Form ist Leere ist Form

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Form ist Leere ist Form
Das Herz-Sutra
Robert Wydler Haduch
ISBN 978-3-9524409-6-4
Kosten des gebundenen Buches: 12.00 CHF/€

Form ist Leere ist Form – Der Lehrer begann mit den Worten: «Mahā Prajñā-pāramitā Herz-Sutra.» Mit vereinter Stimme setzen wir ein:

«Der Bodhisattva Avalokiteshvara, tief in Prajñāpāramitā versunken, sah deutlich, dass die Fünf Skandhas leer sind und überwand dadurch alle Unwissenheit.

O Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere, Leere ist identisch mit Form. Dasselbe gilt für Sinnesempfindung, Wahrnehmung, Willenstendenzen und Bewusstsein …»

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den melodiösen Sprechgesang des Herz-Sutra hörte. In der Tat erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es etwas namens HerzSutra überhaupt gab. Den Klang der Worte zu hören und sie gleichzeitig selbst im Sutra-Buch zu lesen, war ein buchstäblich atemberaubendes Erlebnis. Es war, als ob mir jemand soeben die Schlüssel zum Universum ausgehändigt hätte.


Inhalt Leseprobe

Inhalt

  1. Bodhisattva Avalokiteshvara 15
  2. Shariputra 19
  3. Die Äusserung 23
  4. Worte sind Ersatzmittel 28
  5. Prajñāpāramitā 31
  6. Kann man Prajñāpāramitā verwirklichen? 33
  7. Die Puzzle-Schachtel öffnen 36
  8. Gute Nachrichten 42
  9. Der Bald-Werdende-Buddha 45
  10. Sechs Jahre 49
  11. Der Bodhibaum 52
  12. Unter dem Bodhibaum 54
  13. Die Lehre des bedingten Entstehens 60
  14. Die Erste Edle Wahrheit 74
    14.1 Allgemeines Leiden 76
    14.2 Veränderung 77
    14.3 Die bedingten Daseinsfaktoren 80
  15. Die Zweite Edle Wahrheit 84
  16. Die Dritte Edle Wahrheit 91
  17. Die Vierte Edle Wahrheit 95
  18. Alles zusammenfügen 100
  19. Was ist zu tun? 113
  20. Das Herz-Sutra 116
  21. Maka Hannya Haramita Shingyo 118
    Glossar

Einleitung

Montag, 3. September 1990, 6.30 früh, Bundesstaat New York, Zen Mountain Monastery (ZMM): Die im Kloster wohnenden Mitglieder der ZMM-Sangha hatten sich für die erste Meditationsperiode des Tages in der grossen Meditationshalle (Zendo) versammelt. Das Zendo war früher einmal eine römisch-katholische Kapelle gewesen. Aus jener Zeit war einzig ein grosses hölzernes Kruzifix übrig geblieben, das an der Steinmauer hinter dem Altar hing. Der Mann am Kreuz blickte auf die Versammlung von Mönchen, Nonnen und anderen Zen-Praktizierenden herunter, die, in schwarze Kutten gekleidet, mit gekreuzten Beinen auf mit Kapok gefüllten Kissen (Zafus) aus schwarzem Baumwollstoff sassen. Die Zafus lagen auf Matten aus schwarzem Baumwollstoff, jede ein Quadratmeter gross und akkurat den zwei langen Wänden entlang ausgerichtet.

In jeder Reihe sassen sich fünfzehn «Zennies» gegenüber, zwischen ihnen die weite Fläche des auf Hochglanz polierten Holzbodens. Direkt unter der Figur des gekreuzigten Lehrers befand sich ein Altar mit der Statue eines anderen Lehrers, des Buddha. Dieser überblickte stehend die Versammlung, ein leichtes Lächeln im Gesicht, die rechte Hand mit nach vorne gewandter Handfläche erhoben. Auf dem Altar befanden sich ausserdem Vasen mit frischen Blumen, eine kleine Porzellanschale mit frischem Wasser, ein kleines Bronzegefäss mit einem bereits entzündeten

Räucherstäbchen sowie eine Kerze. Der Rauch schwebte träge nach oben, wobei er ein exotisches Aroma freigab, das die Lehrer und Schüler gleichermassen einhüllte. Es war nur ein kurzer Moment vergangen, seit der Abt des Klosters das Räucherstäbchen an der tanzenden Kerzenflamme entzündet und mit einer tiefen Verbeugung in das Räuchergefäss gesteckt hatte. 

