Atmung und die Konzentration des Geistes das Ch’i vom Tant’iem zum Solarplexus empor. Der dem Herz naheliegende Solarplexus gilt als “Sitz des Feuers”. Als nächstes atme man langsam und vollständig aus. Bei der Ausatmung führt die äussere Atmung zusammen mit der Konzentration des Geistes das Ch’i vom Solarplexus in den untersten Bereich des Unterleibes. Dort, in der Nachbarschaft der Nieren, befindet sich der “Sitz des Wassers”. 

Das mehrmalige Auf- und Abbewegen des Ch’i zwischen Abdomen und Solarplexus heisst “kleinere himmlische Zirkulation”. 

Diese wird auch beschrieben als die Vereinigung von Feuer und Wasser. (An dieser Stelle ist es vielleicht interessant zu bemerken, dass sowohl die taoistischen als auch die buddhistischen Schriften manchmal davon sprechen, der Mensch müsse, um heil zu sein, zweimal geboren werden, einmal materiell aus dem Mutterleib, das zweite Mal geistig aus “Wasser und Feuer”. Jesus sprach von der zweiten Geburt als der Geburt aus “Wasser und Geist”.) 

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Die “kleine Zirkulation” dient der Reinigung und Verfeinerung des Ch’i. Sie ist auch Vorbereitung für den nächsten Schritt, welcher in der “grossen himmlischen Zirkulation” besteht. Die Taoisten unterscheiden acht feinstoflliche Kanäle und zwölf psychische Zentren, die in “grossen Zirkulation” alle eingeschlossen sind. Da die korrekte Praxis dieser Atemform traditionell nur im direkten Kontakt mit einem Meister gelehrt wird, sei auf eine Beschreibung hier verzichtet. 

Wenn es um Erklärungen oder um den philosophischen Hintergrund ihrer Atemtechniken geht, berufen sich alle taoistischen Meister auf ‘Lao-tzu, Chuang-tzu und das l-Ching, Die Grundlage bildet immer die Beobachtung der Natur und das Bestreben, es dieser gleichzutun. So sprechen die Taoisten bei der Atmung von “himmlischen” Zyklen, weil sie die vom Ch’i aufrechterhaltene energetische Wechselwirkung von Yin und Yang mit den Bewegungen der Gestirne in Verbindung bringen. Der “kleine” Zyklus bezieht sich auf die tägliche Bewegung von Sonne und Mond, der “grosse” Zyklus auf das ganze Himmelsgeschehen während eines Jahres. 

In der taoistischen Medizin werden die Atemtechniken zur Prävention oder zur Heilung von Krankheiten ausgeführt. Auch westliche Ärzte beginnen mehr und mehr, den positiven Effekt einer tiefen Atmung auf die Gesundheit zu verstehen und zu fördern. 

Da richtig geleitetes Ch’i fast übermenschliche Kräfte erzeugt, wurden die Taoisten durch die Verbindung von Meditation und Atemtechnik auch Meister in der Kunst der Selbstverteidigung. Tai Chi Chuan, Chi Qung und Kung-fu sind nur einige Beispiele von Methoden, die auch in der westlichen Welt Einzug gehalten haben. 

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