Vimalakirti Sutra 5.4

Ermutigungen für einen kranken Bodhisattva

Vimalakirti Sutra 5.4 – Wir kommen nun ans Ende des Dialogs zwischen Manjushri und Vimalakirti. Mit der letzten Frage möchte Manjushri wissen, wie ein Bodhisattva einem kranken Bodhisattva Trost spenden soll. Obwohl diese Frage im Originaltext an zweitletzter Stelle auftritt, habe ich sie bis zum Schluss aufgespart. Ich erlaube mir dies zu tun, weil Vimalakirtis Antwort darauf meines Erachtens alle Aspekte dieses Kapitels zusammenfasst und die ganz praktische Seite für unseren Alltag herausschält. Nämlich:

Wir Menschen leiden grundsätzlich an der Krankheit einer völlig falschen Sicht von uns selbst und der Welt. Der Keim dieser Krankheit liegt im blinden Glauben an die übernommenen Überzeugungen und Ideen unserer Vorväter, die wir von Kindheit an für wahr halten.

Wir glauben zum Beispiel alle daran, dass jeder Mensch ein separates eigenständiges Wesen ist, das einer Welt voller Gegensätzen und Widersprüchen entgegensteht. Diese Zweiteilung in Ich und Du liefert die Grundlage für alle anderen Gegensätze wie Gut und Böse, Liebe und Hass, Freund und Feind. Das ist die Nahrung für die sich immer wiederholenden Konflikte der Menschheit, im Kleinen wie im Grossen.

Und so wurde Vimalakirti nicht müde, die Überwindung dieser gespaltenen Sicht zu predigen.

Die Überwindung des dualistischen Denkens

Ein kranker Bodhisattva sollte sämtliche gegensätzliche Vorstellungen beseitigen. Wie kann man die Gegensätze beseitigen? Man beseitigt sie, indem man den Gegenständen der inneren und äusseren Welt keine Beachtung schenkt und Unparteilichkeit praktiziert. Was ist Unparteilichkeit? Es bedeutet die Gleichheit aller Gegensätze zu verstehen. Warum ist das so? Weil sowohl die eine Ansicht wie die andere Ansicht unwirklich (leer) ist. Warum sind beide Ansichten unwirklich (leer)? Weil sie nur als Namen existieren, die keine eigene, unabhängige Natur haben.

Wer diesen Gleichmut erreicht, ist frei von allen Krankheiten. Allerdings ist da noch die Vorstellung von Unwirklichkeit (Leere), die ebenfalls eine Illusion ist. Deshalb muss auch sie beseitigt werden.

Mit anderen Worten: Wer wahrhaftig die Wurzel seiner Sorgen und Ängste ausreissen will, soll sich weder auf die eine noch auf die andere Seite von Meinungen und Ansichten festlegen. Was es auch sein mag, die Idee von Du und Ich, von Leben und Tod oder von Gut und Böse, sei dir immer gewahr, dass beides Vorstellungen sind, die nichts mit der wahren Natur des Lebens zu tun haben.

Ermutigungen für eine kranken Bodhisattva

Nachdem Manjushri alles über Vimalakirtis Krankheit erfahren hat, stellt er noch eine ganz praktische Frage:

Manjushri: «Was soll ein Bodhisattva sagen, um einen kranken Bodhisattva zu ermutigen?»

Wie kann man einen leidenden Mitmenschen trösten und ermuntern, nicht zu verzagen? Wie kann man Zweifelnde und Niedergeschlagene unterstützen, damit sie der Krankheit des ichbezogenen, falschen Denkens nicht unterliegen?

Auch hier betont Vimalakirti die absolute Notwendigkeit, sich vor jeglicher Einseitigkeit zu hüten und die absolute Wahrheit vor Augen zu haben.

Vimalakirti: «Er sollte über die Unbeständigkeit des Körpers sprechen, aber niemals die Abscheu oder das Verlassen des Körpers propagieren.

Auch über das Leiden im Körper sollte er sprechen, aber nicht dazu raten, sich in die Glückseligkeit von einem rein geistigen Zustand (Nirvana) zu flüchten.»

