Unwissenheit

Die Zen-Schule des Buddhismus ist dafür bekannt oder nimmt für sich in Anspruch, einen sehr direkten Weg zur Selbsterkenntnis und einer bewussten Lebensführung zu zeigen. Sie beruft sich dabei auf Shakyamuni Buddha, der das Wesen und die Bedingen der menschlichen Existenz bis ins letzte Detail studiert hat und dabei in geistige Tiefen vorgedrungen ist, von denen die meisten Menschen keine Ahnung haben. Aber gerade diese Ahnungslosigkeit (Unwissenheit) in Bezug auf das eigene Wesen sei die Ursache für das Chaos und das Leid, das der Mensch überall auf dieser Erde in Gang setzt, sagte der Buddha.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil, wir können schauen, wohin wir wollen: Der Mensch bringt Zerstörung, wo auch immer er seinen Fuss hinsetzt, sei es in der Erde, im Wasser, in der Luft. Aus Unwissenheit geboren, in Unwissenheit gefangen, folgen wir den ausgetretenen Pfaden, die unsere Eltern und Grosseltern schon immer gegangen sind; dauernd auf der Suche nach einem möglichst «guten» Leben, ständig in Sorge und leidend, weil sich unsere Wünsche nicht erfüllen, oder wenn, dann nur vorübergehend. In dieser Weise dreht sich alles um «mich», wobei das «mich» durchaus auch die nächsten Familienangehörigen oder Gleichgesinnte einbeziehen kann. Aber viel weiter geht unser Empfinden in der Regel nicht, oder?

Frucht der Unwissenheit

Die menschliche Sicht, die nur das eigene Wohl und den eigenen Profit im Focus hat, ist eine Frucht der Unwissenheit. Wie glauben zwar, sehr viel zu «wissen» über alles mögliche und darüber, was zu tun wäre, damit dieses oder jenes Übel behoben werden könnte. Die Thematik des sogenannten Klimawandels ist ein gutes Beispiel aus unsere Zeit. Wir reden viel von der Notwenigkeit einer Umkehr, wollen die nötigen Schritte aber nicht machen. Das Wasser steht uns noch nicht bis zum Hals … und diejenigen, denen es bis zum Hals steckt, die leben weit weg von uns.

Der Buddha kam auf Grund seiner tiefgründigen Analysen zum Schluss, dass sich daran nichts ändern wird, solange die Menschheit in ihrer Unwissenheit und der daraus resultierenden Selbstzentriertheit verharrt. Denn die Samen, aus denen unser Denken, Tun und Lassen wachsen, und die unser tatsächliches Leben bestimmen, sind tief im Boden dieser Unwissenheit verborgen. Sie stammen zum Teil aus lang vergangenen Zeiten. Sie wurden von unzähligen Vorvätern und Vormüttern gepflegt und weitergegeben. Natürlich gab es über die Generationen Modifikationen und Ergänzungen, aber das Denken hat sich nicht fundamental geändert. Das ist das Wesen von Karma: Karma besteht aus Gedanken und Taten, welche Gedanken und Taten derselben Art oder Qualität hervorbringen. Das ist ein Gesetz, das im materiellen und im geistigen Aspekt der Natur gleichermassen gilt. Äpfel erzeugen Äpfel, Kriege erzeugen Kriege …

Veränderung

Die einzige mögliche Veränderung muss also im Denken stattfinden. Das ist der Weg, den der Buddha konsequent gegangen war. Er nutzte sein eigenes Denken seinen eigenen Verstand und beleuchtet damit alles, was sich in seinem Bewusstsein abspielte. Er ruhte nicht, bis er an die endgültige Grenze seines Verstandes gekommen war und dann … überschritt er die unsichtbare Schwelle zur allumfassenden unbegrenzten Sicht der fundamentalen Wirklichkeit. Er sah und wusste ein für allemal: «Alles, was existiert, alles, was ich wahrnehmen, denken und erinnern kann, ist das Produkt, und die Auswirkung, meines eigenen Geistes.

