Poesie und Prosa und alles, was dazwischen liegt. 🙂
Ahnungslose Engel
Einer, der sich unter der Last des Lebens beugte –
das nicht Freude war, sondern Leiden rau und hart –
suchte seinen Weg auf dunklen und düsteren Pfaden ohne einen Lichtstrahl aus Kopf oder Herz,
der ihm einen Moment der Freude bescherte,
bis die Linie, die Schmerz von Lust abgrenzt, Tod vom Leben,
und gut von böse, beinahe aus der Sicht verschwand,
sah in einer gesegneten Nacht einen schwachen,
doch wunderschönen Lichtstrahl auf ihn nieder scheinen.
Er wusste nicht, was oder woher, aber er nannte es Gott und betete zu ihm.
Hoffnung und gewaltige Kraft erfüllte ihn und das Leben bedeutete ihm mehr als er sich jemals träumen liess und schloss sein ganzes Wissen ein, nein, spähte über seine Welt hinaus.
Die Gescheiten zwinkerten und lächelten und nannten es „Aberglaube.“
Er aber fühlte seine Kraft und seinen Frieden und antwortete sanft:
„O gesegneter Aberglaube!“II
Einer, betrunken vom Wein aus Reichtum und Macht gesegnet mit der
Gesundheit, beides zu geniessen, wirbelte voran auf seiner verrückten Bahn, bis er dachte, die Erde sei für ihn gemacht, sein persönlicher Garten der Lust, und der Mensch, der kriechende Wurm, diene nur seinem Pläsier,
bis die tausend Lichter der Wonne, die gefüttert mit Vergnüglichkeiten Tag und Nacht vor seinen Augen tanzten, in dauernd wechselnden Farben, begannen, seine Sicht zu trüben und die Sinne zu verklumpen;
bis Eigensucht wie eine schwielige Wucherung sein ganzes Herz bedeckte und Vergnügen ihm nichts anderes als Schmerz bedeutete,
beraubt aller Gefühle, und das Leben der Sinne, einst so vergnüglich und wertvoll, eine verwesende Leiche zwischen seinen Armen war, welche er wahrhaftig loswerden wollte; doch je mehr er versuchte, desto stärker haftete es an ihm; und er wünschte sich mit rasendem Verzweiflung tausend Arten des Todes, doch er verzagte vor der Verlockung.
Dann kam die Trauer – und Reichtum und Macht verschwanden –
und liess ihn seine Verwandtschaft finden mit allen Menschen in Seufzen und Tränen; und obwohl seine Freunde lachten, sprachen seine Lippen voller Dankbarkeit:
„O gesegnetes Leid.“
III
Einer geboren mit einem gesunden Körper – aber ohne Willen, welcher
Emotionen, tief und stark, widerstehen kann, noch Impulse abweisen, beladen mit grosser Kraft, – genau die Sorte Mensch, die als gut und freundlich gilt, dachte, ihm könne nichts passieren, während andere lang und vergeblich gegen die wogenden Wellen ankämpfen, bis sein Geist, morbid geworden, wie Fliegen, die die Fäulnis suchen, nur noch das Schlechte sehen konnte.
Dann lächelte ihm das Schicksal zu und er rutschte aus.
Dies öffnete ihm die Augen für immer und liess ihn entdecken,
dass Steine und Bäume niemals die Gesetze brechen,
aber Steine und Bäume bleiben; dass nur der Mensch allein
gesegnet ist mit der Kraft zu kämpfen und das Schicksal zu besiegen,
indem er Grenzen und Gesetze übersteigt.
Seine Passivität fiel von ihm ab, und das Leben erschien ihm weit und neu, und weiter und neuer immerzu, bis vor ihm ein Licht zu dämmern begann und Einblick kam in Das, wo Ewiger Friede weilt – den man aber nur erlangen kann, wenn man den Ozean des Kampfes durchwatet – und ihm Mut gab. Zurückblickend auf all das, was ihn Stümpfen und Steinen zugehörig gemacht, und auf das, wofür ihn die Welt verstiess, seinen Fall, segnete er den Fall.
