Vimalakirti Sutra 6

Die unvorstellbare Freiheit

Vimalakirti Sutra 6 – Das 6. Kapitel des Vimalakirti-Sutras handelt von der unvorstellbaren Freiheit des ursprünglichen Geistes. Diese Freiheit ist unvorstellbar, weil sie in keinem Konzept, Gedanken oder Wort zu finden ist. Sie kann jedoch erlebt werden. Aber nur, wenn alles dualistische Denken und voreingenommene Handeln «ausgeschaltet ist».

Um dies zu demonstrieren, verwickelte Vimalakirti seine Besucher in diverse übersinnlich und übernatürlich scheinende Geschehnisse. Wir sehen uns konfrontiert mit einer Fülle von Wundern und magischen Phänomenen, die unserem vernünftigen und skeptischen Geist fremd, um nicht zu sagen suspekt und unglaubwürdig vorkommen. Aber eben darum geht es in diesem Kapitel.

Erinnern wir uns daran, dass das Vimalakirti-Sutra wie eine Art von Inszenierung oder Theaterstück zu lesen ist. Dabei wird das menschliche Denken und Handeln im Licht einer vollkommen klaren, von jeglichen Einschränkungen freien Sicht beleuchtet.

Vimalakirti und Manjushri verkörpern diese klare Sicht. Sie veranstalten ihr Spiel, um uns gewöhnlichen Menschen eine Möglichkeit zu geben, unsere begrenzte und trübe Sicht ebenfalls zu klären und zu erweitern, damit wir, wie sie, das grenzenlose Eine inmitten der zahllosen Einzeldinge erkennen vermögen. Zu diesem Zweck tun sie alles in ihrer Macht stehende, um uns sämtlicher rationalen Geistesfunktionen zu berauben. Denn – und das ist die zentrale Botschaft des ganzen Kapitels: Das Dharma der Wirklichkeit ist nicht innerhalb der Grenzen und Bedingungen unserer sinnlichen Wahrnehmungswelt zu erfassen. Das klare Licht der Weisheit ist das Dharma, ist die geistige Quelle, der alles Leben entspringt. Um sie freizulegen, müssen sämtliche Grenzen unserer mentalen Aktivitäten gesprengt werden.

Wie soll dies möglich sein? Wie soll man das machen? Davon handelt dieses Kapitel. Und es beginnt ganz konkret bei einem Gedanken; einem Gedanken, den wir alle haben könnten, wenn wir mit der gossen Besuchermenge im leeren Krankenzimmer von Vimalakirti stehen würden.

Shariputra sucht Stühle

Der ehrwürdige Shariputra dachte bei sich: «In diesem Haus gibt es nicht einen einzigen Stuhl. Wo sollen all die Schüler und Bodhisattvas denn sitzen?»

Wir kennen Shariputra bereits als einen der hochangesehenen Gelehrten unter Buddhas Anhängern. Er ist es, der im Herz-Sutra direkt angesprochen wird. Er verkörpert den pragmatischen, skeptischen, durch und durch ehrlichen und ernsthaften Geist eines nach Wahrheit suchenden Menschen. Noch aber war sein Geist nicht vollkommen frei, noch haftete er an Regeln und Konzepten in Bezug auf Buddhas Lehre.

Hier oder In dieser Situation? stellt er sich also die Frage, wo sich die abertausend Besucher in Vimalakirtis leerem Zimmer setzen können. (S. Kap. 5.1)

Wir wissen nicht, ob Shariputra sich nicht vorher schon gefragt hat, wie es überhaupt möglich ist, dass so viele Wesen in dem kleinen Zimmer Platz finden. Wir können uns diese Frage aber jetzt selber stellen. Sehr oft wird sie auch von Zen-Meistern gestellt: «Wie kommt es, dass Vimalakirti in seinem kleinen Zimmer von 2×2 Metern eine unermessliche Zahl von Schülern und Bodhisattvas empfangen konnte?»