Den Körper achten

Es gibt die weitverbreitete Idee, als Mensch müsse man seinen Körper überwinden, um irgendein geistiges Ziel zu erreichen. Nicht nur Religionen, auch manche andere Disziplinen kennen Praktiken, die das Abtöten von körperlichen Bedürfnissen und Freuden anstreben. Dahinter steckt die Vorstellung, der Körper sei das Gefängnis des Geistes; also müsse man ihn so schnell wie möglich loswerden oder durch Askese unschädlich machen.

Auch der junge Siddhartha Gautama hatte diesen Weg eingeschlagen, als er die Wahrheit finden wollte. Er folgte damit dem Rat der damaligen spirituellen Koryphäen – Yogis und Prediger – die er um Unterweisung gebeten hatte. Erst als er bis auf die Knochen abgemagert und dem Tode nahe war, erkannte er den Irrtum und begann wieder moderat zu essen und den Körper zu pflegen. Denn, so sagte er sich selbst: «Wenn ich meinen Körper auf diese Weise schinde, werde ich das Wesen und die Bedeutung des Lebens niemals erfahren.»

Die Abwertung oder Abscheu des Körpers enthält keine Wahrheit. Die Bejahung des Geistigen und Verneinung des Körperlichen spaltet die ursprüngliche Einheit des Seins, was zwangsläufig Konflikt und Leiden mit sich bringt.

Der eigene Körper wird zum Objekt, mit dem man umspringt, wie es einem passt. Man lässt ungewollte Teile herausschneiden oder verunstaltet ihn, um auf immer und ewig jung auszusehen oder sonst einer Idealvorstellung gerecht zu werden.

Es liegt in der Natur des Körpers, sich dauernd zu verändern und ab und zu «krank» zu werden. Aber das wahrhaftig krankmachende Element von körperlichen und seelischen Beschwerden, ist das Haften am egozentrischen Denken mit seinen unrealistischen Idealvorstellungen von ewiger Gesundheit und ewiger Jugend.

Nicht fliehen

Auch zu Buddhas Zeiten gab es Menschen, die seine Lehre von der Befreiung vom Leiden (Dukkha) und vom Verlöschen sämtlicher Ursachen des Leidens im absoluten Zustand von Nirvana missverstanden. Obwohl der Buddha nie erklärt hatte, was Nirvana ist, sondern nur, was es nicht ist, machten sie sich konkrete Vorstellungen davon, indem sie das Wort Nirvana mit einem hypothetischen Zustand von ewiger Glückseligkeit gleichsetzen. Sie hatten nur den einen Wunsch, so schnell wie möglich diesen vorgestellten Glückszustand zu erlangen. Sie wollten weg von der Welt, weg vom Schmerz, weg von der Konfrontation mit dem Leiden, weg von …

Der Wunsch, den Körper zu verlassen, ist auch heute weit verbreitet. Er tritt nicht nur bei unheilbar kranken Menschen auf, die ihr Leiden als unerträglich oder sinnlos empfinden. Manche Menschen versuchen sich mit Drogen oder asketischen Praktiken in einen körperlosen Glückszustand zu versetzen. Sei es um einen Kick zu haben oder eine mystische Erfahrung zu machen. Andere denken, man müsse bloss lange genug meditieren und sich von nichts berühren lassen, dann komme man früher oder später ins Nirvana. Dem ist nicht so.

Der Kick oder der Glückszustand mag eine Weile anhalten, doch schon bald ruft er das Gegenteil hervor. Das Leiden geht nicht weg, sondern vervielfacht sich. Denn Enttäuschung, Zweifel und Wut sind nie weit weg, wenn etwas nicht so schön bleibt, wie es einmal war. Deshalb sagt Vimalakirti, man dürfe einem Kranken und sich selbst niemals weismachen, das absichtliche Verlassen des Körpers – ob mit Hilfe von mechanischen Mitteln, mentalen Techniken oder falsch verstandener Meditation – führe automatisch zum Glück.