Und mit freudigem Herzen erklärte er:
„Gesegnete Sünde“.
Swami Vivekananda (1862–1902)
(Für das Originalgedicht Angels Unawares )
Bedürfnis und Verlangen
Die Weihnachtszeit ist da und damit das Geben und Empfangen (und Züruckgeben) von Geschenken. Man macht im Geist gedankliche oder schriftliche Listen von Dingen, die man als Geschenke für Familie und Freunde kaufen oder herstellen könnte. Die Geschäfte und Märkte kooperieren mit diesem Bemühen, indem sie ihre neueste Ware in festlicher Atmosphäre ausstellen, begleitet vom unvermeidlichen „Chingle bell“ und „Oh du fröhliche“ und dem rot gewandeten Weihnachtsmann.
Die Werbesendungen sind voller Inserate, welche die Vorteile von diesem gegenüber jenem loben. Mein Blick wird angezogen vom den Anzeigen von den neuesten elektronischen Geräten. Mein latentes Verlangen für alles, was mit Photographie zu tun hat, ist nun wach. Die Augen überfliegen die Anzeigen der letzten Errungenschaften bei den Digitalkameras. Ich fache das Feuer meines Verlangens an und studiere das teuerste Angebote von Sony. Welch wunderbare Kamera! So klein, dass sie in eine Handfläche passt, mit Titanium-Gehäuse und Karl-Zeiss-Linse, 23–300 mm Zoom und und und… Sie hat alles, was ich immer wollte.
Wollen
Welch interessantes Wort, dieses „wollen“.
In meiner Familie lernten wir Kinder schnell, dass etwas „wollen“ noch lange nicht bedeutete, dass unsere Eltern gesinnt waren, uns dieses „Gewollte“ auch zu geben. Gemäss den damals geltenden sozialen Gesetzen wurde „etwas wollen“ gleichgesetzt mit Egoismus, nur-an-sich-selbst-denken. Unsere Eltern gaben sich zusammen mit den Lehrern in der Schule grosse Mühe, uns dies klar zu machen. Da ich zu sehr auf mein „Wollen“ fixiert war, habe ich das Wesentliche von dem, was sie sagten, zum grossen Teil nicht mitbekommen. Eins aber habe ich gelernt: das Wort „wollen“ nicht zu gebrauchen.
Aber „wollen“ verschwindet nicht, indem man bloss das Wort aus dem Vokabular streicht. Das „Wollen“, gleichbedeutend mit „Begehren“, findet immer eine Form, um sich auszudrücken. Es wandelt sich, mit dem willigen Einverständnis des rationalen Denkens in die Worte „Bedürfnis“ und „brauchen“. Um das Wort „wollen“ in „brauchen“ umzuwandeln, muss ich nur eine entsprechende Logik erschaffen, welche die absoluten Notwendigkeit des gewollten Dings für meine weitere Existenz auf diesem Planeten beweist. Dann wird es etwas, dass ich „brauche“. Und wenn es einmal etwas ist, das ich „brauche“ und nicht nur „will“, dann steht mir mein Weg offen – gesellschaftlich und psychologisch – um die Mittel zu beschaffen zur Befriedigung meines Begehrens.
Vermarktung
Die ganze Werbung basiert auf der Befriedigung der menschlichen Gelüste. Das einzige Ziel der Vermarktung ist es, „wollen“ in „brauchen“ umzuwandeln. Jede professionelle Verkäuferin weiss, dass ihr ein Verkauf sicher ist, wenn ihr Kunde überzeugt davon ist, dass er etwas braucht und nicht nur will. Ihre Aufgabe ist es, ihrem Kunden bei der Verwandlung von „wollen“ in „brauchen“ behilflich zu sein. Wir alle lieben es, wenn uns etwas verkauft wird von jemandem, dessen Worte unser Begehren wecken und geschickt in das Wort „Bedürfnis“ kleiden. Dabei helfe ich selbst mit ganzem Herzen mit, jegliche Spur von „wollen“ überzeugend zu verwischen.
