Die Lehre vom Tao

So sprach Lao-tzu

Wer je in Kälte oder Hitze, in Nässe oder Trockenheit körperlichen Schaden erlitten hat, weiss, dass der Geist erstickt, wenn der Körper erschöpft ist. Wessen Geist durch Gefühle und Gedanken verletzt ist, der weiss, dass der Körper auf der Strecke bleibt, wenn der Geist erschöpft ist. Daher vertrauen wahre Menschen bewusst ihrer innersten Natur und ihrem Geist, die sich gegenseitig stützen. So kommt es, dass sie schlafen, ohne zu träumen, und erwachen, ohne von Sorgen bedrückt zu sein. 

In Zeiten des Verfalls gruben die Herrscher nach Mineralien, sie schürften nach Erz und suchten nach Jade, schmolzen Metalle; also konnte nichts blühen und gedeihen. Sie öffneten trächtigen Tieren den Bauch, plünderten Vogelnester. Sie schlugen Bäume, um Häuser zu errichten, sie brannten Wälder nieder, um ihre Felder zu vergrössern, sie fischten in den Seen, bis es dort keine Fische mehr gab.

Sie häuften Erde an, so dass sie auf Hügeln leben konnten und gruben in die Erde, um aus Brunnen trinken zu können. Sie machten die Flüsse tiefer, um Wasserreservoirs anzulegen, sie errichteten Stadtmauern, die sie für sicher erachteten, hielten Tiere und zähmten sie. 

So waren Yin und Yang verworren: Die vier Jahreszeiten folgten nicht mehr ihrer Ordnung, Donner und Blitz führten zu Zerstörung, Hagel und Frost richteten Schäden an. Viele Wesen starben verfrüht, Pflanzen und Bäume welkten im Sommer, die grossen Flüsse hörten auf zu fliessen. Berge, Flüsse, Täler und Schluchten wurden aufgeteilt und abgegrenzt.

Gerätschaften und Hindernisse wurden zu Verteidigungszwecken gebaut, die Farben der Kleidung wurden geregelt, um die gesellschaftlichen Schichten zu unterscheiden. Belohnungen und Strafen wurden den Guten und den Unwürdigen zugemessen. So entwickelten sich die Bewaffnung, und es kam zu Kämpfen. Hier begann das Hinschlachten von Unschuldigen. 

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Gesetze fallen nicht vom Himmel und entspringen nicht der Erde, sie entstammen der Selbstreflexion und Selbstkontrolle der Menschen. Wenn du wirklich an der Wurzel angelangt bist, werden dich die Zweige nicht mehr verwirren; wenn du weisst, was wesentlich ist, werde dich keine Zweifel mehr plagen. 

Der Weg des Chuang-tzu

Mit Humor. literarischer Genialität, Gelehrsamkeit. und tiefer Einsicht nahm Chuang-tzu Bezug auf Geschehnissen und Auseinandersetzungen seiner Zeit, in dem er sie im Lichte des grossen Tao beleuchtete. Während einige von ihm behandelte Themen eine enge Vertrautheit mit dem chinesischen Konfuzianismus erfordern, sind andere dank ihrer Universalität oder immer wiederkehrenden Aktualität auch auf unsere Verhältnisse übertragbar. 

Charakteristisch für Chuang-tzus Weg sind: Kritik an gekünsteltem Gehabe, Ablehnung von jeglichem absichtsvollen Streben nach Glück und Tugend, schlichter Lebenswandel in Abgeschiedenheit, vollkommene Hingabe an das grosse, ewige Tao, spontanes Handeln ohne Absicht und Ego (Wu-Wei). 

Wer im konfuzianischen China irgend einen Einfluss haben wollte, sei es als Wissenschaftler, Arzt, Priester oder Geschäftsmann, musste dafür sorgen, dass er einen Posten im öffentlichen Dienst bekam, denn nur die Beamten galten als vollwertige Bürger. Doch Chuang-tzu weigerte sich, sich so einspannen zu lassen. Folgende Anekdote ist typisch für ihn: 

Eines Tages, als Chuang-tzu beim Fischen war, sandte der Prinz Chu seine zwei Vizekanzler zu ihm mit einem formalen Schreiben: “Hiermit erklären wir Sie zum Ministerpräsidenten.” 

