Unsicherheit

Unsicherheit – AWH März (Teil 1), September (Teil 2) 2020 zur Zeit der Corona-Epidemie

Im März 2019 hat die menschliche Gesellschaft einen Stein vor die Füsse geworfen bekommen. Zack! Da war etwas, das uns in unserem gewohnten Treiben stoppte. Das Phänomen bekam den Namen Corona-Epidemie oder Covid-19-Pandemie. Die Regierung rief: «Bitte bleiben Sie zu Hause – Alle!» Und in der Tat : Man blieb zu Hause – die sogenannten nicht-systemrelevanten Geschäfte wurden geschlossen, alle kulturellen Aktivitäten abgesagt. Auf einmal konnten wir nicht so weitermachen, wie immer. Gewohnheiten und Pläne waren plötzlich hinfällig. Jeder muss sich fragen: «Was mache ich jetzt»? Der folgende Dharmavortrag nimmt Bezug auf diese Stimmung. Es herrschte vollkommene Planungsunsicherheit, wie es in der entsprechenden Sprache hiess.

Der folgende Eintrag besteht aus zwei Teilen. Teil 1 entstand anlässlich des Tagesretreat während des «Lockdowns» und wurde per Mail an die Teilnehmenden übermittelt. Teil 2 entstand anlässlich des ersten wieder möglichen Tagesretreats im September desselben Jahres.


Teil 1: März

Achtung – Gefahr!

Ein ominöses Geschöpf, so winzig, dass keiner es sieht, verbreitet sich in Windeseile in der Welt. Schon hat es sich in unser Denken geschlichen und in einigen Körpern breitgemacht. Das für unsere Augen unsichtbare Geschöpf wird auf Bildschirmen und in Zeitungen präsentiert als rot, rund und mit merkwürdigen Spikes. Es haftet sich angeblich vor allem unserem Atem und unsere Händen an. Wehe, es kann sich dort festsetzen. Man kann daran sterben. Rette sich, wer kann!

Doch, wo gibt es Rettung? Wohin kann man fliehen? Wer weiss Rat?

Einige fahren ihr psychologisches Abwehrgeschütz auf und schreien: «Das ist alles Hysterie, es gibt keinen Grund zur Aufregung. Das ist bloss von den Medien gemacht. (Wer sind die Medien? Diese Frage wird nie gestellt.)

Andere verfolgen gebannt die steigenden Fallzahlen, die auf den diversen Bildschirmen aufleuchten. Ist das runde Dinge (Bild vom Virus) schon in meinem Land, in meiner Stadt angekommen?» Bis vor kurzem konnte man es noch ignorieren, es war weit weg, aber jetzt? Man erstarrt angesichts des sich nahenden Unheils wie die Maus im Angesicht der Schlange.

Einige rufen nach Hilfe von oben: «Die Regierung, soll’s richten!» (Was qualifiziert die «Regierung» für diesen Status? Diese Frage wird erst später gestellt werden.)

Der Name, den dieses Lebewesen von uns erhalten hat – Corona – ist in aller Munde. Einige von uns haben ihn bisher vielleicht aus Kreuzworträtseln gekannt (Frauenname mit C?) oder mit einer Sonnenfinsternis in Verbindung gebracht. Sein Klang ist schön, seine Bedeutung hässlich. Er ist verbunden mit der Vorstellung vor qualvollem Tod und gesellschaftlichem Kollaps!

Memento mori – gedenke des Todes

Die Vorstellung von Tod und Kollaps ist eine Katastrophe für jedes geliebte «Ich», das alles so haben und konsumieren will, wie es ihm behagt. Wehe es stellt sich ihm etwas in den Weg!

Doch was ist eigentlich neu an dieser Situation? Ist der Tod nicht schon immer Teil von uns? Ist die Möglichkeit, dass sich das Leben von einem Tag auf den anderen verändert, nicht schon immer ein Merkmal der menschlichen Existenz? Stehen die Worte Memento mori nicht seit alters her auf Kirchenmauern, Uhren, Bildern oder über Hauseingängen, zur Mahnruf unsere Vergänglichkeit?

Der Buddha wurde nicht müde, zu erklären und darauf hinzuweisen, dass Krankheit, Verfall und Tod unser aller Schicksal sind. Und dies vor mehr als 2500 Jahren!

Auch in den Zen-Klöstern ruft das Han (Holzbrett, das mit einem Holzhammer angeschlagen wird) seit Generationen morgens und abends: «Gebt acht, die Zeit vergeht. Der Tod kommt schnell. Wacht auf! Vergeudet euer Leben nicht.»