Habe ich mir wieder etwas vorgemacht? Natürlich, denn der wirkliche Verkäufer sitzt in mir selbst. Die äussere Verkäuferin war geschickt genug , sich mit ihrem Kollegen in mir in vollständige Übereinstimmung zu bringen. Dem Begehren wurde entsprochen.
In der letzten Nummer von Dhyāna haben wir über Glück gesprochen und dass es das letztendliches Ziel aller Menschen ist, glücklich zu sein. Es wurde dargelegt, dass wir Menschen normalerweise den Wunsch nach Glück mit den Dingen der äusseren Welt zu erfüllen suchen, bis wir herausfinden, wie unmöglich dies ist. Wir finden dies dann heraus, wenn wir einmal innehalten und die Vergänglichkeit aller derartigen Freuden realisieren.
Wer sich hinsetzt und alle Gedanken zur Ruhe kommen lässt, kann in dieser Stille einen wunschlosen Frieden erleben, wie er in den üblichen Aktivitäten niemals nachhaltig zu finden ist. Je öfter man sich hinsetzt, desto tiefer und nachhaltiger wird die Stille und der Frieden. Als ein Resultat klärt sich die Sicht und die Trübungen, erzeugt durch den Lärm der normalen Geistesaktivitäten fallen mehr und mehr weg.
Die Stimme in der Stille
Was mag wohl die Stimme in der Stille, unsere Erkenntniskraft, antworten auf die Frage: „Was sind Begehren? Was sind Bedürfnisse? Wie kann ich die beiden von einander unterscheiden?“ Sie könnte z.B. sofort und leicht verständlich flüstern:
„Heute, auf einem gemütlichen Spaziergang in der Stadt, bist du eingekehrt und hast ein Mittagessen bestellt, weil du hungrig warst. Später, auf dem selben Spaziergang, bist du eingekehrt und hast Kaffee und Kuchen bestellt.
::
Das Mittagessen erfüllte ein Bedürfnis,
Kaffee und Kuchen erfüllten ein Begehren.“
Mit der Zeit wirken sich die Einsichten, genährt durch weitere Meditation, im gewöhnlichen täglichen Leben aus. Man entdeckt z.B., dass sich die körperliche Verfassung verändert, wenn sich die Einstellung zur Nahrung, Arbeit, Ruhe und Schlaf verändert. Man entdeckt, dass man manches „Bedürfnis“ für bestimmte Esswaren im Speiseplan zu hinterfragen beginnt oder dass einige von selbst verschwinden. So entwickelt man allmählich Meisterschaft über die Gelüste nicht nur in Bezug auf Speise und Trank sondern auch in Bezug auf andere körperliche Bedürfnisse. Das Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was der Geist „will“ und dem, was der Körper „braucht“ wird schärfer. Der Körper antwortet auf diese Befreiung aus der mentalen Tyrannei mit zunehmender Gesundheit und Natürlichkeit.
Mit zunehmender Meditationserfahrung erkennt man nach und nach die Wahrheit der Worte: „Das Bedürfnis des Geistes ist Frieden –- das Verlangen des Geistes in unersättlich.“ Wenn man in der Stille weilt und zuschaut, wie die Blasen des Begehrens aus der Tiefe wie Blasen in einem Glas Champagner aufsteigen, nur um an der Oberfläche zu zerplatzen und einer weiteren dünnen Blasenkette Platz zu machen, erlebt man den Unterschied zwischen Bedürfnis und Verlangen.
Den Boden erreichen
Vor vier Jahren begann ich eine Meditationspraxis mit der Absicht, das Chaos in meinem Leben etwas zu mindern. Bald schon fühlte ich positive Veränderungen. Je mehr ich übte, desto besser kam ich mit den ständig wechselnden Geschehnissen im alltäglichen Leben zurecht. Es war nicht so, dass die Probleme verschwanden, aber meine Gefühlslage war stabiler, ich war mehr in der Mitte. Ich konnte die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen. Ich fühlte mich ein wenige wie ein Surfer, der auf den Wellen des täglichen Lebens ritt, anstatt mit ihnen zu kämpfen. So war es bis vor sechs Monaten, als mich eine riesige Welle – gewissermassen eine Flutwelle – überrollte.