Chuang-tzu wandte seinen Blick nicht vom Wasser und sagte: “Es soll irgendwo eine heilige Schildkröte geben. Sie wurde vor dreitausend Jahren heilig gesprochen. Sie befindet sich in Seide gehüllt in einem wertvollen Schrein auf einem Altar im Tempel, und der Prinz huldigt ihr. Was ist wohl besser, sein Leben aufzugeben und eine heilige Schale zurückzulassen und dreitausend Jahre lang als Kultobjekt in einer Weihrauchwolke zu dienen oder als eine gewöhnliche Schildkröte zu leben und den Schwanz im Schlamm nachzuziehen?” 

“Für die Schildkröte ist es sicher besser, zu leben und den Schwanz im Schlamm nachzuziehen”, antwortete einer der Vizekanzler. 

“Dann geht nach Hause und lasst mich meinen Schwanz im Schlamm nachziehen”, sagte Chuang-tzu. 

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Diese Haltung führte zu einer Kontroverse, die auch in unserer Zeit nicht unbekannt ist. Es ist die Frage, ob der einzelne Mensch das Recht habe, sich nur um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern oder ob es seine Pflicht sei, seinen Teil zum Allgemeinwohl beizutragen, auch wenn dies seinen eigenen Interessen zuwiderläuft. Haben wir es bei Chuang-tzu mit einem Egoisten zu tun, der sich der Allgemeinheit aus Eigennutz entzieht?

Eng damit verknüpft ist die Frage, was mehr zählt: das Leben und die Integrität der Person oder die Aufgabe, zu der die Person zugunsten des Allgemeinwohls aufgeboten wird? Viele Texte im Wahren Buch vom südlichen Blütenland nehmen auf diese Frage Bezug. Kurz zusammengefasst muss man sagen: Es kommt auf die Motivation an. 

Chuang-tzu verweigerte sich nicht aus persönlichem Interesse, er war kein Anhänger der sogenannten persönlichen Freiheit, die dem Individuum erlaubt zu tun, was immer ihm beliebt, um in selbstzentrierter Spontaneität zu schwelgen. Wenn sich Chuang-tzu gegen die Übernahme eines öffentlichen Amtes wendete, geschah dies nicht, weil er nicht mit ermüdenden Pflichten belästigt werden wollte, sondern im Namen von etwas Höherem. Dies ist eine wichtigste Tatsache, an die wir westliche Menschen uns erinnern müssen, wenn wir die Verweigerung von Chuang-tzu oder der späteren Zen-Meister verstehen wollen. 

Chuang-tzus tiefste Sorge war, dass das vom Staat geförderte kultivierte Pflichtgefühl, das organisierte Mitgefühl und die dogmatische Gerechtigkeit nicht tief genug gingen. Diese Tugenden produzierten zwar wohlerzogene, tüchtige Beamte und sogar kultivierte Menschen, aber sie machten aus ihnen Gefangenen von festgelegten äusseren Normen, die es ihnen verunmöglichten, spontan und wirklich frei im Leben zu stehen. 

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Auch die Konfuzianer liebten das Tao. So gesehen waren alle chinesischen Philosophen “Taoisten”, denn die Idee von Tao durchzieht in der einen oder anderen Form das gesamte chinesische Denken. Doch Chuang-tzu glaubte, dass das Tao, von dem Konfuzius sprach, nicht das “grosse Tao” war, welches unsichtbar und unfassbar ist. Konfuzius mag Zugang gefunden haben zum “benennbaren Tao”, zur “Mutter aller Dinge”, nicht aber zum Tao, “welches nicht benannt werden kann.” Konfuzius propagierte ein “Tao der Menschen” oder ein “ethisches Tao” – analog zur Goldenen Regel: “Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu”.

In den Augen von Chuang-tzu führte dies in die Irre, weil das “ethische Tao” zu einem abstrakten Prinzip wurde, das sich die Herrschenden beliebig nutzbar machten. Da gab es das “Tao der Vaterschaft”, das “Tao des Sohn-Seins”, das “Tao des Frau-Seins”, das “Tao des Minister-Seins” usw. Alle diese “Tao” verkamen zu Regeln, deren einziger Zweck es war, die gängigen Verhaltensformen, Ideen, Prinzipien und Methoden einer Zeitepoche zu kontrollieren und zu erhalten. 