Aber «mein» Geist ist nicht wirklich «mein» Geist. Es ist der Geist der ganzen Existenz. Es gibt kein «mein» und «dein» in der Wirklichkeit.» Von da an wusste er, was wahr ist und was nicht, und verbrachte den Rest seines Lebens, seinen Mitmenschen zu helfen, dies auch zu tun. Er lehrte den Weg, der aus der Unwissenheit zum Wissen führt. Dabei zeigte er, wie verheerend das Verharren in der menschlichen Denkweise für die ganze irdische Lebensgemeinschaft ist und wie unbedingt nötig eine Wandlung bzw. die Befreiung aus dieser Denkweise ist. Und er zeigte den einzigen Weg, der diese Wandlung ermöglicht.

Das fundamentale Prinzip, die Kernaussage seiner Erkenntnis lautet: Die Wandlung von einem unwissenden, selbstzentrierten Wesen zu einem wissenden, mitfühlenden Menschen muss von jedem Individuum ganz persönlich vollzogen werden. Jeder muss es für sich selbst vollbringen, keiner kann es für einen anderen tun! Ohne diese Wandlung wird der Mensch für immer in Leiden verharren.

Richtige Meditation

Die Basis für die Wandlung ist richtige Meditation. Richtige Meditation ist definiert als der Zustand, in dem die mentalen Aktivitäten — Gedanken-, Erinnerungs- und Gefühlswellen, die den Geist normalerweise bewegen, — so zur Ruhe kommen, dass sie ihre schädliche Wirkung verlieren. Nur der in gedankenfreier Stille gesammelte Geisteszustand ist klar genug, um die Wirklichkeit unverzerrt zu offenbaren und erfahrbar zu machen.

So weit so gut: Wir alle haben dies schon oft gehört, gelesen. Und vielleicht denken wir, das sei doch genau das, was wir in unserer Meditationspraxis tun: Die Stille des Geistes üben, um die Wahrheit zu finden. So wie der Buddha es getan hat.

Aber ist wahr?

Machen wir wirklich das, was der Buddha und seine erleuchteten Nachfolger getan haben? Ist unsere «Meditation» von derselben Natur, derselben Entschlossenheit, derselben Gründlichkeit, derselben Motivation? Wenn ja, warum drehen wir uns dann weiterhin ständig im Kreis unserer Gefühle und Gedanken? Warum stecken wir dann auch jetzt in unseren Sorgen und Ängsten fest? Wenn nein, was machen wir denn wirklich?

Ich denke, diese Fragen sind durchaus berechtigt, wir sollten sie uns alle immer wieder stellten. Denn es ist sehr leicht und äusserst verführerisch, in eine selbstgerechte oder träge oder routinierte «Zen-Praxis» zu verfallen.

Wir erleben beim Sitzen zu Hause oder bei Retreats immer einmmal wieder Momente des Wohlbefindens; ab und zu «sehen» wir vielleicht plötzlich etwas «klar»: «Aha, so ist das.» Aber nach einer Weile verflüchtigt sich dieses Gefühl und wir fühlen uns wieder so, wie immer: Irgendwie unzufrieden mit uns selbst und/ oder der Welt.

Also wiederholen wir das Prozedere und werden sogar «recht gut» darin, den Zustand des Wohlbefindens herbeizuführen. Aber dann, wenn irgendetwas passiert, das unsere Gefühle verletzt oder verunsichert, verfallen wir wieder in Kummer und Schmerz oder Wut und Hass. Wir sollten uns deshalb nicht mit dem flüchtigen Gefühl des momentanen Wohlbefindens in einer Sternstunde bei einer Meditationszusammenkunft oder Zuhause zufrieden geben. Das ist nicht das Ziel der Meditation. Wir sollten weiter gehen.

Wurzeln der Gewohnheit

Die karmischen Samen unseres Verhaltens sind unserem Verstand und Wollen nicht direkt zugänglich. Sie lagern tief Bewusstsein, man muss dementsprechend «tief graben», um ihren Wildwuchs zu verhindern. Der Buddha bezeichnete die Samen der Gewohnheiten als Willenstendenzen; und die Bewusstseinsschicht, in denen sie lagern, als Speicherbewusstsein (Alaya).

