Bhavacakra

Dhyana – Sommer 2017, Robert Wydler Haduch

Inhalt

Einleitung

Bhavacakra – Das Bhavacakra Mandala repräsentiert das Zusammenwirken aller Elemente, die unsere zyklische Existenz in dieser weltlichen Realität ausmachen. Es ist eine Landkarte des menschlichen Kreislaufs durch Geburt, Krankheit, Alter, Tod und wieder zurück, ad infinitum. Wobei «ad infinitum» bedeutet, dass wir immer im Kreis gehen, und dies solange bis wir die Kette-des-abhängigen-Entstehens (Pratītyasamutpāda) durchbrechen.

Der Begriff «Bhavacakra Mandala» bedeutet wörtlich «Rad des Werdens» (Bhava = Werden; Cakra = Rad). Andere Übersetzungen nennen es «Lebensrad» oder «Kreislauf des Lebens».

Man findet Darstellungen des Mandalas an Wänden von tibetischen Tempeln in der ganzen Welt. Der einzige Zweck dieser Gemälde ist es, die Menschen über die Vergänglichkeit des Lebens zu instruieren und sie an die zahlreichen Fallgruben zu erinnern, die alle erwarten, die ihr Leben nicht im Rahmen der Vier-Edlen-Wahrheiten der buddhistischen Weisheitslehre führen.

Divyavadana

Gemäss der buddhistischen Legendensammlung Divyavadana war es der Buddha selbst, der das erste Bhavacakra Mandala erschuf. Es heisst, der König Rudrayana habe dem König Bimbisara von Magadha ein mit Juwelen besticktes Gewand geschenkt. Weil König Bimbisara nichts Gleichwertiges als Gegengeschenk zu offerieren hatte, fragte er den Buddha um Rat. Der Buddha gab Anordnungen zur ersten bildlichen Darstellung des und forderte Rudrayana auf, das Gemälde Bimbisara zu übergeben. Es wird berichtet, dass Rudrayana durch die Kontemplation dieses Bildes zu tiefer Erkenntnis kam.

Der Buddha mag die erste Version des Bhavacakra veranlasst haben, doch die Darstellung auf dem beiliegenden Blatt ist ganz und gar im tibetischen Stil gemalt. Die Gottheit, die das kreis-förmige Mandala hält, ist nur dem Tibetischen Buddhismus zu eigen. Es ist Yama, der Gott des Todes. Er gehört zu den zornigen Göttern. Das tibetisch-buddhistische Weltbild kennt hundert Gottheiten, 42 friedliche und 58 zornige. Es sind allesamt erleuchtete Wesen, weibliche und männliche, deren Aufgabe es ist, Lebewesen zur Erleuchtung zu führen. Yama ist einer der Bekanntesten unter ihnen.

Begegnung mit Yama

Eines frühen Morgens im Mai hatte ich das Glück, Yama zu erhaschen, als er gerade damit beschäftigt war, seinen Pflichten in dieser menschlichen Welt nachzukommen. Freundlich, wie er ist, erklärte er sich einverstanden damit, ein paar Fragen zu beantworten und uns einige Informationen über die Struktur des Bhavacakra zu geben. Das Folgende ist eine überarbeitete Version unseres Interviews.

Interviewer (I):
Vielen Dank verehrter Herr Yama für die Genehmigung dieses Interview. Ich weiss Ihre Grosszügigkeit sehr zu schätzen.

Lord Yama (Y): Gern geschehen. Was möchtest du wissen?

I: Wer sind Sie und wie kommt es, dass Sie als König des Todes bekannt geworden sind?

Y: Erlaube mir, mich so vorzustellen, wie man mich in deiner Welt — der Menschenwelt — kennt. Wie du dir sicher denken kannst, gehört Vieles, was ich sagen werde, in den Bereich, den ihr Menschen «Mythos» nennt. Wobei ein «Mythos» ein Ereignis, eine Erfahrung oder Lebewesen ist, das noch nicht als Tatsache anerkannt wird, weil an viele einander widersprechende Mythen geglaubt wird. So wie alles in der Menschenwelt «das Material ist, aus dem Träume gemacht sind», so kann alles als Mythos betrachtet werden. Aber ich weiche ab …

I: Hmmm.