Ich denke die Antwort sollte nicht allzu schwierig sein, wenn man versteht, dass das Zimmer mit Vimalakirtis Bewusstsein gleichzusetzen ist.

Für einen in Metern und Zahlen denkenden Geist, ist es natürlich undenkbar, so viele Leute in die vier Wände eines kleinen Raumes einzupferchen. Aber was geschieht, wenn man die Wände wegnimmt – die sichtbaren und die unsichtbaren? Wo sind dann Grenzen und Beschränkungen? Ist es nicht auch unserem Geist möglich, in einem Gedanken die ganze Menschheit zu «sehen», oder in einem Blick in den Himmel abertausend Sterne einzufangen?

Dem weiten, grenzenlosen Geist von Vimalakirti, der auch unser natürliche Geist ist, ist alles möglich; und es entgeht ihm nichts.

Das grosse Unbekannte

Das Sutra berichtet:

Vimalakirti las den Gedanken von Shariputra und sagte: «Ehrwürdiger Shariputra, bist du um des Dharmas willen hergekommen? Oder bist du wegen eines Stuhls hierher gekommen?»

Nachdem Shariputra aufgeschreckt bekräftigte, er sei natürlich wegen des Dharmas gekommen, nutzte Vimalakirti die Gelegenheit für eine ausführliche Belehrung, die ich etwas verkürzt und frei wiedergebe. Die Worte Dharma und Wirklichkeit sind hier synonym. Wer am typisch buddhistischen Flair und den damit verbundenen Sanskrit-Begriffen dieser Abhandlung interessiert ist, den verweise ich auf den von mir benutzen Originaltext von Ch. Luk.

Vimalakirti sagte:

«Shariputra, wer nach dem Dharma strebt, hängt nicht an seinem Körper und Leben, geschweige denn an einer Sitzgelegenheit. Denn das Dharma hat nichts zu tun mit unserem Körper und dessen Wahrnehmungsfunktionen. Man findet es wederin den geformten Dingen, den Empfindungen, Vorstellungen, Unterscheidungen und dem Bewusstsein davon, noch ist es an die Sinnesorgane und ihre Objekte gebunden.

Wer die Wirklichkeit sucht, klammert sich nicht an Buddha, Dharma und Sangha. Er spricht nicht von den Vier Wahrheiten und anderen Lehren. Warum nicht? Weil die Wirklichkeit völlig unabhängig ist von ausgeklügelten Theorien und Doktrinen. Wenn man denkt, man könne den Worten von Buddha oder anderen Weisen folgen, um glücklich oder frei zu werden, dann richtet man sich bloss nach vorgegebenen Gedankengebäuden, aber nicht nach der Wirklichkeit.

Sucht man den endgültigen Zustand von Frieden oder die Freiheit von Geburt und Tod, ist man an die Vorstellung von Frieden, Geburt und Tod gebunden. Vorstellungen, Meinungen, Überzeugungen jeder Art laufen dem Streben nach Wahrheit zuwider.

Die lebendige Wirklichkeit, der leuchtende Geist, ist nichts, das man praktizieren kann. Praktizieren kann man nur etwas, das man gelernt hat; Praxis ist im Grunde genommen nichts anderes als die wiederholte Anrufung der Erinnerung an das Gelernte.

Wenn man glaubt, das Buddha-Dharma zu kennen und zu lieben, dann ist das eine Inbesitznahme, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Geist kann weder ergriffen noch abgewiesen werden.

Egal, woran man die Wirklichkeit festmachen will, sei es an einer Form, einer Empfindung, einem Ort, einer Idee, einem Bewusstseinszustand, – man findet immer nur die Form, die Empfindung, den Ort, die Idee, den Bewusstseinszustand, nach denen man sucht. Deshalb, Shariputra, bedeutet die Suche nach der Wirklichkeit nicht, irgendetwas zu suchen.»