°°°

Unser Lehrer stand vor den geschnitzten Figuren der beiden Lehrer und blickte auf die schweigende Versammlung. Aus einer diskret platzierten Kollektion von Klangschalen, Mokugyos (hölzerne Schlaginstrumente in der Form eines Fischkopfs) und anderen für ein Zen-Kloster charakteristischen Instrumenten, war soeben der «Weckruf» des Inkin (metallene Handglocke) erklungen, die von einem der älteren Mönche drei Mal angeschlagen worden war. Der helle Klang hatte unsere Schläfrigkeit unverzüglich aus unserem Kopf vertrieben und schon beim ersten Schlag waren wir unisono aufgestanden. Mit dem Sutra-Rezitations-Buch in der Hand warteten wir auf den Beginn des ersten Sprechgesangs. 

Der Lehrer begann mit den Worten: «Mahā Prajñā-pāramitā Herz-Sutra.» Mit vereinter Stimme setzen wir ein:

«Der Bodhisattva Avalokiteshvara, tief in Prajñāpāramitā versunken, sah deutlich, dass die Fünf Skandhas leer sind und überwand dadurch alle Unwissenheit.

O Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere, Leere ist identisch mit Form. Dasselbe gilt für Sinnesempfindung, Wahrnehmung, Willenstendenzen und Bewusstsein …»

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den melodiösen Sprechgesang des Herz-Sutra hörte. In der Tat erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es etwas namens HerzSutra überhaupt gab. Den Klang der Worte zu hören und sie gleichzeitig selbst im Sutra-Buch zu lesen, war ein buchstäblich atemberaubendes Erlebnis. Es war, als ob mir jemand soeben die Schlüssel zum Universum ausgehändigt hätte.

°°°

Der gleichmässige Schlag des Mokugyo verlieh dem Sprechgesang seinen fortlaufenden Takt. Der scharfe Klang des Inkin akzentuierte die gesprochenen Verse:

«…O Shariputra, alle dharmas sind Formen der Leere; weder entstanden noch vergangen; weder unrein noch rein; weder zunehmend noch abnehmend. 

In der Leere gibt es keine Form, keine Sinnesempfindung, keine Wahrnehmung, kein Wollen, kein Bewusstsein; weder Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper noch Geist; weder Farbe, Klang, Geruch, Geschmack, Hautempfindung noch Erscheinungen;weder einen Bereich der Sinne noch einen Bereich des Bewusstseins; weder Unwissenheit noch ein Ende der Unwissenheit; weder Alter und Tod noch ein Ende von Alter und Tod; kein Leiden, keine Ursache des Leidens, kein Auslöschen des Leidens, keinen Weg zum Auslöschen des Leidens, keine Weisheit und kein Erlangen.

Da es nicht zu erlangen gibt, weilen die Bodhisattvas in Prajñāpāramitā, ohne Hindernisse im Geist. Frei von geistigen Hindernissen bedeutet frei von Angst; alle verblendeten Gedanken sind überwunden. Das ist Nirvāna. 

Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben Prajñāpāramitā und verwirklichen dadurch vollkommene vollständige Erleuchtung.»

Ich hatte keine Ahnung, was Worte wie «dharmas», «Prajñāpāramitā», «vollkommene vollständige Erleuchtung» bedeuten. Es spielte keine Rolle. Mir schien, dass das Wesen der Gedanken, die dargelegten Ideen, viel mehr enthielten, als die Worte auszudrücken vermochten. Es war wie der Versuch, einen reissenden Strom in einem Wasserglas einzufangen. Die Ideen flossen um die Worte herum, durch die Worte hindurch, über die Worte hinaus und brachten ihre Bedeutung in wortfreien Bereichen zum Schwingen.

«Daher wisse, Prajñāpāramitā ist das grosse Mantra, das strahlende Mantra, das höchststehende Mantra, das Mantra ohne seinesgleichen; es beendet alles Leiden. 