Y: Gemäss ganz frühen Hindu-Texten sind meine Eltern der Sonnengott Surya und Sandhya, die Tochter von Vishvakarma, dem Architekten der Welt. In den Veden soll ich der erste Sterbliche gewesen sein, der starb, und weil ich den Weg in die andere Welt gefunden habe, bin ich der Führer all derer, die dieses Leben verlassen.

Ich wurde zum Herrscher der Verstorbenen und heisse «Herr der Pitrs» oder «Herr der Ahnen». In der tibetisch-buddhistischen Überlieferung bin ich ein «Dharmapala». «Dharmapala» bedeutet «Beschützer» oder «Verteidiger» des Dharma. Ich gehöre in die Kategorie der «zornigen Gottheiten». In dieser Rolle werde ich im Bhavacakra dargestellt. Mit meinem grimmigen Aussehen soll ich normale Menschen erschrecken und in einen wachsamen Zustand katapultieren.

I: Ja, Sie werden als äusserst grimmiges Wesen dargestellt. Warum? Warum stellen die tibetischen Künstler Zorn auf diese Weise dar?

Y: Dazu gibt es eine interessante Geschichte: Ich soll früher einmal in Tibet als Eremit am Fuss des Himalaja gelebt haben. Mir war verheissen worden, dass ich, wenn ich fünfzig Jahre in tiefer Meditation in einer Höhle zubringen würde, Erleuchtung erlangen würde. In der Nacht des letzten Tages des letzten Monats der fünfzig Jahre, betraten zwei Diebe meine Höhle, um den Kopf eines gestohlenen Bullen abzuhacken.

Als die Diebe merkten, dass ich ihr Tun beobachtet hatte, beschlossen sie, auch mich zu töten. Ich soll um mein Leben gefleht und erklärt haben, dass ich in einigen Minuten Erleuchtung erlangen werde und dass der Tod vor Ablauf der fünfzig Jahre alle meine Bemühungen zunichtemache. Die Diebe ignorierten mein Flehen und hackten meinen Kopf ab.

Dann soll ich sofort die grimmige Form von Yama angenommen und den Kopf des Bullen auf meinen kopflosen Körper gesetzt haben. Ich erschlug die zwei Diebe und trank ihr Blut aus den Schalen ihrer beiden Schädel. Man erzählt sich, dass ich aus lauter Zorn die ganze Bevölkerung Tibets zu zerstören drohte. Ich soll ausser mir gewesen sein in meinem Wahnsinn und meiner Trauer; Mensch und Bulle in Einem. In Todesangst riefen die Tibeter Manjushri (den Bodhisattva der Weisheit) um Hilfe.

Manjushri nahm die Gestalt von Yamantak (Bezwinger des Todes) an und brachte mich zur Besinnung. Dann machte er mich zu einem Schutzherrn des Buddhismus. Manjushri und ich kennen uns sehr gut. Wir sehen uns nicht allzu oft, wegen unserer dringlichen Pflichten. Doch eines Tages werden wir sicher Zeit haben, über all dies zu reden und, wer weiss, vielleicht bist du dann auch unter uns.

I: Danke. Das wäre wunderbar.

Y (lächelnd): Ja, und machbar.

I: Ihr Abbild im Bhavacakra Mandala scheint voller Symbole zu sein …

Y: Das stimmt. Die fünf Schädel (5) repräsentieren die fünf-Skandhas. Das sind fünf «Haufen», die unsere ganze körperliche und mentale Existenz ausmachen. Wir existieren nur auf Grund dieser fünf Faktoren. Der Buddha definierte die fünf-Skandhas als Form (Rupā), Sinnesempfindung (Vedanā), Wahrnehmung (Samjñā), Willenstendenzen (Samskāra) und Bewusstsein (Vijñāna).

Die fünf-Skandhas sind bedingt. Sie basieren ausschliesslich auf gewissen Gegebenheiten, d.h. sie sind leer, ohne Substanz, ohne Wurzeln; sie sind unbeständig. Du selbst bist in deinem Sein ein «Haufen» von ständig ablaufenden Ursachen und Wirkungen. Da gibt es kein «Ich»; es gibt nur das, was in jedem gegebenen Augenblick aus dem Zusammenspiel der fünf-Skandhas entsteht. Weil ihr Menschen dies nicht versteht, seid ihr für immer Geburt, Krankheit, Alter und Tod unterworfen. Meine Aufgabe ist es, euch durch die Pforte des Todes zu führen und in die richtige Richtung zu weisen, damit dieser Kreislauf beendet werden kann.