Man entkommt dem Leiden nicht, wenn man sich von der Körperwelt abschottet. Auch wenn man sich in einer Hütte oder einer Höhle versteckt und mit der Aussenwelt nichts zu tun hat, stellt sich nicht automatisch Frieden ein. Denn man bringt sich selbst in die Höhle mit und damit die Dämonen der ganzen Welt.

Keine falschen Schlüsse ziehen

Vimalakirti fährt fort:

«Ein Bodhisattva sollte einem kranken Bodhisattva erklären, dass der Körper ohne Selbst ist, und ihn ermutigen, trotzdem alle Lebewesen zu unterweisen und zu leiten.

Er sollte darüber sprechen, dass der Körper aus sich heraus in Frieden ist, aber nicht von einer immerwährenden Seeligkeit im Nirvana predigen.»

Für das ichbezogene, logische Denken liegt es nahe, die grundlegende buddhistische Auffassung der Ichlosigkeit bzw. der Leere des Körpers so zu interpretieren, dass «es mich gar nicht gibt.» Der logische Verstand kennt nur «entweder-oder»: Entweder ich bin, ich existiere, oder ich bin nicht, ich existiere nicht.

Und wenn man sich auf die Seite von «nicht» schlägt, dann mündet der logische Schluss fast automatisch in der Frage: «Was hat das Leben dann für einen Sinn?» Man redet sich ein, dass es sinnlos ist, sich um irgendetwas zu bemühen, weil ja doch alles nur eine Illusion ist. Andere trösten sich damit, dass sie nach dem Tod in den Himmel oder ins Nirvana kommen, wo sie entschädigt werden für all das Leid, das sie auf der Welt ertragen haben.

Diese einseitige, negative Denkweise verneint die wahre Natur des menschlichen Daseins, in dem es sowohl Freude als auch Leid, Geburt und Tod und alle anderen Gegensätze gibt. Wer an dieser Denkweise haftet, bringt sich selbst ins Gefängnis. Er verbarrikadiert sich hinter dem Gitter der Negativität und wirft den Schlüssel weg.

Der zweiäugigen, dualistischen Sicht ist es unmöglich, die Einheit von «sowohl-als-auch» zu sehen. Nur «das eine Auge», das ungeteilte, nicht fragmentierte Gewahrsein, kann die Einheit sehen. Wir alle haben dieses Auge der Weisheit, wir müssen es nur öffnen und benutzen lernen.

Wie macht man das? – Man löse sich von allen Verstrickungen in das Auf-und-Ab des alltäglichen Lebens und richte die Aufmerksamkeit auf das, was nicht «Ich», nicht Erinnerung, nicht Vorstellung ist. Man betrachte das, was sich im eigenen Gemüt abspielt mit passivem Gewahrsein, d.h. ohne Urteil, ohne Kritik usw. Dann wird der Geist still. Weiter können Worte nicht gehen. Alles weitere muss man selber entdecken.

Echtes Verstehen

Die Geisteswissenschaftler des alten Indiens verstanden lange vor den westlichen Naturwissenschaftlern sehr gut, dass jedes Lebewesen, vom kleinsten bis zum grössten, auf Grund bestimmter Gesetzmässigkeiten geboren wird, altert und stirbt. Auch du und ich. Erstere sprechen von Karma, letztere von Genetik. Es ist aber auch der Fürsorge unserer Eltern, oder wer auch immer für uns zuständig war, und der angeborenen Lebenskraft zu verdanken, dass wir nicht untergegangen sind in den ersten Lebensjahren. Dieselbe Lebenskraft hat uns trotz Hindernissen und Schwierigkeiten dahin geführt, wo wir jetzt sind.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung können wir nicht kontrollieren, unsere Reaktionen und Einstellung dazu allerdings schon.

Man kann das eigene Schicksal als feindlich und sich selbst als Opfer betrachten oder man kann es als Aufgabe und Lehrmeister verstehen und annehmen. Ersteres ist der Weg der Ich-Illusion, letzteres ist der Weg der Weisheit.