Chuang-tzu bemerkte trocken, dass das ethische Tao illusorisch wird, wenn man glaubt, was gut sei für einen selbst, sei auch gut für andere, ohne dass man wirklich weiss, was gut für einen selbst ist. Er zeigte, dass das Glück prinzipiell keine Sache ist, die man erlangen kann, weder durch tugendhaftes Benehmen noch durch skrupelloses Ansammeln von Güter. Er sagte: Gibt es vollkommenes Glück auf der Welt oder gibt es das nicht? Gibt es eine Methode, um das Leben vollständig lebenswert zu machen oder ist dies unmöglich. Wenn ja, wie kann man ihn finden? Was soll man tun, was meiden? Was soll man annehmen, was ablehnen? Was soll man lieben, was hassen?” 

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Was die Welt liebt, sind Geld, Ruhm, ein langes Leben, Erfolg. Zum Glück gehören körperliche Gesundheit, gutes Essen, schöne Kleider, gute Kunst, angenehme Musik. 

Was verteufelt wird, sind Geldmangel, ein tiefer sozialer Status, einen schlechten Ruf und einen frühen Tod. Als Unglück gilt körperliches Unbehagen und Mühe, Mangel an Nahrung, Kleidern, Vergnügungen, keine schöne Musik. 

Wenn die Menschen diese Glück bringenden Dinge nicht haben können, fallen sie in Panik und Verzweiflung. Sie sorgen sich so sehr um das Glück, dass ihnen das Leben unerträglich wird, selbst dann, wenn sie alles haben, was sie haben möchte. 

Die Reichen machen sich das Leben schwer, weil sie mehr und mehr Geld haben wollen, das sie gar nicht gebrauchen könne. So verlieren sie sich selbst und machen sich zu Sklaven anderer. Die Ehrgeizigen rennen Tag und Nacht dem Erfolg nach, dauernd in Sorge, ein Plan oder eine Berechnung könnte misslingen und alles zerstören. So verlieren sie sich selbst im Dienst der Gespenster, die sie mit ihren unersättlichen Hoffnungen erschaffen haben. 

Die Geburt des Menschen ist die Geburt seiner Sorgen. Je länger er lebt, umso stupider wird er. Er lebt für das, was ewig unerreichbar ist. 

Wie verhält es sich mit den selbstaufopfernden Beamten und Gelehrten? Sie werden von allen verehrt, weil sie gut, rechtschaffen und aufopfernd sind. Trotzdem schützt sie ihr guter Charakter nicht vor Unglück, nicht einmal vor Schande, schon gar nicht vor dem Tod. Könnte es sein, dass ihre “Güte” sogar die Quelle ihres Unglücks ist? 

Nehmen wir an, sie seien glücklich. Doch ist es eine derart glückliche Sache, einen Charakter und eine Karriere zu haben, die letztlich zur Selbstzerstörung führen? Kann man andererseits jemanden als unglücklich bezeichnen, der sich selbst opfert, um das Leben und den Reichtum anderer zu retten? 

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Ich kann nicht sagen, ob das, was die Welt für Glück hält, Glück ist oder nicht. Das Einzige, was ich sehe, ist dass die Menschen dieses Glück mit grimmiger Miene verfolgen, besessen, dem menschlichen Herdentrieb verfallen, unfähig anzuhalten oder die Richtung zu ändern. Und die ganze Zeit erklären sie, das Glück sei gleich um die Ecke. 

Was mich anbetrifft, ich kann ihren Massstab für Glück nicht akzeptieren und frage mich, ob nicht das ganze Konzept von Glück bedeutungslos ist. Meiner Meinung nach kann man kein Glück finden, solange man nicht aufhört, danach zu suchen. Mein grösstes Glück besteht genau darin, absolut nichts zu tun, was Glück bringen soll. Und das ist für die meisten Menschen das Allerschlimmste. Für mich gilt: Vollkommenes Glück ist, ohne Glück zu sein. 