Bei der Sitzmeditation und im täglichen Leben äussern sich die Willenstendenzen als Gedanken, Bilder, Regungen oder Empfindungen, die ungefragt, scheinbar aus dem Nichts, in unser Gemüt treten. Wie ein starker Magnet lenken sie unsere Aufmerksamkeit ab und — schwupps — sind wir ihrem Sog erlegen und kleben an ihnen fest. Wir alle kennen dies. Es wird auch heute nicht anders sein. Aber statt sich darüber zu ärgern oder sich selbst dafür zu tadeln, sollte man diesen Mechanismus durchschauen und verstehen. Nur so kann man sich seinem Sog entziehen.

In diesem Zusammenhang sagte der Zen-Meister Sokei-ans: «Um frei zu werden muss man sich rigoros von allem trennen, was einen an die Unwissenheit bindet.»

Achtsamkeit

«Sich rigoros von Vorstellungen und Irrglauben trennen» kann übersetzt werden als den gewohnten Gedanken und Träumen keinen Platz einräumen», keine Beachtung schenken. Das ist eine Sache der Achtsamkeit! Achtsamkeit jedoch ist keine Sache des Denkens. Achtsamkeit ist definiert durch gegenwärtiges Dasein, Präsenz im Hier und Jetzt. Es gibt keine Achtsamkeit in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Achtsamkeit ist das Gegenstück zurUnbewusstheit, und Unbewusstheit ist Gewohnheit.

Deshalb: Wenn ihr euch zur Meditation hinsetzt, fallt nicht einfach in der gewohnten Art und Weise auf das Sitzkissen. (Ich beobachte immer wieder, wie Viele in der immer gleichen — unbewussten — Haltung sitzen: Die Körperachse neigt sich nach vorne oder nach hinten oder zur Seite, die Halsmuskeln scheinen hart und steif, die Schultern sind hochgezogenen, oder was auch immer man sich so Körperhaltungen angewöhnt hat.) Sucht jedesmal von neuem den natürlichen Schwerpunkt im unteren Teil des Körpers, richtet die Wirbelsäule von dort aus auf. Lasst euch Zeit, ins Lot zu kommen.

Wendet die Aufmerksam freundlich aber entschlossen nach innen. Gebt den Atem frei, zwängt ihn nicht in eine Vorstellung von richtig oder falsch. Fesselt ihn nicht mit irgendeiner Art von «Atemübung», die ihr aus einem Buch gelernt hat oder vom Hörensagen kennt. Lasst das innere Gummiband der körperlichen und geistigen Anspannung los und erlaubt den Gedankenwellen von selbst zur Ruhe zu kommen, indem ihr sie mit völlig passivem Gewahrsein betrachtet. Das heisst, ohne das, was auftaucht an Gedanken, Gefühlen, Bilder, Erinnerungen zu beurteilen oder sich einzumischen.

Ohne «ich»

Doch das ist nur der Anfang nicht das Ende, geschweige denn der Selbstzweck der Meditation. Der «nächste Schritt» ist die bewusste Trennung von der Vorstellung von «ich» – «ich meditiere», «ich fühle», «ich weiss», «ich weiss nicht», «ich verstehe»– ich dieses, ich jenes.

Stattdessen ist es ratsam, sich bei allen Wahrnehmung zu fragen: Wer oder was? Wer sieht/hört/denkt/fühlt ? Was ist die Grundlage dieses Sehens/Hörens, Denkens, Fühlens? Oder: Was ist es, sieht, hört, denkt, fühlt – in diesem Augenblick, nicht gestern nicht morgen?

Und denn gilt die Präsenz und Stille der Meditation in alle Tätigkeiten des Alltags mitzunehmen. Denkt nicht über den allgemeinen Sinn und Zweck des Lebens nach, vergleicht euer Tun und Lassen nicht mit dem anderer Leute. Verrichtet das, was es von Moment zu Moment zu tun gibt, mit Hingabe und Achtsamkeit. In jedem Augenblick, immer nur den einen, nächsten Schritt vollziehend. Wir alle wissen aus Erfahrung, wie schwer uns das fällt. Es würde bedeuten, dem ständige, subtilen oder offensichtlichen Druck der Gewohnheit zu widerstehen. Die grössten Feinde, die uns daran hindern, sind Ungeduld und Unwissenheit.