Dies ist die Wahrheit, ohne Trug. Deshalb sprich das Prajñāpāramitā-Mantra und sage:

Gate! Gate! Paragate! Parasamgate! Bodhi Svaha!

Das Herz-Sutra der grossen Weisheit.»

°°°

Seither sind mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen. Es hat sich nichts geändert, das Herz-Sutra ist für mich die Essenz von Buddhas Lehre. Es «sagt es, wie es ist».

Ich hoffe, dass dieser Versuch, eine weitere Form aus der Leere zu schaffen, auch für Sie, liebe Leser, einen Wert hat.

– Robert Wydler Haduch Zürich, Oktober 2016

Anmerkung: Da und dort finden sich in den Kapiteln Textabschnitte, die sich vom übrigen Text abheben, wie der Abschnitt, den Sie gerade lesen. Diese Abschnitte können als «nebensächliche» Erläuterungen betrachtet werden. In der Regel dienen sie dazu, einen Sachverhalt zu erklären mit einem Beispiel, das nicht direkt mit dem Haupttext zu tun hat Man kann diese Abschnitte überspringen, wenn man will. Allerdings fügen sie der Erzählung meist etwas Farbe hinzu.

Bodhisattva Avalokiteshvara

Avalokiteshvara sah durch die halbgeöffneten Augen, wie die Sonne am östlichen Himmel ihren Auftritt begann. In verschiedenen Orangetönen schimmernd, schien sie voller Leben, als sie sich langsam über den Horizont erhob. Es war ein phantastischer Anblick, und immer neu; Avalokiteshvara wurde es nie müde, daran teilzuhaben. 

Er hatte, wie es seine Gewohnheit war, die ganze Nacht in Meditation gesessen. Am Abend hatte er zusammen mit einem Brudermönch namens Shariputra einen Flecken Wiese gefunden, ganz in der Nähe einiger blühenden Bäume. Der berauschende Blütenduft und der leicht stechende Geruch des trockenen Grases, das er für einen Sitz zum Schutz vor der kalten Feuchtigkeit der Erde gesammelt hatte, begleiteten ihn durch den ersten Teil der Nacht. Doch nicht lange. Schnell war er in einen tiefen Meditationszustand versunken; den abnehmenden Mond, der den wolkenlosen Himmel erhellte, bemerkte er nicht. 

Demnächst würde die Sonne die Lichtung, in der er sass, erreichen und den schweren Tau, der alles, inklusive ihn selbst, im Laufe der Nacht überdeckt hatte, allmählich wegbrennen. Noch aber war es nicht so weit; er konnte noch eine Weile in der Feuchtigkeit sitzen bleiben und sich am Duft des Grases, der Blüten und der Erde um ihn herum erfreuen. Indem er die taufeuchten Lippen leckte, gelangte das Aroma der Blüten zu seinen Geschmacksknospen.

Duft und Geschmack waren untrennbar; eines war das andere. Er war dankbar für den Schutz seiner dicken Patchwork-Kutte. Sie hatte ihn warm und trocken gehalten durch die, für sein Gefühl, sehr kurze Nacht. Er lächelte in sich hinein und dankte dem Buddha für seine Lehre des «mittleren Weges».

Der Buddha hatte oft zu seinen Anhängern gesagt: «Alles soll mit Mass geschehen. Folgt dem Pfad, der zwischen den Extremen von Selbstverhätschelung und Selbstkasteiung hindurchführt. Bleibt achtsam, es ist sehr leicht, von diesem Weg abzukommen.» 

°°°

Der Bodhisattva wusste aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es sein konnte, in einer kalten, feuchten Nacht ohne passende Kleidung zu sitzen, nur um das Bedürfnis nach Selbstkasteiung zu befriedigen. 

Irgendetwas schien an diesem Morgen anders zu sein; obgleich er nicht mehr der Gewohnheit verfiel, zwischen «heute» und «gestern» zu unterscheiden — etwas war nicht mehr dasselbe. Dies war lediglich ein Gefühl, noch nicht voll ausgestaltet, nicht durch Vergleiche eingeschränkt. Es war, als ob etwas, das immer da war, nun noch mehr da war als zuvor. Es schien ruhiger, stiller zu sein als an anderen Morgen. Es musste sich um eine innere Stille handeln, denn rund um ihn herum war das Erwachen der Natur zu einem neuen Tag in vollem Gang.