Das Jenseits ist hier

Was Vimalakirti hier sagt, ist nichts anderes, als das, was alle Menschen sagen, die die existentielle Grundlage aller Lebenserscheinungen erkannt haben: Das wahre Wesen – das unpersönliche Selbst, das transzendente Sein, Gott, oder wie man die letztendliche Wirklichkeit nennen mag – ist nicht innerhalb des denkenden, von den Sinnen abhängigen, wechselhaften Geistes zu finden, mit dem unser Ich identifiziert ist. Man mag noch so sehr an der Psyche und den Gewohnheiten herumflicken, sie analysieren, «heilen» oder ablehnen, man bleibt in ihrem Labyrinth gefangen. – Und doch ist die Wirklichkeit nicht weit weg, sondern gerade hier, wo du bist

Die konkrete Möglichkeit, dies selber zu erfahren, ist die totale Selbstvergessenheit und Präsenz im Zustand der Meditation. Wobei Meditation hier nicht mit einer überlieferten Methode, wie Sitzmeditation, Achtsamkeitsmeditation, Visualisierung usw. gleichzusetzen ist. Diese Methoden sind bestenfalls Hilfsmittel, um den Geist zu beruhigen und für den Sprung ins Nichts der Wirklichkeit vorzubereiten; sehr oft aber sind sie eher Hindernisse, weil sich der Geist mit den Methoden beschäftigt und nicht mit der Wirklichkeit.

Meditation bedeutet hier, die Loslösung von sämtlichen mentalen Aktivitäten. Da geht bis ans Ende des Denkens und dann noch einen Schritt weiter. Dann kann sich die Leuchtkraft der höchsten Weisheit entfalten. Man versteht ohne zu verstehen …, weiss ohne zu wissen…
Im Herz-Sutra heisst es: Dank der Weisheit (Prajñāpāramitā), die über alles hinausführt, verwirklichen Buddhas und Bodhisattvas den unbeirrbaren Geist, ohne Hindernisse. Keine Hindernisse, keine Angst. Sie trennen sich von jeder Verstörtheit und Täuschung … Es endet mit dem Satz:

Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi svaha! –
Gegangen, gegangen, hinüber gegangen (vom Ufer des Leidens zum anderen Ufer der Freiheit vom Leiden), und darüber hinaus gegangen; vollkommene Weisheit, Amen!

Dies können wir nur im tiefsten Inneren, für uns selbst, in der absoluten Gedankenstille entdecken und bezeugen.

Die unfassbare Dimension des Geistes

Das Sutra berichtet, bei diesem Vortrag von Vimalakirtis hätten fünfhundert Devas das «reine Dharma-Auge» geöffnet. Für mich bedeutet dies nichts anderes, als dass sich bei einer grossen Zahl der Anwesenden Herz und Geist geöffnet hatten, so dass sie staunend der Unermesslichkeit und Potenz ihres eigenen Wesens gewahr wurden.

Vimalakirti wäre nicht Vimalakirti, wenn er diesen Moment des Staunens nicht benutzt hätte, um dem Gesagten mit Humor und Geschick Nachdruck zu verleihen. Er wandte sich an Manjushri und fragte ihn:

«Ehrwürdiger Manjushri, Du hast unendlich viele Buddha-Länder durchwandert, in welchem hast du den schönsten und edelsten Löwenthron gesehen?» (Der Löwenthron ist der Sitz eines Buddhas).

Manjushri durchschaute Vimalakirtis Absicht und spielte mit:

«Ehrwürdiger Haushälter, auf meiner Wanderung durch Länder, die so zahlreich sind wie die Sandkörner in sechsunddreissig Ganges-Flüssen, habe ich ganz im Osten eines gefunden, dessen Buddha namens Merudaya von so grosser Gestalt ist, dass man ihn gar nicht als Ganzes sehen kann. (Merudeva kann übersetzt werden als «Welten erhellendes Licht».) Der besitzt einen Löwenthron, der ebenso hoch und weit ist und von herausragender Erhabenheit.»