Vor sechs Monaten verlor ich meine Stelle, die ich viele Jahre lang inne gehabt hatte. Schuld war die schlechte Wirtschaftslage. Ich war nicht völlig unvorbereitet, aber auch nicht völlig sorglos. Es gab viele Menschen wie ich, welche nach einer Arbeit suchten. Meine Sorgen beiseite legend begann ich mit Elan nach einer neuen Stelle Ausschau zu halten. Dies stellte sich als Zeit raubende und Nerven aufreibende Angelegenheit heraus. Es dauerte nicht lange und meine Zuversicht, bald eine neue Arbeit zu haben, lag in Trümmern. Entweder war ich „überqualifiziert“ oder „ unterqualifiziert“.
Die Sache wurde kompliziert: Soll ich eine Weiterbildung machen? Soll ich an meinem Traum festhalten und geduldig weiter suchen? Soll ich mich für eine völlig andere Arbeit umschulen lassen? Bin ich generell zu alt für das Berufsleben? Kann ich mit weniger Geld leben? Ich geriet aus dem Gleichgewicht und ich fürchtete, dass ich gar nicht mehr anstellungsfähig sei. Ich ritt nicht mehr auf der Welle, sondern stürze Kopf voran in sie hinein.
Selbstzweifel und Angst
Mit meiner Sorgen kamen meine alten Verhaltensmuster zurück. Nun war ich eine Surferin ohne Brett. Selbstzweifel und Angst packten mich und verstärkten die Sorge, ob ich überhaupt je wieder eine Arbeit finden werde. Ich schlief und ass unregelmässig. Der unaufhörliche mentale Druck, eine Arbeit zu finden, wurde zum Zwang. Ich hörte auf zu meditieren, denn ich hatte keine Zeit mehr dafür. Freunde versuchten mir zu helfen, doch ich stiess sie weg. Bald war ich allein mit meinem selbstbezogenen Brüten, lebte in der Hölle und wies jeden Vorschlag der Hilfe ab. Dann kam die Wut.
Ich verlor die Perspektive und konnte nicht mehr unterscheiden, was ist und was nicht ist. Ich war nicht mehr die Meisterin der Welle, die Welle hatte mich besiegt und hinunter gezogen. Gefangen im Strudel des Zorns schrie ich um Hilfe, doch die Hilferufe hatten in den Ohren der anderen den Klang des Zorns. Nun war ich überzeugt, dass mich „niemand versteht“. Die Abwärtsspirale der Niedergeschlagenheit wurde enger, denn nach und nach gab auch meine Gesundheit nach. Erkältungen und Bronchialentzündungen häuften sich. Der grosse Verbrauch von Magenmitteln und Kopfwehtaletten machte die lokalen Apothekerinnen glücklich.
Manchmal blitzte der Gedanke auf, doch aufzuhören mit dem, was mich nach unten zog. Kannte ich doch solche Höllenfahrten aus meiner Vergangenheit und hatte nicht den Wunsch, sie zu wiederholen. Aber ach, der Wille zur Umkehr war schwach und so konnte der Abwärtstrend ungehindert weitergehen. Es gab immer noch eine perverse Befriedigung in meinem Tun, ich hatte den „Boden noch nicht erreicht“.
Boden?
Ich wusste, dass es irgendwo einen Boden gab. Ich wusste es, weil ich ihn schon oft erlebt hatte. Er nähert sich immer dann, wenn etwas in mir angesichts der Verheerung, die meine neuestes Eskapade angerichtet hat, den Schmerz nicht länger aushalten kann und sagt: „Das ist Quatsch, hör auf damit, Schluss! Und die Stimme, die dies sagt, kann nicht verleugnet werden.
Wenn ich den Boden erreicht habe, ist es immer derselbe Ort, und zwar der Ort, an dem ich kapituliere. Der Ort, an dem ich endlich aufhöre, darum zu kämpfen, dass es „so geht, wie ich will“. Der Ort, an dem ich vor den Tatsachen vor meinen Augen kapituliere – bedingungslos, vorbehaltlos – und aufhöre in der Scheinrealität meiner Fantasien zu baden.