Die Falken «redeten» hin und her miteinander, während sie hoch über der Wiese ihre Kreise drehten auf der Suche nach ihrem Frühstück. Die Landlebewesen, nach denen sie suchten, konnten gehört werden, wenn sie im tiefen Grass in die Sicherheit ihrer Untergrundnester huschten. Zwei Melodien im Kontrapunkt, zusammen mit den Myriaden von anderen Kontrapunkten. Alle äusseren Zeichen zeugten von einem durchschnittlichen nordindischen Wintermorgen, überlegte er. Und doch … nicht wie üblich, schien es ihm.

°°°

Er liess ab von dieser Beobachtung, im Wissen, dass, sollte die vergangene Nacht etwas Spezielles beinhalten, sich die Erkenntnis im Laufe des Tages entfalten würde. Es hatte keinen Zweck, ins Geschehen einzugreifen. «Halte dich da raus», sagte er zu sich selbst mit gespielter Strenge, während seine Aufmerksamkeit von einer kleinen Spinne absorbiert wurde, die, an einem einzelnen Seidenfaden baumelnd, von der Spitze eines nahen Grashalms herabsank. Die Spinne glitt sehr langsam in die Tiefe, wobei sie den Silberfaden unterwegs produzierte. Dann, ganz plötzlich, machte sie einen grossen Sprung von mindestens zwanzig Zentimetern und verschwand aus seinem Blickfeld. Der Silberfaden war noch da; er bewegte sich kaum in der wärmenden Morgenluft; aber die Spinne war verschwunden. Wie interessant!

Der Bodhisattva, schmunzelnd über die Belehrung, die ihm die kleine Spinne hatte zukommen lassen, beschloss, dass es Zeit war, den Tag zu beginnen und den Bedürfnissen des Körpers, inklusive eines knurrenden Magens, nachzukommen. Langsam löste er sich aus der Lotushaltung, die er nachtsüber innegehabt hatte, streckte die Beine und schlüpfte in die Sandalen, die ebenfalls von seiner orangefarbenen Kutte vom schweren Tau geschützt worden waren. Als er den Kopf nach links drehte, bemerkte er, dass Shariputra, der etwa fünf Meter von ihm entfernt sass, sich ebenfalls rührte. Sie nickten einander zu, was soviel bedeutete wie «Namaste, ich hoffe, du hattest eine gute Nacht; wir werden uns gleich zum Frühstück treffen.»

Nach dieser Begrüssung erhob sich der Bodhisattva, zog seine dicke Kutte aus und schüttelte sie kräftig, um den restlichen Tau, Blütenstaub und alle kleinen Kreaturen, die sich des Nachts eventuell darin verkrochen hatten, zu entfernen. Er faltete das Gewand sorgfältig und legte es neben einem kleinen Vorrat an Lebensmitteln, die demnächst zu seinem Frühstück werden sollten. Danach begab er sich ins nahe Gebüsch mit einem gurgelnden Bach, um die Morgentoilette zu verrichten. 

°°°

Wasser brachte ihn schon immer zum Staunen. Er sah etwas Magisches in ihm. Es scheint immer dort hinzugelangen, wo es hingelangen soll; egal, wie lange dies dauert, egal, wie viele Umwege es machen muss. Es scheint gleichzeitig unbeirrbar zielstrebig und doch äusserst flexibel. Es passt sich der Form des momentan gegebenen Ortes und den Umgebungsbedingungen an. Manchmal ist es unsichtbar, manchmal flüssig und manchmal fest, aber es ist immer Wasser. Es steht allen und jedem zur Verfügung und bleibt doch sich selbst. Avalokiteshvara schaute zu, wie ein Blatt von irgendwo nach irgendwo floss, vom murmelnden Bach ganz ungezwungen mitgetragen.