Wenn man mich fragt, was man tun und lassen soll, um Glück auf der Welt zu erzeugen, antworte ich, dass es auf diese Frage keine endgültige Antwort gibt. Solche Dinge kann man nicht kontrollieren. Wenn ich hingegen aufhöre, nach Glück zu streben, zeigt sich von selbst, was “richtig” ist und was “falsch”. Zufriedenheit und Wohlergehen stellen sich in dem Augenblick ein, wo man sich nicht darum kümmert und das Nicht-Tun praktiziert. 

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Warum fällt der sich aufopfernde Mensch gemäss Chuang-tzu in dieselbe Falle wie der selbstzentrierte, vergnügungssüchtige Hedonist? Weil er das “Gute” als ein Objekt betrachtet. Er bemüht sich bewusst und mit Absicht darum, seine Pflicht zu tun, im Glauben, dass dies das Gute sei, und mit Glück belohnt werde.

Er sieht das Gute und das Glück als zwei Dinge, die draussen in der Welt existieren, und die man durch richtige Taten erlangen kann. Dadurch wird er das Opfer einer geteilten Welt, aus der es keine Flucht gibt. Je mehr man “das Gute” aussen sucht, umso mehr muss man sich damit beschäftigen, was “das Gute” überhaupt ist; man muss seine Eigenschaften studieren, analysieren und definieren.

Dadurch verwickelt man sich in abstrakte Begriffe und in das Geflecht unterschiedlicher Meinungen. Je mehr man sich von der Wirklichkeit entfernt, desto abstrakter und unwirklich wird das Gesuchte. Schliesslich wendet man die ganze Zeit auf, herauszufinden, was denn das Gute sei, das man haben sollte, um glücklich zu sein. 

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Chuang-tzu erlaubte es sich selbst nicht, in diese Falle der Parteilichkeit zu fallen. Für ihn bestand der Weg des Tao darin, beim einfachen Guten anzufangen, mit dem jeder Mensch von Natur aus ausgestattet ist. Er sagte: “Wenn man sich selbst verbessern will, kommt man automatisch in Konflikt mit dem Tao. Was im Konflikt mit dem Tao ist, hat keine Dauer. Wer jedoch in Harmonie mit dem Tao lebt, dem zeigt sich richtig und falsch von selbst.” Einer seiner Sprüche lautet: 

Fische werden im Wasser geboren, der Mensch im Tao. Wenn die im Wasser geborenen Fische im dunklen Schatten des Teiches bleiben, bekommen sie alles, was sie brauchen und sind zufrieden. 

Wenn der im Tao geborene Mensch sich in den dunklen Schatten von Nicht-Tun sinken lässt und seine Aggression und Sorgen vergisst, fehlt ihm nichts. Sein Leben ist sicher. 

Moral: Alles, was der Fisch zu tun hat, ist, sich im Wasser zu verlieren. Alles, was der Mensch zu tun hat, ist sich im Tao zu verlieren

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Für Chuang-tzu ist der wahrhaftig grosse Mensch nicht einer, der ein Leben lang Rechtschaffenheit und nutzbringende Methoden studiert und praktiziert, sondern derjenige, in welchem Tao ohne Hindernis wirkt. Dies ist ein “Mensch des Tao”. Er sagte: 

Der Mensch, in welchem Tao ungehindert wirkt, schadet keinem Wesen durch sein Tun. Doch er weiss nichts von “freundlich” oder “sanft”. 

Der Mensch, in welchem Tao ungehindert wirkt, kümmert sich nicht um seinen eigenen Vorteil und verachtet diejenigen nicht, die es tun. Er strengt sich nicht an, Geld zu verdienen und macht aus Armut keine Tugend. Er geht seines Weges ohne sich auf andere zu verlassen und ist nicht stolz darauf, unabhängig zu sein. Während er selber nicht der Menge folgt, beklagt er sich nicht über diejenigen, die es tun. Rang und Lohn reizen ihn nicht, Schande und Scham schrecken ihn nicht ab. Er schaut nicht immer auf richtig und falsch, und sagt nicht dauernd “Ja” oder “Nein”. 

