Selbstvertrauen

Selbstvertrauen – AWH, Tagesretreat Dezember 2022

Selbstvertrauen ist eines der grossen Kernthema von Buddhas Lehre. Gemeint ist das Vertrauen in die Weisheit des eigenen Geistes. Die Überlieferung ist reich an Texten dazu. Ein im Zen sehr bekannter ist das Lied vom Vertrauen in den Geist, Shinjinmei.

Illusorische Sicherheit

Sehr oft, wenn man unter Menschen ist, zum Beispiel in einer Strassenbahn oder einem Restaurant und sich umschaut, kann man deutlich sehen, wie sich jede Person in ihrer eigenen Welt befindet. So, als ob jede in einer unsichtbaren Glaskugel oder Blase stecken würde.

Wir alle sitzen in unserer «Mind», in unserer Bewusstseinswelt fest. Wir sehen uns zwar gegenseitig, aber haben keinen direkten Kontakt. Und wir wissen nicht, dass die Dinge, die wir sehen, hören, fühlen und so weiter, nicht wirklich sind. Was wir für unsere konkrete Welt halten, ist im Grunde eine Abfolge von Lichterscheinungen, die auf der unsichtbaren Hülle unserer Bewusstseinsblase verzerrt gespiegelt und vom Gehirn zu bestimmten Formen objektiviert werden.

Wir leben zwar alle auf der gleichen Erde unter dem gleichen Himmel, in der gleichen Atmosphäre – im gleichen Ozean des Lebens. Aber jeder fühlt sich in seiner Kapsel als ein separates Wesen, allein in einer bedrohlichen Welt.

Oft scheint es, als gewähre uns die Kapsel oder die Blase Schutz vor den vermeintlich feindlichen Kräften und man richtet sich darin entsprechend ein. Man sitzt wie eine Spinne im selbstgeknüpften Beziehungsnetz und wartet auf die Leckerbissen des Lebens, die einem zufliegen. Und man unternimmt alle möglichen Vorkehrungen zum Schutz und zur Abwehr, um sich in dieser Kapsel sicher zu fühlen. Denn da ist immer auch die mehr oder weniger bewusste Angst, dass die Blase und damit das ganze Sicherheitssystem platzen könnte. Was wäre dann? – Nicht auszudenken, nicht wahr?

Lebensangst

Diese Angst ist heutzutage allenthalben verbreitet und deutlich spürbar.

Da ist einerseits die Wucht der Propaganda in den Medien, die uns alle möglichen Drohkulissen und Katastrophen an die Blasenwand malen und in unsere Ohren brüllen: Krieg! Energieknappheit! Klimakollaps! Inflation! Weltuntergang!

Andererseits gibt es Bedrohungen von innen her: Alter, Krankheit, Schicksalsschläge erinnern an den allgegenwärtigen, dem Leben innewohnenden Sterbeprozess. Es gibt die Ängste vor Arbeitsverlust, Leistungsverlust, Burnout usw.

Was ist, wenn meine Welt zusammenbricht, wenn meine Orientierungspunkte, meine Sicherungshaken, an denen ich mein Leben festmache, nicht mehr halten? Was sollen wir tun?

Ich glaube, die Menschen, die mit dem Buddha zusammenlebten, fühlten sich in einer ähnlichen Situation, als das eintraf, was er schon immer als unvermeidliche Tatsache erklärt hatte. Nämlich, dass auch er sterben werde. Gemäss der Überlieferung starb er unter grossen Schmerzen an einer Pilzvergiftung.

Ananda, der ihm viele Jahre lang zur Seite stand und ihn auf dem Krankenlager betreute, wurde von seinen Mitbrüdern gebeten, den Buddha zu fragen, was sie denn jetzt tun sollten: Wie können wir weiterleben ohne den erleuchteten Lehrer und Führer, der uns den Weg durchs Leben wies. Was soll jetzt aus uns werden?

Als erstes, sagte der Buddha, seine Anhängerschaft dürfe dem Koch, der das Pilzgericht zubereitet hatte, keine Schuld geben. Sie sollen nicht sagen: «Du bist schuld daran, dass unser Meister gestorben ist.» Das Pilzgericht sei nur der Auslöser für seinen Tod. Seine Zeit in dieser Welt sei vorbei, Pilz oder nicht Pilz!

Die zweite Antwort kennen wir. Wir rezitieren sie regelmässig bei unseren Zeremonien und Meditationszusammenkünften in Buddhas Muttersprache Pali. Sie lautet:

ATTA DIPA.
VIHARATA.
ATTA SARANA.
ANANNA SARANA.
DHAMMA DIPA.
DHAMMA SARANA.
ANANNA SARANA

In westlichen Sprachen werden diese Worte mit unterschiedlichen Nuancen wiedergegeben. Die häufigsten Übersetzungen, die ich gefunden habe, sind:

ATTA = Selbst,
DIPA = Licht,
VIHARATA = bedenken, sich besinnen auf, ruhen
SARANAa= vertrauen oder Zuflucht nehmen
ANANNA= nichts anderes
DAMMA = Dharma = Gesetz: sowohl Lehre von Buddha als auch die Gesetzmässigkeit der universale Wirklichkeit.