I: Heisst das, dass Sie als König des Todes gewissermassen die richterliche Gewalt innehaben, um Leute in den Himmel oder die Hölle zu schicken?

Y: Mitnichten; richten und urteilen tue ich nicht. Bei deinem Tod tust du das selbst. Ich stelle Fragen und du antwortest. Da du dann nicht lügen kannst, werden deine Antworten darüber entscheiden, in welche Richtung du gehen wirst. Deshalb ist es viel besser, wenn du die Wahrheit erkennst, solange du noch am Leben bist, und das ist es, worum es im Bhavacakra geht.

Solange du nicht aus der Welt von Ursache und Wirkung ausbrichst, werden wir beide uns regelmässig treffen. Ich tue mein Bestes, um dir zu helfen, aber ich habe hier nur Beraterfunktion. Du musst alles selber erledigen. Nun, ich denke, ich habe genug über mich gesagt. Lass uns nun das Mandala betrachten, das ich in den Händen halte.

Im Zentrum von allem

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3 Gifte

Y: (Mit einer bärenartigen Kralle auf das Zentrum des Mandalas zeigend): Hier, in der Mitte, der Nabe, beginnen alle Probleme. Sie zeigt ein Schwein, einen Hahn und eine Schlange. In manchen Darstellungen entspringen der Hahn und die Schlange dem Maul des Schweins oder sie halten sich gegenseitig am Schwanz fest. Das Schwein steht für Unwissenheit, der Hahn für Begierde und die Schlange für Hass oder Ärger. Diese Elemente werden «die Drei Gifte» genannt.

Unwissenheit bedeutet das fehlende Verstehen von Dukkha. Man weiss nichts von dessen Wahrheit, dessen Ursprung, dessen Auflösung und dem Weg zur Befreiung davon. Mit anderen Worten, man ist unwissend über die Vierfache-Edle-Wahrheit, dem Herzstück von Buddhas Lehre. Solange man diese Wahrheit nicht erfasst, bleibt man im Bhavacakra, dem Rad des Werdens gefangen … immer wiederkehrend.

(Auf den Hahn zeigend.) Über Begierden hatte Buddha Shakyamuni Folgendes zu sagen:

«Wenn ihr schlafend durchs Leben geht, wächst das Verlangen in euch wie eine um sich greifende Schlingpflanze. Wie Affen hüpft ihr von Baum zu Baum, ohne die Frucht je zu finden – Leben um Leben, ohne den Frieden je zu finden. Wenn ihr voller Verlangen seid, spriessen die Sorgen wie das Gras nach dem Regen. Aber wenn ihr das Verlangen besiegt, perlen die Sorgen von euch ab wie Wassertropfen von einem Lotusblatt.»

«Hier ist ein guter Rat für alle: So wie ihr das Gras entfernt, um an eine schmackhafte Wurzel zu gelangen, so schneidet eure Begierden ab, damit der Tod euch nicht eins ums andere Mal niederwalzt, wie ein reissender Fluss das Schilfrohr niederwalzt. Denn solange die Wurzeln stark sind, wächst ein gefällter Baum nach. Ebenso wachsen Begierden nach, wenn man sie nicht an den Wurzeln packt.»

«Wie von einem reissenden Fluss wird weggeschwemmt, wer Begierden, Vergnügungen, Lust nicht aufzugeben vermag. Kräftige Ströme fliessen überall; Schlingpflanzen wachsen schnell. Wenn ihr sie spriessen seht, gebt acht! Reisst sie mit der Wurzel aus. Die Begierden schwemmen euch von Leben zu Leben. So rennt ihr wie verfolgte Hasen von Leben zu Leben, auf der Jagd nach den euch jagenden Begierden. Oh Suchende! Lasst ab von euren Begierden, schüttelt eure Ketten ab!»

Dhammapada, «Desire»; nach Byrom

(Auf die Schlange zeigend.) Und das sagte Buddha Shakyamuni über Hass:

«Es gibt keine stärkeren Fesseln als Hass. Wie leicht ist es, die Fehler der anderen zu sehen, wie schwer, sich die eigenen einzugestehen. Die Fehler von anderen siebt man wie Spreu heraus, die eigenen kaschiert man wie ein Falschspieler einen missglücktes Wurf. Deines Mitmenschen Fehler zu benörgeln, verdoppelt deine eigenen.»