Dank der uns angeborenen Intelligenz und Weisheit, ist es durchaus möglich, viele Ursachen von Beschwerden zu erkennen und ihre Symptome zu lindern. Die Natur kennt unzählige Mittel, um aus dem Gleichgewicht geratene Zustände zu heilen. Tiere und Pflanzen «wissen» sehr gut, wie sie sich bei Unpässlichkeiten selber helfen, ihre Körperfunktionen regulieren und vor Schädigungen schützen können. Nur wir Menschen meinen, es mit unserem Verstand besser zu wissen und zu können …

Sein Bestes tun

Vimalakirti sagte, ein kranker Bodhisattva soll sein Bestes tun, um sein wahres Wesen zu erkennen und zu verwirklichen und andere darin zu unterstützen, dasselbe zu tun.

Wir sind alle verantwortlich für den krankhaften Zustand der Menschenwelt. Wir sind Teil und Mitgestalter der aktuellen Gegenwart. Es liegt in unserer Hand, was wir mit unseren Ressourcen machen. Es ist weder die Schuld des Körpers noch die Schuld der Natur, wenn es soviel Unglück gibt in dieser Welt.

Man kann zu einem kranken Menschen, inklusive zu sich selbst, nicht sagen: «Im Grunde genommen bist du gar nicht krank. Deine Krankheit, ist bloss eine Illusion, reine Einbildung. Glaube einfach nicht dran … reiss dich zusammen.» Oder: «Du musst halt meditieren …» Leider hört man dergleichen recht oft; nicht von Vimalakirti, aber von Ärzten, Psychologen, Gläubigen oder anderen Ratgebern.

Man soll einem unverständigen (kranken) Menschen auch nicht sagen: «Richte deinen Geist einfach auf das Jenseits – auf Gott, auf Buddha, auf Nirvana – und deine Schmerzen werden von selber verschwinden.»

Das ist wirklich eine Illusion!

Denn die Probleme, die wir jetzt nicht lösen, bleiben im kollektiven Bewusstsein haften. Sie sind wie energetische Samen, die irgendeinmal wieder spriessen und an die Oberfläche kommen.

Die Energie verschwindet nicht aus dem Universum; Hassenergie verschwindet nicht; sie verkörpert sich wieder. Ebenso bleibt die Energie von Liebe, Freude und Mitgefühl erhalten. Wenn es zu einer Auflösung von krankmachenden Faktoren kommen soll, dann vollbringe man dies möglichst hier, jetzt!

Das ist der Kern von Buddhas Botschaft: Was heute geboren wird, ist die Frucht von früheren Gedanken und Handlungen (Karma).

Nicht aufgeben

Statt sich zu verkriechen oder wie ein Herdentier blind den kollektiven Vorgaben zu folgen, sollten wir unser ganzes Bemühen danach ausrichten, die Zusammenhänge von Verwirrung und Leid zu verstehen. Die Zusammenhänge zu verstehen erfordert, dass man das gespaltete, fragmentierte Denken ablegt, um beide Seiten der Konflikte zu sehen. Es bedeutet, die Lebenstatsachen zu erkennen, ohne sie einseitig zu beschönigen oder zu verdammen. Nur so kann man auch den leidenden Mitmenschen mit Verständnis und Mitgefühl begegnen und ihnen die Medizin der Wahrheit offerieren.

Wenn man die heilende Medizin weitergeben will – die Wahrheit vom «illusorischen Leiden», von «Täuschung und Wirklichkeit», von «rechtem und falschem Denken» – dann muss man sie zuerst selber geschluckt und verdaut haben. Andernfalls sind es nur leere Worte.

Man muss den heilsamen Hinweisen der inneren Weisheit vertrauen, die Anzeichen von körperlichem und seelischem Ungleichgewicht spüren, erkennen und ernst nehmen. Aber ohne sich wehleidig darin zu verwickeln.

Es gibt nur wenige Menschen, die dies vollbracht haben. Vimalakirti ist einer davon. Er ermutigt auch uns, den Tatsachen ins Auge zu schauen, darob den Lebensmut nicht zu verlieren und uns in Gleichmut zu üben und unser Bestes zu tun.

In meinen Augen ist das eine der wichtigsten Botschaften des Vimalakirti-Sutras.