Die im deutschsprachigen Raum gebräuchlichste Wiedergabe lautet:

Du bist das Licht.
Verlasse dich auf dich selbst!
Das Dharma ist das Licht!
Verlasse dich auf das Dharma!
Verlasse dich auf nichts anderes.

Varianten davon sind:

Sei dir selbst ein Licht.
Nimm Zuflucht bei dir selbst.
Suche keine andere Zuflucht.
Mit dem Dharma als dein Licht,
nimm Zuflucht zum Dharma.
Suche keine andere Zuflucht.

Seid eine Insel für euch selbst,
seid eure eigene Zuflucht und habt keine andere;
lasst das Dharma eine Insel und eine Zuflucht für euch sein und habt keine andere.

Wir können diese Worte auf Deutsch oder Pali lesen, rezitieren, als ein Mantra wiederholen – aber wissen wir wirklich, was sie sagen? Verstehen wir ihre Bedeutung und Implikation für unser eigenes Leben?

Vertrauen
Sich selbst vertrauen

Heisst «verlasse dich auf dich selbst», dass wir uns selbst als Massstab aller Dinge betrachten sollen? Dass wir uns auf unser persönliches Ich zurückziehen, wie auf eine einsame Insel im Ozean?

Bevor wir das wirklich verstehen, sollten wir uns ganz klar werden, was dieses persönliche, menschliche Ich ist.

Denn so viel steht doch fest: Man kann «ich» nicht definieren. Was meine ich denn, wenn ich «ich» sage? Das Ich von gestern, das ich zum Beispiel auf einem Selfie sehe, wenn ich sage: «Das bin ich!»

Bin ich meine Gedanken, meine Gefühle? Wenn dem so ist, ist das Ich ja etwas, das sich dauernd ändert. Keiner kann sein Ich zeigen, demonstrieren, fassen und doch sind wir dauernd damit beschäftigt. Wir nörgeln an unserem Ich herum, wollen es ändern oder gar loswerden, aber da ist nichts da, das wir ändern können oder das verschwindet.

Der Buddha sprach also von einem ganz anderen Selbst, einem ganz anderen Ich. Er spricht vom Ich des Dharma, dem Wesen der grossen Natur.

Dem Dharma vertrauen

Doch was ist das Dharma, auf das wir uns verlasen können?

Eine Religion? – Wie können wir uns auf eine Religion verlassen, wenn es deren so viele gibt?

Eine Theorie? – Können wir uns auf irgendeine Theorie, eine Lehre, eine Weltanschauung verlassen, wenn sich diese dauernd ändern?

Ein geschriebenes Gesetz? – Wie können wir uns auf menschliche Gesetze verlassen, wenn sie gebrochen und geändert werden, je nachdem, wie es den Machthabern gerade passt?

Ein Glaube oder die Überzeugungen, die ich mir im Laufe des Lebens angeeignet habe? – Kann ich mich auf meine Meinungen und Ansichten verlassen? Oder auf meine Gefühle, die kommen und gehen und sich ändern wie das Wetter?

Kennen wir nicht den Schmerz, der uns überfällt, wenn sich etwas, das uns die Eltern, die Lehrer, die Geistlichen oder die Politik als wahr verkauft haben, als unwahr erweist? Kennen wir den Reflex, sich in diesem Fall wie ein Vogel Strauss zu verhalten?

Die Frage bleibt: Wovon sprach der Buddha, als er sagte: «Verlasst euch nicht auf mich, verlasst euch auf das Licht in euch selbst. Verlasst euch auf nichts anderes»?

Wie können wir den Attacken von aussen und von innen, die uns schütteln, verunsichern und verängstigen, begegnen? In welchen Boden kann und soll ich meinen Anker setzen?

Der Buddha hätte diese Worte nicht gesagt, wenn er nicht gewusst hätte, dass es einen unerschütterlichen Grund gibt, auf den man stehen, sitzen, gehen und liegen kann. Aber das ist nicht die Aussenwelt und nicht das empirische, wechselhafte, abhängige und eingekapselte Ich.

Fragen wir weiter: Gibt es tatsächlich etwas in mir, das nicht ich ist? Etwas anderes als meine Gefühle, meine Gedanken, meine Körperempfindungen, meine Erinnerungen, meine Ängste, meine Vorlieben, meine Neigungen?