Dhammapada, «Impurity»; nach Byrom

«‹Man hat mich missbraucht, man hat mich verletzt, man hat mich erniedrigt, man hat mich beraubt›. Für jene, die solchen Groll hegen, endet Hass nie. ‹Man hat mich missbraucht, man hat mich verletzt, man hat mich erniedrigt, man hat mich beraubt›. Für jene, die solchen Groll nicht hegen, endet der Hass. Wir alle müssen sterben hier, in dieser Welt. Wozu streiten wir?»

Dhammapada, «The Pairs»; nach Byrom

Nun muss ich gehen. Die konzentrischen Räder werde ich ein andermal besprechen. Aber bevor ich gehe, noch Eines …: Halte dich nicht auf bei der Wahl der Tiere, welche die Drei Gifte darstellen. Das ist alte indische Symbolik. Ich persönlich würde andere Symbole wählen dafür (Lächeln).

I: Vielen Dank, Yama. Sie haben mir viel zum Nachdenken und Erforschen gegeben.

Y: Es ist gut, wenn du über das Gehörte nachdenkst. Aber vergiss nicht: Nur die Praxis rechter Meditation macht ein Verstehen solcher Worte möglich. Die Worte sind nur «Finger, die zum Mond zeigen». Verwechsle nicht das Eine mit dem Anderen.

Mit diesen Worten verschwand Yama. Ich sass, wer weiss wie lange, still und betrachtete den Mond.

***

Das Karma-Rad

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Karma-Rad

Meine nächste Begegnung mit Yama kam zu einem scheinbar sehr ungünstigen Moment. Ich kam soeben von einem äusserst anstrengenden Tag in einem Meeting mit einigen Kollegen. Wir waren alle begeistert von einem neuen Projekt und dessen Möglichkeiten; voller Ideen, wie man vorgehen könnte. Wir hatten noch nie zusammengearbeitet und kannten uns nur vom Hörensagen. Das Treffen hatte in guter Stimmung begonnen und in einer ausgeprägt schlechten geendet. Die Diskussionen dazwischen verliefen wie auf einer Achterbahn. Wir bildeten Allianzen mit und gegen einander.

Zornesausbrüche entfachten sich spontan gleich Buschfeuer an einem heissen Sommertag. Mit Emotionen geladene unterschiedliche Meinungen prallten wie verbale Blitze und Donner aufeinander. Das war keinesfalls unsere beste Stunde. Glücklicherweise konnten wir die Konfrontation ohne physische Gewaltanwendung beenden. Wir zogen uns zurück, um unsere seelischen Wunden zu lecken und hoffentlich zur Besinnung zu kommen. Am Ende des Tages war ich vollkommen erschöpft.

Wir alle kennen solche Tage. Das ist unsere menschliche Natur, nicht wahr? Doch als Yama kam, gab es keinen Zweifel, dass er sofort wusste, was in meinem Gemüt vor sich ging. Wir begrüssten uns und er begann.

Y: Das erste der drei Räder, die sich um die Nabe aus den drei Giften (Unwissenheit, Begierde, Ärger) drehen, wird gewöhnlich das «Rad-des-Karma» genannt. Der helle und der dunkle Halbkreis um die Nabe weisen auf gute bzw. nicht gute Handlungen hin, die durch die drei Gifte ausgelöst werden können. Im dunklen Halbkreis werden die Menschen nach unten gezogen als Zeichen dafür, dass schlechte Taten leidvolle Zustände erzeugen, während die Menschen im hellen Halbkreis nach oben ausgerichtet sind, weil gute Taten in erfreulichere Zustände führen. Wenn du nun auf deinen heutigen Tag zurückschaust, kommt dir das bekannt vor?

Siehst du, wie du durch dein Denken, deine Meinungen, deine Gepflogenheiten blindlings zu positivem und negativem Tun verführt wurdest? Du warst eindeutig sicher, dass dein Denken richtig war und das der anderen falsch, während die anderen dasselbe von sich dachten. Erinnerst du dich, wie erfreut du warst, wenn andere die gleiche Meinung vertraten wie du?