Nun setzte Vimalakirti flugs seine übernatürlichen Kräfte ein, um den weit entfernten Buddha Merudaya zu bitten, zweiunddreissigtausend hohe, majestätische und makellose Löwenthrone in sein Zimmer zu schicken. Weder die Bodhisattvas noch die Anhänger von Shakyamuni-Buddha noch die zahllosen überirdischen Anwesenden hatten je solche gigantische und wundervolle Stühle zu Gesicht bekommen.

Das Zimmer nahm alle zweiunddreissigtausend Löwenthrone problemlos auf, keiner behinderte den andern. Auch in der Stadt Vaisali, sowie auf der Erde und in den Himmeln änderte sich nichts; es gab keinen Platzmangel und alle Dinge blieben unversehrt.

Frage: Könnt ihr das Spiel von Vimalakirti und Manjushri durchschauen? Seht ihr, was sie demonstrieren?

Ihr braucht euch nur daran zu erinnern, wie ihr in eurem Kinderzimmer die ganze Welt erobert, als Piraten alle Meere unsicher gemacht, mit Feen und Engeln kommuniziert und böse Geister geschaffen habt, um euch vor ihnen zu fürchten. Habt ihr damals auch nur einen Augenblick an der Wirklichkeit eures Erlebens gezweifelt? Haben euch irgendwelche Bedenken in imaginäre Schranken verwiesen?

Warum sind wir heute so kleinmütig und engstirnig, wo wir doch einst mit Freude und Begeisterung abertausend Welten durchwandert haben, die allein in unserem natürlichen Kindergeist innert Sekunden entstehen und vergehen konnten?

Vimalakirti lud alle Anwesenden ein, auf einem Löwenthron Platz zu nehmen, indem sie ihren Körper entsprechend ausdehnten. Manjushri und die Bodhisattvas, die ihre Geistesnatur bereits kannten, hatten keine Mühe damit. Die jüngeren Bodhisattvas und die Hauptschüler Buddhas inkl. Shariputra jedoch konnten die hohen Sitze nicht besteigen.

Shariputra sagte stellvertretend für sie alle: «Das ist viel zu hoch für mich.» (Damit war wohl nicht nur der Stuhl gemeint!) Er konnte die Grenzen seines geschulten Intellekts (noch) nicht überschreiten.

Vimalakirti riet Shariputra, zuerst dem Buddha Merudaya Ehre zu erweisen. Danach werde es auch für ihn möglich sein, auf einen der Throne zu steigen.

In der Tat, nachdem Shariputra und die anderen Jünger Buddhas sich Merudaya vergegenwärtigt und sich in Dankbarkeit vor ihm verneigt hatten, waren auch sie in der Lage, sich auf einen Löwenthron zu setzen.

Wie ist das zu verstehen?

Die Flexibilität des Geistes

Solange wir uns mit unserem Körper und Denken identifizieren, sehen wir nur die Dinge innerhalb unseres begrenzten persönlichen Bewusstseins. Doch wenn wir uns die universale Weisheit des Alls vergegenwärtigen und uns demütig davor verneigen, dann können die Schranken fallen. Dann sind wir wieder fähig, wie Kinder das ganze Universum in Besitz zu nehmen und uns frei darin zu bewegen. Wir haben diese Fähigkeit nie verloren, sondern bloss vergessen. Denn wir sind ausnahmslos und unverbrüchlich verbunden mit dem universalen Geist der Wirklichkeit. Man kann sich gar nicht davon trennen. Man kann nicht aus dem Universum fallen.

Apropos sich demütig verneigen: Wenn wir unser von Natur aus gegebenes Licht unter Verschluss halten, weil wir denken, wir seien nichts wert, uns kleinlaut dem Diktat der vorherrschenden Meinungen unterwerfen, oder uns hinter unserer Unwissenheit verstecken, dann ist das kein Zeichen von Bescheidenheit und Demut, sondern eher von einer perversen Arroganz. Dasselbe gilt, wenn wir uns ausschliesslich auf unsere aufgeklärte Rationalität berufen und alle unerklärlichen Phänomene als Humbug oder primitiver Aberglaube von uns weisen. Warum? Weil wir uns mit diesem Verhalten aktiv der Geistesnatur verschliessen.

