Vimalakirti Sutra 5.1

Manjushri befragt Vimalakirti

Vimalakirti Sutra 5.1 –Vorbemerkung: Die Betrachtungen zu diesem Kapitel erfolgten im Rahmen einer Meditationswoche im Sommer 2022. Sie widerspiegeln die direkte Beziehung zwischen der intensiven Praxis der Sitzmeditation und deren Anwendung im täglichen Leben, wie sie auch im Vimalakirti-Sutra zum Ausdruck kommt. 

Das Kapitel 5 enthält gewissermassen die Quintessenz oder den Drehpunkt des ganzen Sutras. Es beschreibt die Begegnung von Manjushri und Vimalakirti. Beide galten als vollkommen erwachte Bodhisattvas, deren tiefes Verstehen der Wirklichkeit und die Fähigkeit, dieses im täglichen Leben zu manifestieren weitum bekannt war. 

Man darf wohl mit gutem Recht sagen, dass alle vorangehenden Kapitel auf diesen Höhepunkt zielen. Lasst uns deshalb nochmals kurz auf die Vorgeschichte zurückschauen, die uns bis hierher geführt hat. 

Rückblick

Wir wir wissen, war Vimalakirti ein bekannter, wohlhabender Geschäftsmann und Schüler von Buddha. Er war hoch angesehen, weil er nicht nur in seinem Geschäft erfolgreich war, sondern weil seine Weisheit so tief und umfassend war, wie die von Buddha selbst. Andererseits galt er als Aussenseiter, weil er als ganz gewöhnlicher Haushälter lebte. «Haushälter» (Skr. Lincchavi) war der offizielle Titel für die sogenannten  Laien, die sich nicht im engen Kreis der ordinierten Mönche und Nonnen bewegten. 

Eines Tages verbreitete sich die Kunde, Vimalakirti sei krank. Der Buddha wünschte, einen Boten zu Vimalakirti zu schicken, um sich nach dem Wesen seiner Krankheit zu erkundigen. Aber alle angefragten Schüler – das Sutra erwähnt 14 mit Namen – scheuten sich, diese Aufgabe zu übernehmen. Dies, weil sie irgendeinmal eine Begegnung mit Vimalakirti hatten, bei der sie sich seiner Geistesschärfe nicht gewachsen fühlten.  

Nur Manjushri willigte ein, dem Auftrag Buddhas Folge zu leisten.  

Hintergrund

Bevor wir in die Materie einsteigen, möchte ich einige Bemerkungen machen zum speziellen Szenario dieser Geschichte: 

Meines Erachtens handelt es sich nicht bloss um einen Text aus dem alten Indien. Das ist es natürlich auch; und als solches ist es eine Schrift des Mahāyāna-Buddhismus, die sich um die Verwirklichung des Buddha-Dharmas im Alltag dreht. Zu jener Zeit  entwickelten sich zwei Modelle der Dharma-Praxis. Das eine betonte das Streben nach Erleuchtung zum Zweck der Selbstbefreiung und dem Erlöschen aller menschlichen Begierden. Es propagierte die Abwendung von der Welt und war der bevorzugte Weg der ordinierten Mönche und Nonnen. Das andere Modell betonte das Streben nach Erkenntnis mitten in der Welt zum Wohle aller Lebewesen. Es missachtete die Welt nicht und war der Weg der Laien, wie Vimalakirti einer war. 

Diese beiden Modelle wurden schon zu Buddhas Zeiten diskutiert und es gab auch unter Buddhas Schülern eine Art Rivalität zwischen den Parteien. – Das ist einfach so bei uns Menschen, wir müssen uns immer streiten… 

Aber im Vimalakirti-Sutra geht es nicht um richtig oder falsch. 

Hätten wir es bloss mit einem philosophischen Text zu tun, bräuchten wir uns nicht damit zu befassen. Aber wenn wir realisieren, dass das Sutra mehr als eine historische Überlieferung ist, nämlich ein Spiegel unserer  eigenen Lebensrealität, unseres eigenen Geistes, dann führt die Beschäftigung damit über das zeitlich Bedingte hinaus.  Dann offenbart es eine Tiefe, die wir nie ganz ausloten können.