Erinnerst du dich an deine Pein, wenn andere deine Lieblingstheorien, Meinungen, Spekulationen, Überzeugungen angriffen? Du hast deine Geschichte, dein Karma, deine Konstellation von «Ursache und Wirkung» ausgelebt. Du und alle anderen habt, bar jeglicher Klarheit, unbewusst gehandelt, nur darauf bedacht, die eigene persönliche Agenda voranzutreiben. Welch Chaos … Schwein, Hahn und Schlange lachten alle laut.

Es gab keine Chance für eine Antwort. Yama war weg. Ich blieb zurück und suchte den Mond.

«Beherrsche deine Sinne, dein Schmecken, Riechen, Sehen und Hören. Beherrsche dein Tun, Reden und Denken. Sei frei. Erfreue dich an der Meisterschaft deiner Hände, Füsse, deiner Worte und Gedanken. Erfreue dich an der Meditation und Abgeschiedenheit. Sei gesammelt, sei glücklich. Rede mit Bedacht, ohne Stolz, dann bist du ein Licht auf dem Weg, denn deine Worte sind aufrichtig. Folge der Wahrheit; denke darüber nach. Mache sie dir zu eigen. Lebe sie.»

Dhammapada; «The Seeker»; nach Byrom

***

Die sechs Welten

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Die sechs Welten

Als Yama wieder zurückkam, sagte ich zu ihm:

I: Lieber Yama, vielen Dank für die wertvolle Unterweisung beim letzten Treffen. Mit Ihrer Hilfe werde ich den drei Giften hoffentlich in Zukunft weniger zu lachen geben. Dieses Leben verlangt konstante Achtsamkeit, andernfalls gerät man auf den Holzweg, eh’ man sich’s versieht.

Y: Gut gesagt. Im nächsten Rad des Bhavacakra sind sechs Welten dargestellt die Welt der Götter, Halbgötter, Menschen, Tiere, hungriger Geister und Höllenbewohner. Im Laufe eures gewöhnlichen Lebens durchlauft ihr Menschen alle diese Welten. Man könnte z.B. sagen, dass du bei jenem Businesstreffen in der Hölle gewesen bist. Diese durch Hass und Zorn charakterisierte Welt ist euch allen gut bekannt. Leider betrachtet ihr sie nicht als Hölle.

Ihr seht nicht, dass es ein Zustand ist, in dem alles, was den Menschen ausmacht, zusammenbricht. Heutzutage lebt die ganze Erdbevölkerung mehr oder weniger in einer Hölle. Wenn man die Zerstörung von Natur, Menschen, Tieren und Pflanzen betrachtet, die an der Tagesordnung eurer Führer und deren Günstlingen ist, muss man sich wirklich fragen, ob das Buddha-Dharma an sein Ende kommt, wie es vorausgesagt wurde.

Es gibt auch Zeiten, da bist du gottähnlich: Du geniesst Tage «voller Wein und Rosen», berauscht von deiner vermeintlichen Unsterblichkeit. Zu anderen Zeiten bis du ein Halbgott: Du spielst deine Macht aus an Menschen und Dingen, zum Schaden von beiden. Auch verbringst du Zeiten in der Tierwelt, der Welt der Sinne: Hier bist du der Genüssling aller sinnlichen Freuden … solange deine Gesundheit und dein Geld ausreichen (schallendes Lachen).

In der Welt der hungrigen Geister strebst du danach, deine Begierden zu befriedigen. Zu deinem grossen Kummer wirst du feststellen, dass deine Wünsche exponentiell wachsen, während deine Fähigkeit, sie zu befriedigen nur linear zunimmt. Dies ist der Aberwitz deiner Träume. Die Höllenwelt hast du ja bereits erfahren. Leider wird es nicht das letzte Mal sein, es sei denn, du wirst extrem wachsam.

Dann gibt es noch die Menschenwelt. Diese Welt bietet die besten Möglichkeiten, aus deinem illusorischen Dasein auszubrechen. Denn nur in dieser Welt kann man das Mysterium, das in der Vierfachen-Edlen-Wahrheit zum Ausdruck kommt, durchdringen. Verpasse diese Gelegenheit nicht. Schau nach innen und nicht nach aussen! Und dann noch etwas: Wenn du das Mandala gut anschaust, siehst du in jeder der sechs Welten einen Buddha abgebildet.

Nutze dieses Buddha-Bild, um dich stets daran zu erinnern, dass jede dieser Welten eine Illusion innerhalb der universalen Wirklichkeit ist — dem Reich des Buddha. Alle diese illusionären Welten existieren innerhalb der Buddha-Natur, werden jedoch durch euch selbst erzeugt.