Er sah, wie ein tiefhängender Zweig eines Busches den Wasserfluss hemmte, was einen kleinen Aufruhr bewirkte. Aber die Erregung dauerte nicht lange, schnell fand der Fluss zu seinem Lauf, zu sich selbst, zurück. Ein Stein, gross genug, um aus dem Wasser zu ragen, war kein Problem. Das Wasser floss mit einer ständig strömenden Umarmung um den Stein herum, nur das Plätschern und einige Blasen zeugten vom Zusammentreffen. Avalokiteshvara schöpfte etwas Wasser aus dem Bach, sorgfältig Blätter und andere Mitreisende meidend, und wusch sich das Gesicht damit. Das Sinnieren war vorbei. Er war wieder in diesem Augenblick — nass und frisch. Nun war es Zeit für das Frühstück.

Shariputra

Für Shariputra war die nächtliche Meditation durch kleine Schlafperioden unterbrochen worden. Er war recht müde von seinen Reisen. In diesem Jahr war er nah und fern damit beschäftigt gewesen, das Dharma darzulegen für Laien und kleine Mönchsversammlungen. Und nun befand er sich, wie viele andere Mönche auch, auf dem Weg zu einem festgelegten Aufenthaltsort für die Dauer der Monsunzeit. Dort würde er den Buddha wiedersehen. Sie verbrachten die meiste Zeit des Jahres getrennt voneinander, und Shariputra vermisste ihn sehr. 

Shariputra entsann sich, wie er, vor fast dreissig Jahren, zufällig einen von Buddhas ersten Schülern, den Ehrwürdigen Assaji, getroffen hatte. Damals hatte sich Shariputra vorgestellt und den Mönch gefragt, wer er sei. Assaji hatte erklärt, dass er ein Schüler von Shakyamuni Buddha sei. Auf die Frage Shariputras, was der Buddha lehre, hatte Assaji erwidert: «Der Buddha lehrt, dass alle Dinge in dieser Welt unbeständig sind. Alle Dinge in dieser Welt sind bedingt.

Sie entstehen und vergehen in Übereinstimmung mit Ursachen und Wirkungen.» Dann hatte Assaji Shariputra von der ersten Lehrrede des Erleuchteten berichtet, bei der er, Assaji, und vier andere anwesend gewesen waren. Der Buddha hatte zu ihnen über Die Vier Edlen Wahrheiten und den Edlen Achtfachen Pfad gesprochen. Shariputra erinnerte sich, wie beglückt er bei beim Hören dieser Worte gewesen war.

°°°

Er empfand sich unverzüglich in ein Gefühl von totalem, uneingeschränktem und bedingungslosem Verstehen eingehüllt. Er erinnerte sich, wie er gedacht hatte: «So muss es sich anfühlen, wenn ein Meister-Glöckner völlig hingegeben und vollkommen im Klang und der Schwingung einer riesigen, soeben angeschlagenen Glocke aufgeht.» Er erinnerte sich auch, wie sein enger Freund Mogallana zu Tränen gerührt war, als er hörte, was Assaji berichtete. «Ja, so hat alles begonnen», sagte er, kaum hörbar, zu sich selbst, als ihm wieder in den Sinn kam, wie er und Mogallana sich gleich am nächsten Tag aufgemacht hatten, um sich Buddhas wachsender Schar von Schülern im Venuvana Bambushain anzuschliessen.

Viel war geschehen seit jenem «Zufallstreffen» mit Assaji vor dreissig Jahren. In der Sangha des Buddha waren Shariputra und sein Freund Mogallana nun allgemein als Buddhas engste Schüler anerkannt. Tatsächlich hatte der Buddha selbst, beim Aufenthalt im Jeta-Garten in Savatthi, Shariputra als seinen «geistigen Sohn» bezeichnet. 

«Ja, es war äusserst grossherzig vom Ehrwürdigen, mich seinen ‹geistigen Sohn›zu nennen», dachte Shariputra. «Aber der ‹geistige Sohn›des Meisters zu sein, macht die Aufgabe, das Dharma zu verwirklichen, nicht leichter», überlegte er. Wie der Buddha so oft gesagt hatte, verstehen ist etwas, das jeder für sich selbst erlangen muss. Und dieses erlangen kommt nicht zu Stande, bloss weil man der «geistige Sohn» von jemandem ist. 