So wie «Buddha» nicht der Inder ist, der vor langer Zeit lebte und predigte, sondern ein Symbol, ein Name für die potentielle Kraft der Erkenntnis, so sind «Vimalakirti» und «Manjushri» Symbole und Namen für die lebendige Präsenz des erwachten Geistes in der Menschenwelt. Mit anderen Worten: Die Protagonisten  dieses Sutras sind auch in unserem Geist gegenwärtig, hier und jetzt! Sie existieren nur da, nirgendwo anders.   

Das Schauspiel

Mit diesem Verstehen können wir das ganze Sutra wie eine grossartige Inszenierung betrachten, ein sorgfältig angelegtes Theaterstück. Nicht im negativen Sinne wie: «Ach, das ist ja bloss ein Theater». N Nein, sondern wie ein universales Welttheater! So, wie es in manchen Dörfern und Ortschaften noch heute üblich ist, dass die BewohnerInnen ab und zu zusammenkommen, um das Welttheater aufzuführen. Dabei erleben sowohl Zuschauer als auch Mitspieler hautnah das Zusammen- und Gegenspiel von Leben und Tod, Arm und Reich, Gut und Böse.

Analog dazu spielen Vimalakirti und Manjushri sowie alle anderen Wesen, die in diesem Kapitel auftreten, ihre Rolle in einem Stück, das die ganze Weisheit der Buddha-Lehre veranschaulicht. Es hält uns einen Spiegel vor. Darin können wir sehen, was die Wirklichkeit unserer Existenz aus der Sicht eines erwachten Geistes ist, im Gegensatz zur Scheinwelt der verzerrten Sicht der kollektiven Menschheit. Mögen sich unsere Augen öffnen und unser Mund ab und zu ein stummes: «Ah, so ist das …», «Oh, jetzt verstehe ich…» oder: «Aha…» aussprechen.   

Die Vorstellung beginnt

Der Buddha zu Manjushri: «Geh du zu Vimalakirti, um dich nach seiner Gesundheit zu erkundigen.» 

Manjushri: «Vimalakirti ist ein Mann von überragender Weisheit, und es ist nicht leicht, mit seiner Beredsamkeit mitzuhalten. Er lebt ganz und gar in der Wirklichkeit und hat alle Zweiheiten überwunden. Seine Weisheit ist grenzenlos und er findet für alle die rechten Worte. Er kennt sich in allen Aspekten des Buddha-Weges aus, denn er ist tief in das unergründliche Mysterium der Buddhaschaft eingedrungen. Und er versteht es, die nicht-duale Weisheit auf geniale Weise zu lehren. Obwohl ich ihm geistig nicht ebenbürtig bin, werde ich dem Auftrag des Ehrwürdigen Folge leisten und Vimalakirti aufsuchen, um mich nach seiner Gesundheit zu erkundigen.» 

Manjushri sagt also nicht: «O nein, auch ich habe Schiss vor diesem Mann.» Er sagt auch nicht: «Dem werde ich es zeigen!» Nein! Er bekundet seinen grossen Respekt und war einverstanden: «Ja, ich mache das! Ich übernehme diesen Auftrag. «

Auftritt der Statisten

Die anwesenden Bodhisattvas, die Hauptschüler des Buddha, eine grosse Schar von Brahmanen und Laien sowie die Herrscher der Himmel dachten bei sich: «Wenn sich diese beiden grossen Weisen (Mahasattvas) treffen, werden sie sicherlich über das tiefgründige Dharma diskutieren. Dies wollen wir uns nicht entgehen lassen.»

Inzwischen hatten natürlich viele mitbekommen, was sich im Vorfeld dieser Begebenheit abgespielt hatte. Sie wussten, dass sich diverse Schüler geweigert hatten, Vimalakirti zu besuchen, weil sie sich nach einer früheren Begegnung mit ihm in ihrem Stolz verletzt oder verunsichert fühlten. Jetzt änderten sie ihre  Meinung: Toll, wenn der Manjushri geht, dann gehe ich auch; die beiden grossen Bodhisattvas reden sicher keinen Quatsch, die reden über die Wahrheit, da will ich auch dabei sein.