Leider verliere ich die Realität oft aus den Augen. Es passiert meistens dann, wenn ich meine Meditationspraxis vernachlässigt habe. Wenn ich nicht regelmässig meditiere, nehmen meine Fantasien und Meinungen überhand und beherrschen mich. Dann beginnen die Probleme. Ich kann dann nicht mehr unterscheiden, was ist wahr und was eingebildet. Alles, was ich erlebe nimmt die Farbe meiner Sichtweise an.
Meditationspraxis
Hinterher weiss ich, dass ich einen grossen Teil meiner Irrfahrten hätte vermeiden können, wenn ich bei der Meditationspraxis geblieben wäre. Ich weiss, hätte ich konsequenter mit dem Meditieren fortgefahren, hätte ich es nicht bei der erstbesten Schwierigkeit des Lebens aufgegeben. Dann wäre ich nicht so schnell in die alten Verhaltensmuster zurück gefallen. Ich hätte meinem inneren Selbst mehr vertraut. Aber „in der Hitze des Gefechts“ hatte ich vergessen, mich am einzigen Rettungsseil festzuhalten, das mich aus dem Strudel hätte ziehen können, und so bin ich unter gegangen. Meine alten Gewohnheiten sind stärker als meine Meditationsgewohnheit.
Die Geschichte hat ein glückliches Ende (es ist ja schliesslich Weihnachtszeit): Ich habe zwar immer noch keine Arbeit und suche immer noch nach einer Stelle. Aber mein Leben kommt langsam wieder in Ordnung. Essen und Schlafen werden wieder regelmässig. Und ich meditiere wieder täglich. Noch scheint es ein langer Weg zurück zu sein, bis es in mir einigermassen still wird. Aber ich weiss, dass ich die Stille wieder finden werde. Ich habe dies schon so oft durchgemacht.
P.S. Neulich kam mir dies zu Gesicht: Es sind die ermahnenden Worte Buddhas, an seine Schüler kurz vor seinem Tod (Der Buddha konnte die Dinge so wunderbar sagen, nicht wahr?)
Seid euch selbst eine Insel, findet Zuflucht in euch selbst.
Sucht keine äussere Zuflucht.
Haltet euch an die Wahrheit als eure Insel; mit der Wahrheit als eure Zuflucht,
sucht keine Zuflucht ausserhalb eurer selbst.
Atem holen
Ja, nimm dies wörtlich: Hole deinen Atem! Hol ihn mit deinem Geist. Richte deine ungeteilte Aufmerksamkeit auf ihn. Beobachte ihn, mach dich bekannt mit ihm. Ist er gleichmässig oder abgehackt? Ist er laut? Sind Ein- und Ausatem im Gleichgewicht? Wie lange ist der Einatem, wie lange der Ausatem? Wie viele Atemzüge gibt es in einer Minute? Wie oft kommt mir der Atem in den Sinn? Wie gut kenne ich die Arbeitsweise dieses Körpers?
Für einen gewöhnlichen Menschen stellt sich diese Frage nie. Man ist ziemlich zufrieden damit, die Jahre ohne Gedanken an den Atem zu verbringen. Bis er einem eines Tages ausgeht wegen einer Krankheit oder in Folge von Stress.
15 – 18 Atemzüge pro Minute
Bedenke die Tatsache, dass ein normaler Mensch 15 – 18 Atemzüge pro Minute macht. Stell dir dies einmal vor: Mit 15 Atemzügen pro Minute dauert ein Atemzyklus 4 Sekunden. Normalerweise ist der Einatem schneller als der Ausatem, das bedeutet, dass man in diesen 4 Sekunden weniger als 2 Sekunden lang einatmet. Wie viel Luft kommt in 2 Sekunden oder weniger in die Lungen?