°°°

In der Nacht hatte Shariputra auch eine Weile über das neueste «Zufallstreffen» nachgedacht. Es hatte erst gestern stattgefunden, als er auf dem Gang durch das nahe Dorf von Tür zu Tür um eine Gabe für eine Mahlzeit gebeten hatte. Direkt vor ihm hatte er einen anderen Mönch im orangenen Gewand gesehen, der ebenfalls von Tür zu Tür ging mit der Bitte um eine Gabe für sein Essen. Die Körperhaltung des Mannes kam ihm bekannt vor; er holte ihn schnell ein und grüsste ihn.

Der Gruss wurde erwidert und es stellte sich heraus, dass sich die Männer kannten, aber nie direkt miteinander gesprochen hatten. Sie schienen gut zusammenzupassen und beschlossen sogleich, den Bettelgang gemeinsam weiterzuführen und die erhaltenen Gaben zu teilen.

So geschah es, dass die beiden zu einer Lichtung in einem kleinen Wald fanden. Dort fachten sie am Abend ein kleines Feuer an, bereiteten die geschenkten Speisen zu und wärmten sich selbst. Sie assen im Schweigen und genossen den mit Kardamom gewürzten Reis und das frische Wurzelgemüse. Nach dem Essen redeten sie eine Weile miteinander, nichts Tiefschürfendes, und zogen sich bald zu ihren «Sitzplätzen» zurück.

Shariputra wusste, dass der Mönch, mit dem er die Mahlzeit geteilt hatte, der Bodhisattva Avalokiteshvara war. Es war ihm auch bekannt, dass Avalokiteshvara einer der acht Bodhisattva-Schüler des Buddha war. Er war zugegen gewesen, als Avalokiteshvara Diskussionsgruppen über Buddhas Lehre angeführt hatte. Avalokiteshvara war in mancher Hinsicht Shakyamuni Buddhas «bester Mann». 

Shariputra war auch die Bedeutung des Namens Avalokiteshvara bekannt als «Derjenige, der alles Leiden der Lebewesen sieht», wobei «Avalokita» im Sinne von «Einer, der hinunter schaut» übersetzt wird und «eshware», die grammatikalisch passende Form von «Ishvara», «Herr» oder «Meister» bedeutet. Avalokiteshvara verkörperte somit «Den Herrn, der das Leiden der empfindenden Wesen sieht» oder «Die Essenz des Mitgefühls». 

°°°

Hat der Buddha dieses Zusammentreffen zwischen ihm und Avalokiteshvara arrangiert? Hatte der Buddha vielleicht Shariputras Leiden, seine verborgenen Zweifel und Unsicherheit gesehen? Wie oft wird einem eine «zufällige» Begegnung mit einem Bodhisattva zuteil? Und wie oft heisst dieser Bodhisattva Avalokiteshvara? Diese Fragen waren Shariputra während der Nacht mehrmals durch den Kopf gegangen. Körperlich und mental erschöpft, beschloss er schließlich, dass es für die Spekulationen, die durch seinen Kopf schwirrten, nur eine treffende Antwort gibt: «Scheinbar zufällig geschehende Dinge sollen dem zufälligen Geschehen überlassen werden.» Nach diesem Entschluss, nicht weiter über die Sache nachzudenken, wurde es ruhiger in seinem Gemüt. In einem Baum sang ein Nachtvogel. Shariputra lauschte der Melodie und diese führte ihn in die Stille.

An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass Shariputra natürlich sehr vertraut war mit den Konzepten, die mit dem Begriff «Bodhisattva» verbunden sind. Er wusste, dass ein Bodhisattva ein Mensch auf dem Weg zur Buddhaschaft ist. Er wusste, dass die Vier Edlen Wahrheiten und der Edle Achtfache Pfad den Weg zur Buddhaschaft definierten. Ebenso wusste er, dass der Weg zur Buddhaschaft kein Weg war. Er wusste dies alles, denn der Buddha hatte gesagt: «Shariputra, ich sehe, dass du eines Tages ein Buddha namens Pamaprabha sein wirst.