I: Ich dachte immer, man werde in eine dieser Welten hineingeboren und verbringe sein ganzes Leben darin. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass man innerhalb einer Lebensspanne diese verschiedenen Welten durchwandert.

Y: Ja, man wird in eine Welt hineingeboren und stirbt für eine andere. Leben, sterben, werden … du vollziehst dies andauernd; körperlicher Tod … seelischer Tod. Erkenne dies und durchbreche die Kette, die dich bindet.

I: Vielen Dank (tiefe Verbeugung).

«Verweile nicht in der Welt von Zerstreuung und falschen Ansichten, fern der Wahrheit. Erhebe dich; sei achtsam. Folge dem Weg der Rechtschaffenheit. Folge dem Weg der Wahrheit (Dharma). Folge ihm in Frieden, dann lebst du glücklich — in dieser Welt und in jener. Die Welt ist wie eine Seifenblase, ein Trugbild. Wer sie so sieht, den findet der König des Todes nicht. Komm, schau die Welt an: eine bemalte Königskutsche, eine Fallgrube für Narren. Aber die Wissenden sind frei davon.

So wie der Mond aus den Wolken tritt und die Welt erhellt, so erscheint der achtsame Meister aus seiner Unwissenheit und leuchtet. Die Welt ist dunkel. Nur Wenige sehen klar. So, wie nur wenige Vögel dem Fangnetz entkommen und in den Himmel fliegen. Schwäne fliegen der Sonne entgegen. Welch Wunder!

Ebenso besiegen die Weisen das Heer der Täuschungen, erheben sich und fliegen. Wenn du die Wahrheit verleugnest und mit Lüge, Missgunst und Mutwille gegen das Dharma verstösst, wirst du

dem Übel niemals ein Ende setzen. Narren machen sich über Grossherzigkeit lustig. Ein Geizhals kann den Himmel nicht betreten. Der Weise jedoch erfreut sich an Freigebigkeit und empfängt Glück als sein Lohn. Wisse: Grösser als alle Freuden von Himmel und Erde, grösser noch als Herrschaft über alle Welten ist das Glück, das der Eintritt in den Strom verleiht.»

Dhammapada, «The Worlds»; nach Byrom

***

Die zwölf Glieder des bedingten Entstehens

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Die zwölf Glieder

Nach seinen Darlegungen zum Karma-Rad blieb Yama für eine Weile weg. Ich verbrachte meine Zeit zum grossen Teil damit, seine Ausführungen über die verschiedenen Räder und die Nabe der drei Gifte zu verstehen. Ich dachte daran, was Yama gesagt hatte über das Vermeiden eines bloss «intellektuellen» Verstehens der Elemente des Bhavacakra.

Auch erinnerte ich mich an die Rüge, die der Buddha gegenüber Ananda ausgesprochen hatte, weil dieser sich mit dem rein «intellektuellen Verstehen» der zwölf Glieder des bedingen-Entstehens zufrieden gegeben hatte. Ananda, der als einer der gelehrsamsten Schüler des Buddha galt, berichtete selbst, dass er nicht so viel Zeit in Meditation zubrachte wie andere Schüler, weil er dachte, der Buddha würde seine Erleuchtung auf ihn übertragen. Sie waren schliesslich Cousins.

Im Shurangama-Sutra wird berichtet, wie der Buddha Ananda von einem bösen Ende rettete. Ananda geriet in Versuchung, sich in das Netz sexuellen Verlangens zu verstricken mit einer jungen Frau, die er auf seinem Almosengang traf. Er war im Begriff, mehr als eine Schale Reis in Empfang zu nehmen, als der Buddha dies «sah» und Manjushri beauftrage, Ananda aus seinem Dilemma herauszuholen.

Es gelang Manjushri unverzüglich, Ananda und seine Verführerin zum Buddha zu bringen. Nachdem der Buddha zu ihnen gesprochen hatte, soll die junge Frau unverzüglich in den Zustand einer Arahant (Heiligen) erwacht sein. Ananda nicht. Darauf erklärte der Buddha Ananda die Ursachen dafür, dass er beinahe geistigen Schiffbruch erlitten hatte. Kurz und bündig sagte er: «Du denkst mehr als du meditierst. Nicht gut!»