Man kennt das ja: Selbst wenn eine sachliche Kritik oder ein Verweis durchaus berechtigt und hilfreich ist, fühlt man sich betupft. Man denkt sogleich: «Oh, ich habe einen Fehler gemacht!» und reagiert mit Scham oder Abwehr. Diese Abwehr-Mechanismen wurden in den vorherigen Kapitel des Sutras aufgezeigt und benutzt, um uns zu helfen, sie in uns zu überwinden. 

Der Weise zeigt dir deine Fehler, gleich verborgenen Schätzen. 
Pflege den Umgang mit solchen Weisen, die verstehen, dich ermahnen und unterweisen.
Es ist ja doch zu deinem eigenen Vorteil.» – Dhammapada; Der Weise

Also versammelten sich achttausend Bodhisattvas, fünfhundert fortgeschrittene Schüler Buddhas und abertausend göttliche Wesen, um Manjushri zu folgen.

In buddhistischen Texten wird sehr oft mit unermesslichen Zahlen operiert. Man kann diese Aufzählung abtun als typisch indische Freude am Ausmalen und Übertreiben; man kann sie aber auch verstehen als Sinnbild für die unzähligen Neigungen, Ansichten und Wesen, die im menschlichen Geist – auch in unserem –, potentiell oder aktiv, vorhanden sind. 

Die ganze Schar steht gewissermassen an unserer Stelle auf der Bühne, um der Begegnung von Vimalakirti und Manjushri direkt beizuwohnen.

Gelegenheiten werden leicht verpasst …

Als ich in einem Zen-Kloster war, wurde ich einmal zusammen mit dem Hauptmönch zum Tee beim Roshi (Abt) gerufen. Kaum war der Tee serviert, begann der Roshi seinem Hauptmönch eine in meinen Ohren furchtbare Standpauke zu halten. Ich verstand wenig Japanisch aber es schien mir, als ob ein veritabler Hagelsturm auf den Mönch niederprasselte und kein Ende nahm. Wieder und wieder setzte der Meister zu einer neuen Wortsalve an. 

Erst später erfuhr ich, dass der Hauptmönch für einen harmlosen Streich einiger jungen Mönche,   der im nahegelegenen Dorf nicht gut angekommen war, gescholten wurde. Als Oberhaupt war er nämlich verantwortlich für den Ruf des Klosters bzw. das Verhalten seiner Bewohner.

Aber hat sich der Hauptmönch gewehrt mit Worten wie: «Ich habe von nichts gewusst … das war nicht meine Schuld … man muss den Leuten doch einen Spass gönnen?» Hat er sich entschuldigt? Hat er sich erklärt? 

Nichts von all dem. Er sagte bloss bei jeder Atempause seitens des Meisters: Ja! … Ja!  … Ja! und verzog keine Mine. 

Wie ein fester Felsen nicht erschüttert wird vom Wind, 
so wird auch der Weise nicht bewegt von Lob und Tadel. – Dhammapada; Der Weise

Dann war der Sturm plötzlich vorbei, wir leerten die Tassen, der Roshi unterhielten sich noch eine Weile mit uns und wir wurden entlassen.

Später fragte ich mich selbst: Wurde dieses Theater vielleicht (auch) für mich inszeniert? Damit ich sehen kann, wie ein von Lob und Tadel unabhängiger Geist funktioniert? Oder hat der Roshi nur die Gelegenheit benutzt, um zu zeigen, dass man Gewahr sein soll, dass das eigene Verhalten immer auch Auswirkungen auf die Umwelt und Folgen in der Zukunft hat? Wie zum Beispiel das, in den Augen des Meisters, unbedachte Tun der Mönche und die Untätigkeit ihres Oberhauptes? Ich jedenfalls habe die absichtliche oder unabsichtliche Lektion von Roshi nie vergessen.   

Das leere Haus

Und so begab sich Manjushri, in Begleitung dieser ehrfurchtsvollen Schar von Bodhisattvas, Schülern, Brahmanen sowie irdischen und himmlischen Wesen in die Stadt Vaisali. 