Du wirst in diese Welt zurückkehren, um allen Lebewesen zu helfen, und wirst den höchsten Zustand der Buddhaschaft erlangen.» Shariputra war selbst ein Bodhisattva, aber er würde sich niemals ein Bodhisattva nennen. So ist das mit Bodhisattvas; sie hängen nicht besessen an Namen oder Titeln — bedeutungslosen Worten, die Leichtgläubige beeindrucken sollen. Es kommt darauf an, was man tut, und nicht, was man sagt — das ist eine alte Weisheit. 

Die Äusserung

Während Shariputra Feuerholz sammelte zum Kochen des Frühstücks, war Avalokiteshvara mit der Vorbereitung der Speise selbst beschäftigt. Es sollte eine einfache Mahlzeit werden, bestehend aus Reis und gekochten Äpfeln. Die Äpfel erforderten etwas Sorgfalt, weil sie leicht beschädigt waren und von kleinen Kreaturen besetzt, die das Fruchtfleisch zum eigenen Frühstück zu essen wünschten. Sie waren jedoch süss und fest und der Mühe wert. Der Reis sollte langsam gekocht werden und kurz vor Ende würden die Äpfel beigefügt. Als letzte Zutat würde ein Schluck Kuhmilch die ganze Masse etwas cremiger machen. Alles in allem, ein nahrhaftes Frühstück für die zwei Wanderer, die schon bald wieder unterwegs sein würden. 

Der Bodhisattva überwachte den kochenden Reis, derweil Shariputra, nach der Vorbereitung des Essplatzes, im Schatten eines Baumes seine üblichen Morgen-Asanas vollzog. Der Duft von kochendem Reis und Äpfeln weckte in beiden das Gefühl von Hunger. Dies war eine angenehme Empfindung, sie war begleitet von einer wohltuenden Vorfreude auf ein Frühstück, das sich als denkwürdig herausstellen sollte. 

°°°

Keiner der Männer hatte viel gesprochen an diesem Morgen und so blieb es auch während des grössten Teils des Frühstücks. Zu essen und gleichzeitig zu reden schien unsinnig. Man kann keinem von beiden gerecht werden. Besser ist es zu schweigen und die Speise zu kosten anstatt sich selbst und den anderen mit Worten abzulenken.

Das Frühstück kam zu seinem Ende und die beiden Männer erfreuten sich am Nachgeschmack, ähnlich einer Katze, die soeben zu fressen aufgehört hat und nun still dasitzt und in die Weite schaut. Die Mönche schauten nicht in die Weite, aber ihre Blicke waren, ähnlich fixiert, auf die rote Glut des Kochfeuers gerichtet. Dann, in diesem Augenblick scheinbar absoluter Stille, geschah es, dass sich der Bodhisattva Avalokiteshvara an Shariputra wandte und mit modulierter Stimme zu sprechen begann:

«O Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere, Leere ist identisch mit Form. Dasselbe gilt für Sinnesempfindung, Wahrnehmung, Willenstendenzen und Bewusstsein.»

Die Stille war fühlbar. Shariputra sagte nichts. Seine Augen, auf den Bodhisattva gerichtet, fragten: «Kommt noch mehr?»

«O Shariputra, alle dharmas sind Formen der Leere; weder entstanden noch vergangen; weder unrein noch rein; weder zunehmend noch abnehmend. 

In der Leere gibt es keine Form, keine Sinnesempfindung, keine Wahrnehmung, kein Wollen, kein Bewusstsein.»

°°°

Der Bodhisattva schaute in Shariputras Augen und fand darin keinen Widerstand, kein Denken, keine Meinung, kein Überlegen. Also fuhr er fort:

«In der Leere gibt es weder Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper noch Geist; weder Farbe, Klang, Geruch, Geschmack, Hautempfindung noch Erscheinungen;weder einen Bereich der Sinne noch einen Bereich des Bewusstseins; weder Unwissenheit noch ein Ende der Unwissenheit; weder Alter und Tod noch ein Ende von Alter und Tod; kein Leiden, keine Ursache des Leidens, kein Auslöschen des Leidens, keinen Weg zum Auslöschen des Leidens, keine Weisheit und kein Erlangen.»