Die durchschnittliche menschliche Lunge fasst 3.5 l Luft. Bei der gewöhnlichen Rate von 15 Atemzügen pro Minute atmet man mit jedem Einatem ungefähr 0.5l Luft ein. Das bedeutet, und 84% der zur Verfügung stehenden Lungenkapazität werden nicht genutzt. Warum nicht? Die Antwort ist klar: Es ist nicht möglich, bei dieser Geschwindigkeit des Ein- und Ausatmens mehr Luft in die Lunge zu pumpen. Dieses „normale“ Atemmuster nimmt zudem nur einen Drittel der Lunge in Anspruch, die anderen zwei Drittel werden gewissermassen vernachlässigt und untauglich gemacht. Mit anderen Worten, man stranguliert sich unbewusst langsam zu Tode.
Das Atemmuster verändert sich im Laufe des Lebens. Als Kind, atmete man viel natürlicher. Kinder benutzen einen signifikant grösseren Prozentsatz der Lungenkapazität als Erwachsene. Der ruhigere Atem, der eng mit dem Gemütszustand verbunden ist, widerspiegelt den sorgloseren Zustand eines Kindes. Mit zunehmendem Alter veränderte sich der Atem entsprechend dem Lebensstil. Der Lebensstil passte sich dem Konzept an, das man von sich selbst schafft, von dem, was oder wer man denkt, „das bin ich“. Unsere Konzepte von wer „ich bin“ basieren zum grossen Teil auf dem, was die Gesellschaft zur gegebenen Zeit als „normal“ diktiert. Mir scheint, dass dieses Diktat heutzutage als ziemlich „stressig“ bezeichnet werden muss. Denken Sie nicht auch?
Abwehrmechanismen
Jedes Mal, wenn man sich in einer Situation befindet, die man als stressvoll erlebt, antwortet der Körper mit seinen instinktiven Abwehrmechanismen. Adrenalin wird ins Blut ausgeschüttet und das Herz beginnt schneller zu schlagen. Damit erhöht sich die Atemrate und der Atem wird flacher. Diverse Muskeln spannen sich an. Die Sinne sind hell wach, aber das Denken schaltet ab. Dieses Reaktionsmuster wiederholt sich in mehr oder wenig starker Ausprägung in jeder Stresssituation und verfestigt sich damit zu einer Gewohnheit. Als ob ein Instinkt nicht ohnehin schon stark genug wäre!
Der Prozess der Vorbereitung des Körpers auf die Begegnung einer äusseren Gefahr ist unentbehrlich für das Überleben. Das ist keine Sache des Denkens, sondern allein das körperlichen Handelns. Als Mensch ist uns der Abwehrinstinkt karmisch eingraviert aus einer Zeit, da es galt, den physischen Körper, in tierischer oder menschlicher Form, gegen äussere Gefahren zu verteidigen. In einigen heutigen Gesellschaften ist diese äussere Gefahr für die Leute wesentlich kleiner geworden. Das heisst aber nicht, dass die tief verwurzelte Gewohnheit schwächer geworden ist. Sie ist immer schlummernd vorhanden und jeder Zeit bereit, auf den Schlachtruf zu antworten.
Ich
Unser Ich, das mit der Welt der Sinne vermählt ist, benutzt bereitwillig jede Gewohnheit, die ihm seine Aufgabe der Selbstverteidigung erleichtert und die Bedrohung seiner ununterbrochenen Existenz abwehrt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn es die karmischen Veranlagungen der Selbsterhaltung des physischen Körpers bevorzugt aktiviert, sobald es sich selbst bedroht fühlt. Das Ich, blind für alles ausser für sich selbst, merkt nicht, dass es mit der unpassenden Benutzung dieses angeborenen körperlichen Selbsterhaltungstriebes gerade das Gegenteil bewirkt: Indem es ein Verhalten an den Tag legt, das dem Körper schadet, führt es seinen eigenen Untergang herbei.
Manchmal bemerkt man allerdings, dass die Methoden der Selbstverteidigung negative Auswirkungen auf den Körper haben. Um den Einwänden des nicht total unterwürfigen „besseren Wissen“ entgegen zu wirken, verschreibt man sich selbst Anti-Stress-Medizin aus dem gängigen, sozial anerkannten Arsenal von offen oder heimlich angebotenen Drogen.