Vimalakirti, der im Voraus wusste, dass Manjushri und seine Anhänger kommen würden, nutzte seine grosse Geisteskraft und entleerte sein ganzes Haus von sämtlichen Bediensteten und allen Möbeln. Nur das Krankenbett liess er in der Mitte seines kleinen Zimmers stehen. 

Keine Möbel, keine Bilder, keine Angestellten, keine Familienmitglieder, keine … Nichts war da, ausser dem Bett, auf dem Vimalakirti ruhte. 

Stellt euch das vor: Vimalakirti weiss, dass Manjushri in Begleitung von Tausenden von Leuten kommt. Aber er lässt kein grosses Festmahl vorbereiten. Er lässt seine Bediensteten nicht Spalier stehen zum Empfang des berühmten Gastes mit seinem imposanten Gefolge. Er stellt seinen Reichtum nicht zur Schau – was er alles hat, was er geworden ist, was er weiss. Im Gegenteil, er schmeisst alles raus. 

Wie kann er, der doch krank ist, dies zu Stande bringen? Und warum tut er das?

Vimalakirtis Villa mag noch so gross gewesen sein, er hätte sicherlich trotzdem nicht alle ankommenden Gäste empfangen können, schon gar nicht im kleinen Krankenzimmer, wo er sie zu empfangen gedachte.

Wir müssen dies also anders verstehen. 

Was bedeutet das Haus und was bedeutet das Entleeren des Hauses? 

Ein Hinweis gibt das Sutra selbst, es sagt: «Vimalakirti nutzte seine grosse Geisteskraft und entleerte sein ganzes Haus.»

Wir haben es also mit einem geistigen Akt zu tun und einem geistigen Haus. Einem Haus, das von Natur aus leer ist, so wie jedes von Menschen gebaute Haus zuerst auch leer ist.  

Gedankenhäuser

An dieser Stelle  möchte ich einen Ausschnitt aus einem Zen-Vortrag von Meister Sokei-an zitieren: 

Wir Menschen können die Welt nicht unabhängig von den Sinnesorganen und dem eigenen Denken wahrnehmen. Die Sinnesorgane liefern nur Abbildungen von der Wirklichkeit, und die Schlüsse, die das Gehirn daraus zieht, sind Gedankenkonstruktionen ohne festen Grund und Boden. Doch man lebt in diesen Konstruktionen wie in Häusern. Dies lässt sich nicht ändern, aber es ist wichtig, dass ihr die Begrenztheit eurer Gedankengebäude kennt und euch nicht darin verliert.

Man sieht nur in der Stille klar, S. 27

Kennen wir unser eigenes Haus? 

Wie ist es möbliert und welches sind unsere Lieblingsmöbel? Was bedeuten sie uns? Wie richten wir uns ein, um es uns gemütlich zu machen und damit wir uns sicher fühlen im eigenen Haus?

Mit anderen Worten: Was sind unsere Gewohnheiten, Ideen, Vorstellungen, mit denen wir uns umgeben und identifizieren: Das ist mein Haus, das sind meine Gedanken, meine Gefühle? 

Wie ist unser Haus dekoriert? Welches Design, welchen Stil bevorzugen wir?

Mit welchen Ideen, Philosophie, Religion, Kunst usw. schmücken wir unseren Geist? (Sokei-an bemerkte einmal beiläufig: «Manche, die in kostspieligen äusseren Häusern leben, haben nur ein armseliges inneres Häuschen.»)  

Wer sind unsere Bediensteten, von denen wir uns umsorgen lassen und die unseren Wünschen und Bedürfnissen zudienen sollen? 

Mit anderen Worten: Welche Erwartungen und Forderungen verbinden wir mit meiner Mutter, meinen Kinder, meinen Freunden, meinem Mann, meiner Frau usw. die in meinem Haus ein und ausgehen?  Was wollen wir von ihnen und wie «bezahlen» wir sie für ihre Dienste?