Sich mit Entschlossenheit zur echten Meditation hinzusetzen, dem mentalen und emotionalen Chaos standzuhalten, nicht gleich aufzugeben, wenn die Beine weh tun, sich in allem Tun nicht beirren zu lassen, das braucht Mut, Ausdauer, Geduld und vor allem Vertrauen in die Weisheit des eigenen Geistes. Sich mit voller Hingabe vor der grenzenlosen Buddha-Natur zu verbeugen, eventuell sogar 108 Mal, so wie es in einigen buddhistischen Tempeln zur Vorbereitung auf die Sitzmeditation üblich ist, wobei jede Verbeugung ohne Erwartung und ohne Hintergedanken vollzogen wird –, dieses Tun kann eine überaus starke, reinigende Wirkung haben. Die Ich-Haftung wird geschwächt, Körper und Geist werden gestärkt. Beweisen muss man sich dies allerdings selbst.

Die ganz Welt in einem Senfkorn

Vimalakirti sagte:

«Shariputra, die Freiheit, die durch die Realisation des wahren Wesens von den Buddhas und vielen Bodhisattvas verwirklicht wurde, ist unvorstellbar. Wer diese Freiheit erlangt, kann den grossen (Berg) Sumeru in ein Senfkorn stecken, ohne dass sich dieses vergrössert oder verkleinert. Der Sumeru bleibt dabei derselbe und seine Bewohner merken nicht einmal, dass sie in das Senfkorn gesteckt wurden.

Er kann auch die vier grossen Ozeane, die den Sumeru umgeben, in eine Pore legen, ohne Fischen, Wasserschildkröten, Seeschildkröten, Wasserechsen und allen anderen Wassertieren Unannehmlichkeiten zu bereiten und ohne dass sich Ozeane irgendwie verändern.

Weiter, Shariputra, ein Lebewesen, das diese Freiheit erlangt hat, kann eine Woche in ein ganzes Zeitalter und ein Zeitalter in eine Woche umwandeln.

Ausserdem, Shariputra, kann er alle Winde, die in den Welten der zehn Richtungen wehen, einatmen (und in seinem Mund halten), ohne seinen eigenen Körper oder die Bäume dieser Welten zu verletzen.

Und wenn die Welten in den zehn Richtungen durch Feuer zerstört werden, kann dieser Bodhisattva diese Feuer in seinen eigenen Bauch einatmen, ohne von ihnen verletzt zu werden, während sie unverändert weiterbrennen.»

Die Liste der wundersamen Taten, die ein von allen Konzepten freier Mensch vollbringen kann, ist noch lang. Vimalakirti selbst gibt zu, dass sie letztendlich endlos ist.

«Shariputra, ich habe nur einige der Fähigkeiten erwähnt, die sich aus dieser unvorstellbaren Freiheit ergeben, aber wenn ich sie alle aufzählen würde, wäre ein ganzes Äon zu kurz für diesen Zweck.»

Es ist keiner zu klein, das Universum zu sein!

In der traditionellen Schulung des Zen werden viele dieser Fähigkeiten in Form von Koans erforscht und zum Leben erweckt. Man wird zum Beispiel aufgefordert, das ganze Universum in einem Körnchen Salz zu zeigen, oder den Ozean mit einem Schluck zu trinken … Auf diese Weise kann man erkennen, dass es sich bei diesen Bildern nicht um verschlüsselte Rätsel oder Magie handelt, sondern um natürliche Manifestationen des kreativen, spontanen Geistes. Man muss sich bloss von den Vorstellungen von Gross und Klein, Innen- und Aussenwelt und anderen begrenzenden Ideen trennen. Dann offenbart sich alles von selbst.