Schuldgefühle

Vimalakirti fährt fort:

«Ein Bodhisattva sollte mit einem kranken Bodhisattva von der Reue über vergangene Missetaten sprechen, es aber vermeiden, in die Vergangenheit zu verfallen.»

Eines der grössten Hindernisse für das Finden von innerem Frieden sind wohl die Schuldgefühle wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Missetaten aus der Vergangenheit.

Gemäss Vimalakirti ist es richtig und wichtig über Schuld und Reue zu reden. Denn die gegenwärtige Lebenslage ist ja nicht unabhängig von früheren Taten und Denkweisen. Gemäss des buddhistischen Verstehens, können die Wurzeln von Verwirrung und Krankheit sogar weit in die Vergangenheit vergangener Lebenszyklen führen. Aber man soll niemals (weder zu sich selbst noch zu einem anderen) sagen: «Du bist selber schuld an deinem Unglück.»!

Sage zu einem kranken Menschen nie: «Dein schlechtes Karma, deine Taten aus der Vergangenheit sind schuld an deiner Kranksein.» Oder: «Das ist die Strafe Gottes für deine Sünden.» Oder: «Das hasst du nun, von deinem schlechten Lebenswandel …»

Denn niemand von uns kennt die verborgenen tiefen Ursachen eines gegenwärtigen Leidens. Selbst wenn man zu wissen glaubt, dass gewisse Angewohnheiten wie Rauchen, Alkoholsucht usw. Ursache einer akuten Krankheit oder eines bestimmten Leidens sein können, so weiss man nicht, wie und warum etwas gerade jetzt geschieht. Warum z.B. unter gleichen äusseren Umständen der eine erkrankt und der andere nicht.

Genau so wenig nützt es sich einzureden: «Oh, wir sind von vornherein Sünder und verdammt. Wir können nur um Gottes Gnade und Vergebung flehen.» Es gibt keinen Gott und keinen menschlichen Vertreter von Gott, der für unser Leiden verantwortlich ist. Nur unsere eigene ichlose «göttliche» Weisheit kann unsere Krankheit lindern oder heilen.

Reue

Etwas ganz anderes ist es mit Reue. Reue und Schuldgefühle sind nicht zu verwechseln. Schuldgefühle über Vergangenes zu kultivieren, ist ein Akt des negativen, egozentrischen Denkens. Man sieht sich im Zentrum eines Geschehens und überschüttet sich selbst mit Selbstanklagen oder Spekulationen über vergangene Fehler. Kann man damit irgendetwas ändern?

Eine Missetat zu bereuen, ist ein Akt der Einsicht. Man bekennt einen Fehler und steht dazu. Dies hat eine befreiende Wirkung, vorausgesetzt natürlich, es kommt von Herzen.

Denn wenn man sich bedingungslos zu einer Tat bekennt, sie bereut, dann durchschneidet man die Gedanken- und Gefühlskette, die einen selbst und das eventuelle Opfer an die Tat fesselt und wie ein ewiger Klotz am Bein hängen. Diese Loslösung ist entscheidend dafür, dass man sich in der Gegenwart emotionell und geistig wieder frei bewegen kann. Man löst sich von der Vergangenheit und geht weiter.

Ein weiser Mensch ist in der Lage, alle Fehler zu verzeihen – die eigenen ebenso wie die fremden –, während ein unverständiger Mensch an der Vergangenheit kleben bleibt.

Das ist die meiner Meinung nach die ursprüngliche Bedeutung, der wahre Sinn von Reue, Entschuldigung und Verzeihung.

Ich hatte einmal etwas getan, das ich selber wirklich schlimm fand und wofür ich mich zutiefst schämte. Zwar gab es gute Gründe dafür, aber ich konnte es mir trotzdem nicht verzeihen. Schliesslich erzählte ich es meinem Lehrer H. Platov. Dieser schaute mir in die Augen und sagte: «Du hast das getan, nicht wahr?» Kleinlaut sagte ich: «Ja». Darauf sagte er, mich noch immer mit seinem Blick fixierend: «Man soll keine Tränen vergiessen über vergossene Milch. ABER TUE DAS NIE WIEDER!»