Übung ausprobieren
Statt eine Pille zu schlucken, könnte man folgende Übung ausprobieren:
1. Lies diese Zeile Wort für Wort während du einatmest. 2. Lies diese Zeile Wort für Wort während du ausatmest.
Nun kehre zurück auf Seite ein uns wende diese Technik beim Gedicht „Ahnungslose Engel“ an. Lies langsam und mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Dadurch, dass der Geist nun ganz und gar auf das Lesen gerichtet ist, ist er besser zentriert und der Atem tut es ihm gleich. Wetten, dass die Worte jetzt mehr Sinn ergeben?
Bei der Anwendung dieser Technik, sollte man allerdings sorgfältig auswählen, was man liest. Nichtssagende oder emotional geladene Literatur würde das Problem nur verschlimmern. So wäre es vermutlich kontraproduktiv, die tägliche Sensationspresse auf diese Art zu lesen 👿.
Am Anfang dieses Artikels stand die Beschreibung einiger körperlicher Aspektedes Atems, dann wurde der Einfluss des Ichs auf den Zustand der Atmung skizziert. Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Wenn man es sich zur Gewohnheit macht, den Atem zu beobachten, kann man lernen, die sich nahenden Zeichen von Stress zu erkennen und kann vorbeugende Massnahmen ergreifen.
Für die meisten Menschen mag dies genügen. Sie hätten ein wirksames Werkzeug, um sich bei. „Stress“ adäquat zu verhalten. In Unkenntnis einer anderen Möglichkeit, könnten sie denken, „Stress ist nun mal ein unvermeidliches Attribut des Lebens. Das lässt sich nicht ändern, aber mit dieser Methode kann ich mich davor schützen.“ Für jemand, der die Erfahrung gemacht hat, dass man eine tief sitzende Gewohnheit geistig überwinden kann, ist diese Haltung unakzeptabel. Wer begonnen hat, sein Selbst zu studieren, hat in der ruhigen Meditation erkannt, dass die Entwicklung eines ruhigen, langen und regelmässigen Atems zur Vertiefung der Praxis unerlässlich ist. Diese Entdeckung können wir alle machen.
Der Buddha sagte :
„Es gibt einen direkten Weg zur Überwindung von Kummer und Gram, zum Beenden von Schmerz und Angst und zur Verwirklichung von vollkommener Gelassenheit.
Es ist der Weg des achtsamen Ein- und Ausatems und der achtsamen Betrachtung von Körper und Geist. Wie entwickelt und praktiziert man achtsames Ein- und Ausatmen, so dass die Achtsamkeit auf den Körper ge- sammelt bleibt?
Man zieht sich an einen stillen Ort zurück, setzt sich hin, hält den Körper aufrecht und verankert die Achtsamkeit im Atem.
Wann immer man lang einatmet, ist man sich bewusst, dass man lang einatmet, oder lang ausatmend, nimmt man wahr, dass man lang ausatmet.
Wann immer man kurz einatmet ,ist man sich bewusst, dass man kurz einatmet, oder kurz ausatmend, nimmt man wahr, dass man kurz ausatmet.
Man übt achtsam einatmend, sich des ganzen Körpers bewusst zu sein, und achtsam ausatmend, sich des ganzen Körpers bewusst zu sein; man übt achtsam einatmend die Aktivitäten des Körpers zur Ruhe zu bringen. und achtsam ausatmend die Aktivitäten des Körpers zur Ruhe zu bringen.
Auf diese Art verweilt man fokussiert im Körper und in der Betrachtung des Körpers – mit grossem Eifer, bewusst und aufmerksam – und bezwingt die Wünsche und Sorgen dieser Welt.“
Die vollständige Anleitung Buddhas zur achtsamen Atemmeditation ist zu finden im Satipatthana-Sutra und im Anapanasati-Sutra.
deutsch: – Thich Nhat Hanh: Umarme deine Wut.
Winter 2003