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Deshalb sagten die Alten: 

Der Mensch des Tao bleibt unbekannt.
Vollkommene Tugend erzeugt nichts.
Nicht-Selbst ist wahres Selbst. 
Der grösste Mensch ist niemand.

Der “Mensch des Tao” zieht es vor, im Dunkeln und in Abgeschiedenheit zu weilen”: Doch Chuang-tzu war kein professioneller Eremit. Er verfolgte kein spezifisches Programm zur geistigen Reinigung und zur Kultivierung des Innenlebens.

Ein Leben der absichtsvollen Kontemplation, das einen Menschen nur selbstbezogener macht und ihm erlaubt, sich ausschließlich mit dem eigenen Inneren zu beschäftigen, wäre für Chuang-tzu ebenso illusorisch wie das geschäftige Leben eines Wohltäters, der versucht, anderen seine eigene Überzeugung vom Guten aufzuzwingen, und diejenigen, die nicht mit ihm einverstanden sind zu “Feinden seiner eigenen Güte” macht. Der wahre “Mensch des Tao” findet Frieden jenseits von Tun und Nicht-Tun. 

Richtig verstanden, bedeutet Wu-Wei nicht bloße Inaktivität, sondern perfektes Tun. Es ist ein Tun in Übereinstimmung mit Himmel und Erde, nicht im Streit, sondern in Harmonie mit der Dynamik des Ganzen. Es ist frei, weil es nicht bedingt oder begrenzt ist durch individuelle Wünsche und Bedürfnisse, Theorien und Ideale. 

Gemäss Chuang-tzu ist dieses freie Tun nur möglich, wenn man sich vom “Zwang zum Gewinnen” befreit. Im “Zwang zum Gewinnen” erkennt Chuang-tzu eine enorme Selbstschwächung: 

Wenn ein Bogenschütze um nichts schiesst, ist er im vollen Besitz seines Könnens. Wenn er um eine Messingschnalle schiesst. ist er bereits nervös. Wenn er um einen Preis aus Gold schiesst, sieht er gar nichts oder zwei Zielscheiben zugleich. Er verliert den Verstand! Sein Können hat sich nicht verändert, aber der Preis teilt ihn entzwei. Er ist befangen. Er denkt mehr an den Preis als an das Schiessen. Der Zwang zum Gewinnen raubt ihm die Kraft. 

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An einer anderen Stelle zeigt Chuang-tzu, wie verheerend es sein kann, wenn man seine eigene Schlauheit und Virtuosität zur Schau stellt: 

Der Prinz von Wu nahm ein Boot zum Affenberg. Sobald die Affen ihn kommen sahen, flohen alle in Panik und versteckten sich in den Baumwipfeln. Nur einer blieb vollkommen unbekümmert; er schwang sich für alle sichtbar von Ast zu Ast und machte viele Kapriolen. Der Prinz schoss einen Pfeil auf ihn ab, doch der Affe fing ihn geschickt aus der Luft auf. Darauf befahl der Prinz seinen Gefolgsleuten, eine ganz Salve von Pfeilen abzuschiessen, worauf der Affe sofort tot zu Boden fiel.

Der König wandte sich an seinen Gefährten und sagte: “Siehst du, was da vor sich ging? Das Tier stellte seine Schlauheit zur Schau. Es verliess sich ganz auf seine Besonderheit und dachte, niemand könne ihm etwas anhaben. Merke dir: Verlasse dich nie auf Besonderheit und Talent, wenn du es mit Menschen zu tun hast.” 

Da machte sich Yen Pu’i zum Schüler eines Weisen. Er lernte, alles zu verlernen, was ihn hervorragend machte, und jegliche “Besonderheit” zu verbergen. 

Bald wussten im ganzen Königreich keiner mehr, was man von ihm halten sollte. Und so bewunderte man ihn. 

Mit dieser Parabel zeigt Chuang-tzu seinen “Mittleren Weg” zwischen Qualitäten haben und keine Qualitäten haben. Der springende Punkt ist es, seine Qualitäten so zu haben, als hätte man keine. Das ist nur möglich, wenn man seine Fähigkeiten nicht als persönliches Verdienst, sondern als Eigenschaft des Tao betrachtet. So kann man in der Gemeinschaft positiv wirken, ohne als Urheber, ohne als “gut” zu gelten. 