Man kann einen Fehler nicht rückgängig machen, aber man kann es vermeiden, ihn zu wiederholen. Wobei auch das «Immer-wieder-daran-Denken» eine Wiederholung ist. Nicht, wahr?

Das ist eine Sache von Erkenntnis, Verständnis und Achtsamkeit.

Ein guter Arzt

Vimalakirti beendet seine Antwort auf Manjushris Frage, wie ein Bodhisattva einen anderen kranken Bodhisattva ermutigen kann mit folgenden Worten:

Vimalakirti: «Im Gedenken an all die Leiden, die er selbst und die Menschheit in unzähligen Verkörperungen erfahren haben, soll er Mitleid haben mit all denen, die krank sind und um ihr Wohlergehen besorgt sein. Er soll einen kranken Bodhisattva an seine früheren guten Taten erinnern und ihn ermutigen, den rechten Lebenswandel mit Entschlossenheit aufrechtzuerhalten und, anstatt sich über Schwierigkeiten (Klesha) zu sorgen, mit Eifer und Hingabe seine Dharma-Praxis zu vertiefen. So handelt er wie ein guter Arzt, der die Krankheiten anderer zu heilen versteht. Auf diese Weise sollte ein Bodhisattva einen anderen kranken Bodhisattva trösten, um ihn glücklich und zuversichtlich zu stimmen.»

Wir haben alle einen inneren Arzt – ein Wissen und Gewissen, das uns sagt, was heilsam ist und was nicht. Jede Gesellschaft hat prinzipielle ethischen Gebote, die sich im Wesentlichen nicht unterscheiden. Auch der Buddha etablierte in seiner Gemeinschaft eine Reihe von Geboten und Verhaltensrichtlinien (Shila). Doch wir bräuchten eigentlich keine Gebote. Wenn wir nur auf das Gewissen hören würden.

Im Lärm unserer chaotischen Welt können oder wollen wir die Stimme des natürlichen Gewissens nicht hören. Unsere Sicht ist so verzerrt und verbogen durch die jahrtausendalte Einübung und Rechtfertigung unserer vermeintlich intelligenten Überlegenheit und Machtstellung. Wir denken zum Beispiel immer noch, einige Menschen, Tiere, oder Pflanzen seien mehr wert als andere. Die einen dürfe man deswegen töten oder ausbeuten, die anderen nicht.

«Geben macht seliger denn Nehmen»

Jedermann weiss, dass ein wohlwollendes Wort, eine unterstützende Tat, eine liebevolle Geste heilsam und tröstend sein kann; nicht nur für Kranke und nicht nur in Zeiten der Not, sondern immer. Danach sehnen wir uns doch alle. Nicht wahr?

Vimalakirtis Ermahnung, sich nicht über das persönliche Schicksal zu beklagen und stattdessen die angeborene Weisheit und das allumfassende Mitgefühl zu entwickeln, ist also auch heute noch hochaktuell.

Statt von anderen Verständnis und Mitgefühl zu erwarten, gib sie doch selbst! Dann kommt es auch zurück!

So wie es ein mir bekannter Zen-Meister sagte: «Gibst du dich dem Dharma, dann gibt sich das Dharma dir.» Wobei das Dharma keine abstrakte, religiöse oder philosophische Angelegenheit ist. Es ist die Verwirklichung von Erkenntniskraft, natürlicher Intelligenz und Mitgefühl, kurz Herz-Geist genannt, der allen Menschen von Natur aus gegeben ist. Wir müssen das nur entdecken!

So endet der Dialog von Manjushri, dem Bodhisattva der Weisheit, der im Tushita Himmel wohnt, und Vimalakirti, dem Bodhisattva mitten in der Welt, mit der frohe Botschaft: Wir tragen zwar alle bestimmte Krankheitskeime in uns, aber wir tragen auch das Wissen und die Möglichkeit in uns, wie wir die Krankheiten nicht nur ertragen, sondern ihre Symptome lindern oder gar überwinden können.


Ressourcen

Vimalakirti Sutra 5.4
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