Shariputra schwieg; er hatte nicht mit einem Muskel gezuckt während Avalokiteshvaras Äusserung. Kein einziger Gedanke, in welcher Form auch immer, existierte in seinem Geist, nichts bewegte sich und doch war alles im Fluss, nichts stand still. Der Bodhisattva, der Shariputras vollkommene Aufmerksamkeit spürte, fuhr fort:

«Da es nicht zu erlangen gibt, weilen die Bodhisattvas in Prajñāpāramitā, ohne Hindernis im Geist. Frei von geistigen Hindernissen bedeutet frei von Angst; alle verblendeten Gedanken sind überwunden. 

Das ist Nirvāna. 

Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben Prajñāpāramitā und verwirklichen dadurch vollkommene vollständige Erleuchtung.»

Beide Männer schwiegen. Beide blickten in das Feuer, das nun, auf die dunkelrote Glut reduziert, unter einer Decke aus feiner Asche glimmte.

°°°

Avalokiteshvara seinerseits war verblüfft, wie sich die Worte ganz von selbst zu Sätzen geformt und die Einsichten, die aus der nächtlichen tiefen Meditation resultierten, zum Ausdruck gebracht hatten. Er verspürte kein Gefühl geistiger Urheberschaft in Bezug auf die Worte, die er soeben gesprochen hatte. Diese hatten sich ohne sein bewusstes Dazutun ergeben. Er war das Vehikel für ihre Übermittlung, aber es waren nicht «seine» Worte.

Es war, als ob ein Meisterpuppenspieler, ein «Sutradhar» («einer, der die Schnüre hält») durch ihn gesprochen hätte. Doch er unterband diese Analyse — unverzüglich. Er wusste, schon im nächsten Augenblick könnte er gefangen sein; versucht, sich selbst zu erklären, was geschehen war. Die Analyse war der sicherste Weg, die Einsichten zu ruinieren. Einsichten, die ohnehin bereits verwässert waren durch die Worte, die er gesagt hatte. Er distanzierte sich also vom zunehmenden Geschwätz in seinem Kopf und schaute tiefer in das sterbende Feuer. 

Shariputra war noch immer in einem «keine-Worte-kein-Gedanke-Zustand». Er versuchte nicht, das, was er eben gehört hatte, einzufangen oder zu memorieren oder zu katalogisieren oder zu vergleichen. Er zog keinerlei Schlüsse, bildete keine Meinungen. Er sass einfach da und starrte in die glimmende Asche. Ihm war, als ob er von einer riesigen Woge überrollt worden wäre; er fühlte sich noch immer davon umschlungen — ohne Widerstand zu leisten. Natürlich kam ihm dieser Gedanke erst im Nachhinein. Zunächst war alles einfach still.

Vielleicht war es das Lied des Kutschers oder das Geräusch des Ochsengespanns, das auf dem Feldweg vorbeirumpelte auf dem Weg nach irgendwo, was die tiefe Stille, die beide Männer umgab, schliesslich beendete. Sie blickten dem Ochsengespann nach und dann schauten sie sich gegenseitig an und beugten ihr Haupt simultan. Es war vorbei. Beide standen auf und streckten sich.

°°°

Shariputra machte sich daran, den Essplatz aufzuräumen. Er trug das Geschirr zum Bach, spülte alles sauber aus und legte es an die Sonne zum Trocknen. Vor ihrem Aufbruch würde er die Utensilien zusammenpacken und in einem nahen hohlen Baumstamm sicher verstauen, so dass andere Wanderer sie bei ihrer Rast benutzen konnten. 

Indessen löschte der Bodhisattva die restliche Glut mit einem grosszügigen Guss Wasser; er tat dies mit derselben Entschlossenheit, mit der er zuvor seine Spekulationen ausgelöscht hatte, die drohten, die Erkenntnisse der Nacht zu verwässern. «Ja, ein offenes Feuer und Spekulationen haben viel gemeinsam,» sinnierte er, «man sollte keines von beidem unbewacht lassen.» Dann ermahnte er sich selbst, dass da noch etwas war, das er Shariputra mitteilen musste, obgleich er vermutete, dass Shariputra dies bereits wusste.

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