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Diese von Chuang-tzu sowie von Lao-tzu gepredigte Bescheidenheit ist nicht die bewusste Bescheidenheit, die auf Anerkennung aus ist, sondern eine Art “kosmische” Bescheidenheit. Sie haftet einem Menschen an, der sich der eigenen Nichtigkeit voll bewusst ist und sich selbst vollkommen vergisst: Er ist “wie ein trockener Baumstumpf’, wie “tote Asche”. Man kann diese Bescheidenheit “kosmisch” nennen, weil sie mit der Natur aller Dinge übereinstimmt, und voller Leben und Wachheit und mit grenzenloser Vitalität und Freude auf alle Lebenserscheinungen antwortet. Im folgenden singt Chuang-tzu ein Freudenlied über die wunderbare Wirkungskraft des Tao: 

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Mein Meister sagte: Tao, wie tief, wie still ist sein Versteck! Tao, wie rein! Ohne diese Stille würde Metall nicht klingen; ein angeschlagener Stein würde nicht antworten. Die Kraft des Klanges ist im Metall und Tao in allen Dingen. Wenn sie zusammenstossen, bringen sie Tao zum Klingen und sind dann wieder still. 

Der König des Lebens geht frei seines Weges. Er würde sich schämen, geschäftig zu sein. Seine Wurzeln ragen tief in den Ursprung, tief in die Quelle. Sein Wissen ist im Geist geborgen und er wächst zu Grösse. Sein Herz öffnet sich weit, eine Zufluchtsstätte für die ganze Welt. Ohne zu planen kommt er heraus in Würde, ohne zu planen geht er seinen Weg, und alle folgen ihm. 

So ist der königliche Mensch, der über dem Leben reitet: Er sieht im Dunkeln, hört, wo es keine Geräusche gibt. Er allein sieht in tiefster Dunkelheit Licht. Er allein hört im Klanglosen Musik. Er kann die niedrigsten aller niedrigen Orte besuchen und Menschen finden. Er kann auf der höchsten aller Höhen stehen und Sinn finden. Er ist mit allen Wesen verbunden. Das, was nicht ist, geht mit ihm. Auf dem, was sich unaufhörlich bewegt, steht er still. Gross ist ihm klein, lang ist ihm kurz, und alles Feme ist ihm nah. 

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Was den Menschen des Tao als solchen charakterisiert, ist seine Naturverbundenheit. Die Hälfte aller Gestalten, die uns Chuang-tzu zur Illustration seines Anliegens vor Augen führt, sind Tiere, Vögel, Fische, Frösche usw. Sein Taoismus zeichnet die ursprüngliche Welt des Paradieses, in welchem noch keine Aufteilung vorhanden war, in welcher der Mensch, noch nicht selbstbewusst im Frieden mit sich selbst, mit Tao und mit anderen Wesen lebte.

Aber für Chuang-tzu ist dieses Paradies nicht etwas, das unwiderruflich durch einen Sündenfall verloren ging, und das nur durch Erlösung wieder erlangt werden kann. Es ist immer noch unser, doch wir wissen es nicht, weil das Leben in unserer Zivilisation so kompliziert geworden ist, dass wir vergessen haben, wer wir wirklich sind. Doch statt uns wieder am ursprünglichen Tao zu orientieren, entfernen wir uns davon durch das vergebliche Bemühen um Selbstverbesserung. 

Schlussfolgerung: Chuang-tzus paradoxe Lehre, dass man niemals Glück finden wird, bis man aufhört, danach zu suchen, dass man den Zwang zum Gewinn aufgeben soll und das Nicht-Handeln die beste Art des Handelns ist, darf nicht negativ interpretiert werden. Er predigt nicht den Rückzug aus einem vollen, aktiven, menschlichen Leben in stille Untätigkeit. Er sagt, dass Glück durchaus zu finden ist, aber nicht als die Frucht eines bestimmten Programms oder Denksystems. Jedes System hat die Tendenz, andere Möglichkeiten auszuschliessen und wirkt deshalb auf die Dauer destruktiv. Freiheit und das Glück sind überall zu finden, da Tao überall ist. 

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