Den Geist entleeren

Können wir unser inneres Haus vollkommen entleeren, wie Vimalakirti es tat? Haben wir dieselbe geistige Kraft, uns von unserem angesammelten und liebgewordenen Mobiliar zu trennen? Auch wenn es nur vorübergehend ist? ( Auch Gedankenleere ist kein bleibender Zustand.)  

Und warum sollten wir das tun? 

Die Antwort ist einfach: Wenn der Geist nicht frei und ungebunden ist, sondern verstellt mit allen möglichen Inhalten aus der Vergangenheit, gibt es keinen Raum für etwas Neues, Unbekanntes, Wahres. 

Das wahre Leben aber ist immer neu, immer unbekannt. Um es zu empfangen, muss der Geist leer sein. 

Doch wir haben Angst: Wenn mein Haus leer ist, was bleibt mir dann? Was habe ich dann? Wer bin ich dann?

Wir sollten uns dieser Frage stellen und sie selbst beantworten. Tun wir es nicht, bleiben wir in unserem Gewohnheitsdenken stecken. Dann können wir den Sinn unseres Daseins nie direkt sehen. Denn das Wunder des Lebens kann sich nur dem leeren Geist offenbaren. 

Nutzen wir die Zeit, setzen wir uns hin ohne Wenn und Aber. Entleeren wir unseren Geist von unseren persönlichen Geschichten, Bindungen, Wünschen, Erwartungen, Bedenken und Sorgen. Hier, jetzt, heute!

Wie macht man das?

Um dies zu erforschen und zu erfahren, sind wir hier. Wir sind Forscher und Labor in einer Person. Unser Instrument ist Zazen, Sitzmeditation.  

Verliert keine Zeit, öffnet alle Fenster und Türen eures Geistes, lasst frische Luft in euer Gemüt. Kümmert euch nicht um die Gedanken, Erinnerungen, Bilder, die euer Gehirn ausspuckt – ein gesundes, waches Gehirn erzeugt immer mentale Objekte. Bleibt still und unbeteiligt; hängt diesen Gedanken keine neue Gedanken an. Horcht auf die Stille zwischen und jenseits der Gedanken. Tut dies ohne Anspannung, ohne Druck, ohne etwas zu wollen oder zu erwarten.

Dann wird sich die Frage: «Wenn mein Haus leer ist, was ist dann noch da?» von selbst beantworten.

So und nur so, können wir Manjushri würdig empfangen. Unser Geist muss still sein – das Publikum muss schweigen – damit wir hören können, was Manjushri und Vimalakirti zu sagen haben.

Wenn man die Antwort schon zu wissen glaubt, hört man nicht wirklich zu, was das Gegenüber sagt und sieht nicht, was vor sich geht. Es ist etwas dazwischen! Es gibt keine Beziehung zur Wirklichkeit.

Wenn das Haus leer ist, was ist dann?

Ihr habt euch inzwischen mit dieser Frage beschäftigt. Und manche haben festgestellt, dass im Zustand der Stille – das leere Haus ist vollkommen still – nicht einfach nichts mehr ist. Kein Blackout, kein Tiefschlaf, man ist nicht tot.

Im Gegenteil! – Man ist ganz da! – Und da ist etwas … 

Dieses «etwas» in Worte zu fassen, ist unmöglich. Denn es ist kein Objekt, sondern ein Sein. Worte sind deshalb prinzipiell immer falsch und zu spät. 

Trotzdem wurde und wird immer wieder versucht, den grundlegenden Geisteszustand auch in Worten zu beschreiben. Hätten der Buddha und seine Nachfolger, all die Zen-Meister und Erwachten dieser Welt es nicht versucht, hätten sie im Schweigen darüber verharrt, wüssten wir höchstwahrscheinlich nichts vom wahren Wesen unserer Geistes. 

Vielleicht würde der eine oder andere aus eigenen Stücken darauf stossen. Aber die Chance, dass wir gewöhnlichen Menschen selber erfahren können, wie wir in einer Scheinwelt leben, die nicht unserem wahren Wesen entspricht, diese Chance ist doch recht viel grösser, wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden und sogar ein Instrument in die Hand bekommen, mit dem wir dieses Wissen in uns selbst freischaufeln können. Nicht wahr?