Und wer schon einmal im Zazen den Zustand erlebt hat, in dem der Geist fest und klar ist wie ein Kristall, ohne Körper- und Zeitgefühl, unerschütterlich und unbekümmert, der kann vielleicht verstehen, was es bedeutet, alle Winde und Feuer, die den Weltuntergang begleiten, in sich aufzunehmen, ohne dass er selbst oder etwas anderes dabei zu Grunde geht.

Dieses direkte Erleben des allumfassenden, grenzenlosen Geistes ist das, was Vimalakirti dem Shariputra und uns hier zu eröffnen versucht. Man könnte diese Lektion zusammenfassen mit dem Satz:

Was immer du tust – tue es im Angesicht der Unendlichkeit!

Blind und taub

Unter den Besuchern befand sich auch Mahakashyapa. Er war begeistert von Vimalakirtis Rede und meinte, so sei das Dharma der vollkommenen Freiheit noch nie dargelegt worden. Dann wandte er sich an Shariputra und sagte:

«So wie Blinde farbige Bilder, die man ihnen zeigt, nicht sehen können, so können (blindgläubige) Schüler das Dharma der unvorstellbaren Freiheit zwar hören, aber nicht verstehen. Die Weisen jedoch, die davon hören, richten ihren Geist unmittelbar auf die höchste Erleuchtung.

Wie kommt es, dass die Menschen die Fähigkeit zum wahren Verstehen schon so lange verloren haben? In Bezug auf die Essenz des Buddha-Dharmas gleichen wir verfaulten Samen. Wer noch dem dualistischen Denken und in der Ichhaftigkeit verhaftet ist, sollte Tränen der Reue vergiessen; während diejenigen, deren Dharma-Auge schon offen ist, sich glücklich schätzen sollten, diese Lehre zu hören.»

Nun übernimmt also Mahakashyapa das Ruder, um Vimalakirtis Ausführungen zu ergänzen. Ich halte das, was er zu sagen hat, für äusserst wertvoll und hilfreich. Denn er beantwortet eine Frage, die wir sicher alle ab und zu stellen, und die ich sehr oft zu hören bekomme, nämlich:

Warum ist die Welt immer noch so voller Hass und Leid, wenn wir doch seit Urzeiten aus allen Himmelsrichtungen und Kulturen die Botschaften von Freiheit von Hass und Leiden hören, sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form?

Dazu erklärt Mahakashyapa klipp und klar: Das liegt an unserer mentalen Unbeweglichkeit, an der Unfähigkeit – oder ist es fehlender Wille? – die mentalen Grenzen zu sprengen. Indem wir am dinglichen Denkens mit seiner Subjekt-Objekt-Spaltung haften, verkümmert der offene, spontane Geist in der Zange des Dualismus und Egoismus.

Wenn man den Meissel nicht bei sich selbst ansetzt, um die harte Schale, die seit Generationen den Samen der der schöpferischen Weisheit umhüllt, zu durchbrechen, bleibt man geistig blind und taub.

Wahre Unverletzlichkeit

Mahakashyapa fährt fort:

«Den Menschen, die dieses Dharma zur unvorstellbaren Freiheit achten und dementsprechend leben, können alle Dämonen der Welt nichts anhaben.»

Wie kann ein Mensch so frei und unverletzlich werden? Die Antwort ist so alt wie die Frage selbst. Sie lautet:
Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst. Sehe dich selbst in allen und alle in dir selbst.

Mit anderen Worten: Öffne dein Herz und deinen Geist für alle Lebewesen gleichermassen – nicht nur für deine Nächsten oder die Pflanzen und Tiere in deinem Garten. Befreie die wahre, unparteiische Liebe von den unzähligen Hindernissen wie eigennützige Unterscheidungen, Bedingungen, Ressentiments usw.

Dies kann nur ein vollkommen freier und grossmütiger Geist vollbringen. Und selbst wenn ein solcher Geist vorhanden ist, ist dauerhafte Achtsamkeit und immer neues Bemühen nötig, um Rückfällen in die parteiische Gefühlsduselei, die wir für Liebe halten, entgegenzuwirken. Mit dieser Aufgabe sind wir niemals fertig.