***

Eines morgens, als ich meditiert und nichts gedacht hatte, erschien Yama in seinem ganzen Glanz.

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I: Guten Tag, Yama, Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen für einen Besuch trotz ihrer vielen Verpflichtungen.

Y: Nichts zu danken. Dieser Besuch gehört zu meinem Verpflichtungen, wie du es nennst. Wie ich früher gesagt habe, stehe ich immer als Berater zur Verfügung. Man muss mich nur ernsthaft darum bitten. Wie ich mich erinnere, haben wir nur noch das letzte Rad zu besprechen. Es ist eine bildliche Darstellung der Lehre-des-bedingten-Entstehens.

Wie du sehen kannst, besteht es aus zwölf Sektionen. Und wie du vermutlich bereits weisst, ist die Lehre-des-bedingten-Entstehens die Frucht, die der Buddha im Zustand von Prajñāpāramitā erntete. (Prajñāpāramitā =Vervollkommnung der transzendenten Weisheit; der Zustand jenseits von allen Erfahrungen und allem Wissen.) Die Lehre des bedingten Entstehens wird am besten definiert als eine Darstellung der Unbeständigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit von allen Lebenserscheinungen in dieser Welt:

«Wenn dieses ist, entsteht jenes; wenn dieses entsteht, entsteht jenes; wenn dieses nicht ist, entsteht jenes nicht; Wenn dieses verlöscht, verlöscht jenes.»

Ist das nicht ein ausgezeichneter Umriss der ganzen Lehre des bedingen Entstehens?

I: Das ist es in der Tat.

Y: Hier ist die Kette der Zusammenhänge, die der Buddha gefunden hat. Man kann am Anfang der Liste beginnen, bei Unwissenheit bis Alter-und-Tod oder in der Gegenrichtung von Alter-und-Tod bis Unwissenheit.

«Unwissenheit ist die Ursache von Willenstendenzen sind die Ursache von Bewusstsein ist die Ursache von Name-und-Form ist die Ursache für die Sechs Sinne sind die Ursache von Kontakt ist die Ursache von Sinnesempfindung ist die Ursache von Begierde ist die Ursache von Anhaften ist die Ursache von Werden ist die Ursache von Geburt ist die Ursache von Alter-und-Tod.» – R. Wydler Haduch: Form ist Leere ist Form – Das Herz-Sutra

I: Nun, ich bin wohl kein Ananda. Ich verstehe nicht, wie diese Elemente aufeinanderfolgen.

Y: (Lächelnd) Dann hast du wohl ein lebenslanges Projekt vor dir. Aber Achtung: Klammere dich nicht an die Symbole und Bilder, welche die diversen Elemente der Lehre darstellen. Es gibt keine Regeln, wie sie gemalt werden müssen. Eine gute Richtlinie ist es, dem Rad im Uhrzeigersinn zu folgen, wobei mein linker Eckzahn auf das Element eins zeigt, d.h. auf Unwissenheit (1) und mein rechter Eckzahn auf das Element zwölf, d.h. Alter-und-Tod (12). Und noch eine Warnung zum Bedenken: Die Elemente bilden keine einfache Kette wie im Mandala dargestellt. Sie stehen alle in einer komplexen Beziehung zueinander.

Unwissenheit, zum Beispiel, ist die Ursache für Willenstendenzen; aber Willenstendenzen sind auch die Ursache von Unwissenheit. Wirkungen werden Ursachen und Ursachen werden Wirkungen. Der Buddha betonte, dass die Beziehungen zwischen den Elementen in jeder Richtung wirken. Lass dich also nicht durch die vereinfachte Darstellung dieses Mandalas täuschen. Denke immer daran, dass der Buddha diese Erkenntnisse nach sieben Tagen in tiefer Prajñāpāramitā in Worte fasste. Sei nicht überrascht, wenn du mindestens so lange brauchst, um sie nachzuvollziehen.

I: Vielen Dank, Yama (tiefe Verbeugung). Ich hoffe, ich darf auf Ihre Hilfe und Unterstützung zählen, wenn ich den Rädern folge, im Bemühen, ihre tiefe Bedeutung zu erfassen.

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Y: In der oberen rechten Ecke des Mandalas sieht man das Bild eines Buddha, der auf die gegenüberliegende Ecke deutet, wo ein sitzender Buddha dargestellt ist. Unter diesem sind kleine Figuren angedeutet, die dem Buddha entgegen nach oben wandern. Das ist dein Weg. Folge ihm; weiche nicht davon ab!