Der reine Geist

Obwohl wir Menschen unterschiedliche Namen und unterschiedliche Geschichten haben, gibt es in jedem von uns einen Grund, der vor aller Individualität da ist, der in jedem von uns identisch ist und uns alle vereint. Dieser Geist, den jeder Mensch von Geburt an hat, ist wie ein Spiegel. Er reflektiert alles genau so, wie es ist, aber er selbst bleibt unberührt. Dieser spiegelartige Geist hat kein Gefühl von «das bin ich» oder «das bist du, nicht ich». Er hat keinen Dualismus; er macht keine derartigen Unterscheidungen. Vom Ursprung her gibt es nur eine Welt, ohne Unterteilung in «meine” Welt und «deine» Welt.

Wenn man einfach alles, was kommt, genau so annimmt, wie es ist, ist der Geist ganz natürlich klar und rein wie ein Spiegel

Genau hinschauen

Das Wichtigste ist, klar zu sehen und zu hören, ohne Vorurteile. Schaut genau hin: Was ist Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw.? Was ist die wahre Grundlage dessen, was geschieht?

Wenn man dieses reine Beobachten ohne Ablenkung aufrecht erhält, dann wir man mit der Zeit eins mit dem, was man beobachtet. Das, was man sieht oder hört wird zu dem, was gesehen und gehört wird. Dann gibt es keine Trennung zwischen innen und aussen, zwischen meiner Welt, dem Akt des Hörens und dem, was gehört wird. Und man weiss gar nicht mehr, dass man im Zendo sitzt und etwas beobachtetet.

Atta-Dipa-Dharma

Dieser unterscheidungslose Geist ist jenseits aller mentalen Aktivitäten – Gedanken, Gefühle – es ist die Grundlage oder die Urnatur, die sämtliche Erscheinungen des Lebens erzeugt. Da die zahllosen Lebewesen über sehr unterschiedliche Sinnesorgane verfügen, werden die Dinge auch ganz unterschiedlich wahrgenommen.

Das Problem von uns Menschen ist es, dass wir meinen, unsere Sicht der Dinge sei die einzige Wirklichkeit. Wir meinen, dass das, was ich jetzt höre, sehe und dabei erlebe, sei dasselbe, wie das, was ich zu irgendeinem früheren Zeitpunkt gesehen, gehört oder erlebt habe. Doch wie der bekannte Satz von Herakles besagt: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Wir können nichts festhalten oder behalten und deshalb leiden wir. – So wie Buddhas Anhänger litten, als sie realisierten, dass er bald nicht mehr bei ihnen sein wird.

Deshalb wurde der Buddha nicht müde, immer wieder zu erklären, dass man sich nicht von den Erscheinungen der wechselnden Dinge täuschen lassen sollte, sondern erkennen, dass es in Wirklichkeit nichts gibt, ausser dem klaren, reinen Geist, der allen gemeinsam ist, aber weder Form noch Kommen und Gehen kennt. Das ist die unumstössliche Wahrheit – Dharma – und das wahre Licht, das uns und allen anderen Geschöpfen die Welt erhellt.

Atta, Dipa und Dharma sind eins! Dies zu erkennen ist wahrhaftige Selbsterkenntnis und wahres Glück. Ein schönes Beispiel dafür ist auch das Lied des Selbst von Adi Shankaracharya mit dem Refrain: Ich bin reines Bewusstseins und Seligkeit.

ATTA DIPA … ist also nicht eine Aufforderung zu passiver Selbstgefälligkeit oder blinder Gläubigkeit. Es ist vielmehr ein Aufforderung zu radikaler Selbsterforschung und Selbstverantwortlichkeit.

Bis wir zu dieser Wahrheit erwachen und realisieren, lasst uns das genaue Hinschauen in wahrer Meditation nicht aufgeben. Was wir hingegen aufgeben sollten, sind die Begriffe, Konzepte, Vorstellungen und Wünsche, die uns am Erwachen hindern. Wenn das Ich einmal definitiv schweigt, wird der Geist still. Und wenn der Geist vollkommen still ist, dann ist es nicht mehr mein Geist, mein Bewusstsein. Dann offenbart sich die bodenlose, Urnatur.

J. Krishnamurti zum Beispiel sagte es so:

«Es gibt niemanden, der dich anleitet, der dir sagt, dass du Fortschritte machst, oder der dich ermutigt. Du musst ganz allein in der Meditation stehen. Dieses Licht kann nur zu dir kommen, wenn du verstehst, was du bist. Sich seiner selbst bewusst zu sein, ohne irgendeine Wahl zu treffen, lässt die ganze Bewegung des Wesens aufblühen. Um dein Bewusstsein gänzlich zu beobachten, darf es kein Motiv und keine Richtung geben
J. Krishnamurti – Public talk

Und Meister Sokei-an sagte es so:

Durch Introspektion können wir die Grundlage unseres Denkens und Verhaltens verstehen. Diese Grundlage ist das universale Bewusstsein, welches keine Ego-Identität besitzt.

Selbstvertrauen – Atta dipa
Selbstvertrauen – Atta dipa
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