Solange man weiss, dass Worte provisorische Hilfsmittel sind und nicht die Sache selbst, kann, darf und soll man sie ruhig benutzen.

Die Kunst besteht darin, das Unaussprechbare zuerst hinter oder jenseits der Worte zu erkennen und es dann in einem passenden Ausdruck, verbal oder nonverbal, zu manifestieren. 

Dieser Kunst widmen sich ernsthafte Zen-Praktizierenden ihr ganzes Leben lang. 

Wenn du also gefragt wirst: «Wenn dein Haus leer ist, was ist dann da?», oder: «Was bleibt?», wie antwortest du?

Einige in der Literatur häufig wiederkehrende Begriffe sind:

Geistige Präsenz; Bewusstsein, reines Gewahrsein, Geist, Leere, ICH (im Gegensatz zu ich), die Grosse Natur, Gott, das Namenlose, das Ungeborene, das Nichts.

Nichtsdestotrotz: Die beste Antwort ist … schweigen. – Vorausgesetzt, das Schweigen ist wahr und nicht bloss eine billige Vortäuschung oder eine Verlegenheitslösung. 

Finde es, erkenne es und verbleibe darin, wie ein Fisch im Wasser!  

Denkt nicht an «leer», nehmt dieses Wort einfach weg und seid leer.

Meister Sokei-an
Zwei leere Spiegel

Als Manjushri das Haus betrat, sah er nur Vimalakirti auf seinem Krankenbett liegen. Dieser begrüsste ihn mit den Worten: «Willkommen, Manjushri, du kommst, ohne zu kommen, und du siehst, ohne zu sehen.»

Manjushri erwiderte: «Hausherr, es ist so, wie Ihr sagt. Kommen ist letztlich ohne kommen, gehen ist letztlich ohne gehen. Und warum? Das Kommen weiss nichts von Kommen und Gehen weiss nichts von Gehen. Was gesehen wird, weiss nichts von sehen.

Doch lassen wir all dies beiseite. Ehrwürdiger Hausherr, der Buddha schickt mich, um mich nach Eurer Gesundheit zu erkundigen, und er ist an guten Nachrichten von Euch interessiert. Woher kommt Eure Krankheit? Ist sie erträglich? Wann ist sie aufgetreten, und wie kann sie beendet werden?».

Manjushri und Vimalakirti begegnen sich mit leerem Geist. Weil nichts ihre direkte Wahrnehmung stört, kein Zögern, keine Überlegen – «Was soll ich sagen?», «Was soll ich tun?», «Wie sehe ich aus?» usw., – sehen sie sofort, was Sache ist. 

Dieser aktive, wache Geisteszustand nennt man im Zen Mushin, der Geist ohne Inhalt, der Geist von Mu.  

Manjushri versteht sofort, was Vimalakirti sagt. Er braucht nicht nachzufragen: «Wie meinst du das?». Ohne Zögern stimmt er zu: So ist es.

Kommen und Gehen hat nichts mit Denken und Wissen zu tun. Es gibt kein, Ich, das kommt oder geht. Ebenso ist es mit dem Sehen. Der Körper tut dies von selbst, ohne unser bewusstes Dazutun. 

Wenn nichts dazwischen ist, nimmt alles seinen natürlichen Lauf. Sind wir jedoch in Gedanken irgendwo in der illusionären Zukunft oder gefrorenen Vergangenheit fixiert, dann gibt es Ablenkung, Fehlentscheidungen und Unfälle. Wenn das materielle oder mentale I-phone   wird jede Beziehung zu dem, was gerade ist, abgebrochen. 

Dieses immerwährenden und automatischen Dazwischenfunken des gefangnen Ichs ist unser eigentliches Problem. Es verzerrt die Sinneswahrnehmung und lässt uns an eine Welt glauben, die gar nicht existiert. 

Deshalb ist es so wichtig, dass wir lernen, unsere Denkgewohnheiten zu erkennen und uns davon zu lösen.

transformation

Vimalakirti Sutra 5.1

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