Der Rechte Weg

I: Haben Sie einen Vorschlag, wo ich die Reise beginnen soll

Y: Deine Reise, wie du es nennst, hat weder einen Anfang noch ein Ende. Man kommt nie am Ziel an, weil es kein Ziel gibt. Dies zu erkennen und zu begreifen heisst, der eigenen Buddha-Natur gewahr zu werden. Um der eigenen Buddha-Natur gewahr zu werden sind zwei Dinge zu tun, die in Wirklichkeit eins sind. Erstens musst du dich um eine rechtschaffene Lebensführung bemühen und zweitens musst du meditieren, immer.

I: Verehrter Yama, was meinen Sie mit «rechtschaffener Lebensführung»?

Y: Der Buddha verlangte Reinheit des Verhaltens auf vier Ebenen: Man darf nicht töten, nicht stehlen, keinen sexuellen Missbrauch treiben, nicht lügen oder sonstwie durch Worte anderen Schaden zufügen. Um wahrhaftiges Samādhi zu praktizieren, genügt es nicht, von Lügen und Stehlen, missbräuchlichem Sex und falscher Rede abzusehen; es gilt, jeden Gedanken an solche Handlungen im eigenen Denken auszurotten.

I: Verehrter Yama, was meinen Sie mit «immer meditieren? Wie soll ich mein tägliches Leben führen, wenn ich immer meditiere? Ich muss mich um meine Arbeit, meine Familie, meine Beziehungen, um meine vier Katzen kümmern … und und und.

Y. Meditation ist nicht auf das Sitzen in einer Ecke oder in einem Tempel oder Meditationsraum beschränkt. Meditation sollte dein normaler Geisteszustand sein, in allem, was du machst. Ich spreche nicht von einem Trancezustand. Ich spreche vom Zustand des passiven Gewahrseins, dem Zustand der wachen Präsenz, von Augenblick zu Augenblick; einem Zustand, in dem es kein «ich» und «mein» gibt. Denn die Idee von «ich» und «mein» trennt und scheidet, schafft Subjekt und Objekt, «Du» und «Ich». Nicht gut! Ohne «ich» und «mein» ist die Welt eine andere (lächelt). Probiere es aus!

I: Vielen Dank (tiefe Verbeugung).

Das ist also das Bhavacakra. Man kann nun denken: «Das war gut; jetzt weiss ich alles über das Bhavacakra und kann nun mit meinem Leben fortfahren.» Oder man kann … Du triffst die Wahl. Es immer die eigene Wahl.

«Frei von Begehren, mit ganzem Herzen beende nun den Fluss. Wenn die bedingte Welt verschwindet, wird alles klar. Geh über die Zweiheit hinaus, ans andere Ufer, wo nichts geschaffen wird und Klarheit herrscht. Geh weiter, über das weltliche und das jenseitige Ufer hinaus, in das «weder weltlich noch jenseits», wo es keinen Anfang und kein Ende gibt. Sei furchtlos. Meditiere. Lebe sittsam. Sei still. Mach deine Arbeit mit Geschick. Am Tag scheint die Sonne, in der Nacht scheint der Mond, aber das Licht des erwachten Geistes scheint bei Tag und bei Nacht.»

«Lass alles Übel hinter dir. Ruhe in dir selbst. Sei weder verletzt noch verletzend. Erwidere Böses niemals mit Bösem. Wehe, wenn jemand seine Hand gegen einen anderen erhebt; wehe dem, der den Schlag erwidert. Widerstehe den Leidenschaften des Lebens und dem Wunsch, andere zu verletzen. Sei achtsam was du denkst, sagst und tust. Ehre denjenigen, der wach ist und dir den Weg zeigt. Ehre das Feuer seiner Güte. Nicht durch langes Haar, Sippe oder Geburt wird einer zum Meister, sondern durch Wahrhaftigkeit und Güte wird er gesegnet. Ein Narr, der wie ein Asket in Einsamkeit lebt, innerlich aber von Leidenschaften zerfressen wird. Man wird nicht als Meister geboren.»

Dhammapada «The True Master»; nach Byrom

Das abgebildete Bhavacakra Mandala ist Teil einer wunderschönen Thanka. Diese Thanka ist ein grosszügiges Geschenk von
Tibetan Lama Art


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