Und man sollte jegliche Hilfe annehmen, die einem zu Teil wird, selbst dann, wenn sie sich maskiert und aus einer ganz anderen Ecke kommt, als man sie erwartet. Hören wir, was Vimalakirti dazu zu sagen hat:

«Mahakashyapa, die Dämonen, die in den zahllosen Welten erscheinen, sind meist Bodhisattvas, welche die unvorstellbare Freiheit verwirklicht haben und nun zweckmässige Mittel (upaya) benutzen, um Lebewesen auf den Befreiungsweg zu führen.

Des Weiteren treten unzählige Bodhisattvas als Bettler auf. Sie verlangen nach Händen, Füssen, Ohren, Nasen, Köpfen, Gehirnen, Blut, Fleisch, Haut und Knochen und allen anderen Besitztümern der Menschen. Sie tun dies, um die Standhaftigkeit der Weisen zu prüfen und ihren Glauben (an das Dharma) zu festigen. Denn nur Bodhisattvas, welche die unvorstellbare Freiheit verwirklicht haben, besitzen die beeindruckende Kraft, Lebewesen, die nach der Verwirklichung des Dharmas streben, dermassen herauszufordern und schier Unmögliches zu verlangen. Weltliche Menschen, deren Geisteskraft schwach ist, können dies nicht zustande bringen. Diese Bodhisattvas sind wie Drachen und Elefanten, die mit ungeheurer Kraft zertrampeln können, was Esel nicht vermögen. Dies nennt man die Weisheit und geschickte Anwendung der Hilfsmittel derjenigen, die die unfassbare Freiheit erlangt haben.»

Die geschickte Anwendung von Hilfsmittel

Eine Frau nahm war beeindruckt von der buddhistischen Ideal von Weisheit und liebender Güte. Sie beschloss, an einem Meditationsretreat teilzunehmen, um dies zu «lernen». Entgegen ihrer Erwartung war der dortige Lehrer kein sanfter und gütiger Mann, sondern zeigte ein eher forsches und sprödes Auftreten. Er hatte kein Bedenken, jeden Menschen, der seine Unterweisung suchte, ohne grosse Umschweife mit unverblümten Worten auf ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten aufmerksam zu machen. Es war unmöglich, ihm etwas vormachen.

Als die Frau einem Schüler dieses Meisters nach dem Retreat etwas empört erzählte, wie sie hart angefasst worden sei, antworte dieser: «Liebe Freundin, du solltest wissen, dass es grosse Liebe und Weisheit braucht, um den Panzer eines wehleidigen Egos anzugreifen.»

Ja, wenn ein Bodhisattva nur um das Wohl eines anderen besorgt ist, und tut, was zu tun ist, um ihn von irgendeinem Leiden zu erlösen, dann ist es ihm völlig egal, ob er dafür geliebt, gelobt oder gehasst wird. Eine Vogelmutter kann dem Jungvogel zur Geburt verhelfen, indem sie gegen die Wand des Eis pocht, während das Junge die Wand von innen her selber durchbrechen muss. Ein weiser Lehrer kann nur gegen die Wand des Egos pochen; daraus befreien müssen und können wir uns selbst. Das Vogeljunge hat von der Natur einen speziellen Eizahn bekommen, uns ist die Potenz zum Erwachen gegeben. Beides dient demselben Zweck.

Hören wir also auf, über die «schlechte Welt» und «bösen Menschen» zu klagen. Erkennen wir die wahren Gründe für den Fortbestand von Hass und Diskrimination. Setzen wir den Hebel bei unserer eigenen Verblendung an – Nutzen wir unseren angeborenen freien Buddha-Geist, um Ordnung in unserer eigenen Innenwelt zu schaffen. Üben wir uns in der unvorstellbaren Freiheit, über den eigenen Schatten zu springen.

Vimalakirti Sutra 6
Vimalakirti Sutra 6
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