Der leere Eimer

Kogetsu Tani Roshi, der Abt vom japanischen Zen-Kloster Shogen-ji, unter dessen Führung ich bei einigen Sesshins (intensive Meditationswochen) mitmachen durfte, erzählte eine in diesen Zusammenhang passende Geschichte:

Ein reicher König hatte eine schöne Tochter, die bereit war, verheiratet zu werden. Um den besten Mann zu finden, liess der Vater im ganzen Reich folgende Nachricht verbreiten: «Alle Männer, die glauben, es würdig zu sein, meine schöne Tochter zu ehelichen, sind eingeladen, sich in meinem Hof zu einem Fest einzufinden und an einem Wettkampf teilzunehmen. Wer diesen gewinnt, bekommt meine Tochter zur Frau.» Datum und Zeit waren angefügt.

Als es soweit war, fanden sich unzählige Jünglinge aus allen Landesteilen ein. Einige kamen hoch zu Ross mit einem ganzen Gefolge, andere allein oder zu zweit. Nachdem alle bewirtet und untergebracht worden waren, wurden sie aufgefordert, sich nun dem entscheidenden Test zu stellen.

Auf dem Versammlungsplatz befanden sich ein grosser Brunnen und in einiger Entfernung davon für jeden Probanden ein grosses leeres Fass. Die Aufgabe war es, das Fass mit Wasser aus einem immerzu sprudelnden Brunnen zu füllen. Wer zuerst fertig wurde, sollte die schöne Tochter bekommen.

Die jungen Männer, fast schon beleidigt ob dieser simplen Aufgabe, nahmen spöttisch lachend ihren Eimer in Empfang und machten sich zum Brunnen auf. Sie füllten ihren Eimer und rannten zum Fass. Dann zurück zum Brunnen und von dort wieder zum Fass. Hin und her, hin und her. Doch schon bald stellten die ersten fest, dass ihr Eimer ein Leck hatte und ebenso die Eimer aller Mitstreiter. Noch bevor sie mit vollem Eimer beim Fass ankamen, war alles Wasser schon ausgelaufen. Ihre Selbstsicherheit und ihr Spott über diese simple Aufgabe verwandelte sich schnell in Frustration und Ärger. Einer nach dem anderen entdeckte sein vergebliches Bemühen. Einer nach dem anderen gab auf und machte sich aus dem Staub. Einige mit Getöse und Protest, andere still und heimlich.

Nur ein junger Mann rannte weiterhin zwischen Brunnen und Fass hin und her. Unermüdlich füllte der den lecken Eimer im Brunnen, unermüdlich kippte er den Eimer über das Fass. Den ganzen Tag lang. Pausenlos. Bis das Fass voll war!

Ein Paar Tropfen

Der König und sein Gefolge hatten dem jungen Mann staunend zugeschaut. Als er als Einziger die Aufgabe erfüllt hatte, fragten sie ihn, wie er das gemacht habe; warum er nicht, wie alle anderen aufgegeben habe. Der junge Mann entgegnete: «Ich habe gesehen und darauf vertraut, dass jedes Mal, wenn ich Wasser aus dem Brunnen zum Fass getragen habe, ein paar Tropfen davon am Eimer hängenbleiben und dann ins Fass fallen. Es sei nur eine Frage der Zeit und der Geduld gewesen, bis genügend Tropfen zusammen waren, um das Fass zu füllen. Und seine seit langem heimlich gehegte Liebe zur Königstochter und die einmalige Möglichkeit, sie zur Frau zu bekommen, habe ihn so beflügelt, dass ihm nichts zu viel, keine Mühe zu gross gewesen sei.»

Die Königstochter, berührt von dieser Einstellung, willigte freudig ein, diesen tapferen Mann zu ehelichen. Die beiden gründeten eine Familie und zeugten viele gesunde und lebensfrohe Nachkommen.

***

«Mit dem bodenlosen Eimer Wasser schöpfen» ist eine Metapher für die Verwirklichung der Buddhaschaft:

Dank seiner Erkenntniskraft kann jeder Mensch — durch Vertrauen und den unermüdlichen Einsatz seiner ganzen Lebensenergie — seine eigene «kleine», bedingte Existenz mit der Existenz des «grossen», unbedingten Geistes verbinden. Das Wasser im unergründlichen, immerwährend sprudelnden Brunnen ist dasselbe Wasser wie das im bodenlosen Eimer und im vergänglichen Fass.

Unwissenheit: Betrachtung Februar 2018; Agetsu Wydler Haduch

unwissenheit
Nach oben scrollen