In der Tat: Irgend einmal kommt alles zu seinem Ende. Alles! Alles, was ich zu sein scheine. Alles, was ich habe. Auch die Arbeit. Auch die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ich will. Auch das Latein der Politiker und Wissenschaftler. Alles! Oder kennt jemand etwas, das nicht vergeht?

«Ja», mögen einige sagen: «die Hoffnung vergeht nie». Welche Hoffnung? Die Hoffnung, dass es mich nicht betrifft? Die Hoffnung, dass irgend eine Technik oder ein Roboter Unsterblichkeit bringen? Nun, die Hoffnung mag zuletzt sterben, aber auch sie stirbt. Spätestens dann, wenn sie von Fakten abgelöst wird.

Was kann man tun?

Viele sogenannte Volkskrankheiten wie Pest, Kinderlähmungen, Tuberkulose und andere glauben wir ausgerottet oder, wie die gewöhnliche Grippe, zumindest unschädlich gemacht zu haben.

Vorausgesetzt die Pharmabranche produziert genügend entsprechende Medikamente und Impfstoffe, zu bezahlbaren Preisen und innerhalb der erforderlichen Zeit. All dies ist nicht der Fall. Es war nie der Fall und wird es nie sein. Die periodischen Grippewellen löschen jedes Jahr zahllose Menschenleben aus. Und in vielen Ländern gibt es keine Versorgung mit diesen Pharmaprodukten. Denn das ist nicht im Interesse der auf Gewinn und Macht ausgerichteten Geld-Welt-Wirtschaft.

Wir sind nicht Herrscher über Leben und Tod. Wir sind nur Herrscher über unser Denken, unser Tun und Lassen – d.h. wir sollten es sein bzw. müssten es sein. Wie es im Dhammapada heisst:

Unser Leben wird durch die Gedanken bestimmt;
wir werden, was wir denken…

Und wie bestimmt das Denken unser Leben? Jetzt, da sich alle mit der unumstösslichen Tatsache der Sterblichkeit konfrontiert sehen?

Den Kopf in den Sand stecken: «Das geht mich nichts an»?
Die Tatsachen leugnen:«Das ist alles nur Angstmache»?
Auf Panik schalten und auf Teufel komm raus alles einkaufen, was man zum Überleben zu brauchen scheint?
Oder…? Oder …?

Wie wäre es, wenn man den Weckruf hören und aufnehmen würde? Sich der Tatsache der Vergänglichkeit stellen? Ein für alle Mal! Wie es der Buddha getan und uns allen empfohlen hatte? Auf dass wir die Angst verlieren? Die Angst vor dem Leben und vor dem Tod?

Aufgeben

Einmal muss man alles aufgeben … restlos alles. Wer wagt es, diesen Gedanken ganz und gar in sich zu realisieren? Wer wagt es, sich der totalen Aufgabe zu stellen? Alles hinzugeben…bis nichts mehr von «mir» übrig bleibt? Wer hat den Mut dazu?

Oh, das kann man natürlich nicht so einfach «tun». Früher oder später aber gibt es keine Wahl, dann muss man es tun, ob man will oder nicht. Ob mit Hilfe eines Virus, Bakteriums oder mit Hilfe der eigenen Unachtsamkeit im Strassenverkehr oder einfach, weil der Körper verbraucht ist – es gibt viele natürliche und weniger natürliche Todesarten – auf jeder Altersstufe.

Wenn man sich dieser Tatsache nicht stellt, solange man lebt, dann wird genau das geschehen, was jetzt im kollektiven Geist geschieht, nämlich: Verwirrung und Unsicherheit pur! Eine Kakophonie von Meinungen und Stimmen wird im eigenen Geist dröhnen, die Sicht verstellen und sich noch lange nach der aktuellen Gefahr wellenförmig ausbreiten. Wenn man in diesem Leben keinen Kompass hat, wird man ihn auch nachher nicht haben.

Stille

Wir können den Stand unserer Verwirrung beim heutigen «virtuellen» Tagesretreat selber prüfen.

Hört man auf alle Meinungen und Stimmen im eigenen Kopf, bleibt man die Maus vor der Schlange. Sagt man jedoch: «Schluss jetzt», setzt sich hin und horcht auf das Leben in einem selbst – Einatem, Ausatem, Einatem, Ausatem – bis man den Atem und sich selbst vergisst –, dann wird es still. Natürlich geben die Meinungen und Stimmen nicht so ohne weiters auf. Sie sind schliesslich das, was «ich» bin und habe – mein Leben, mein Dasein. Sie werden immer wieder ins Bewusstsein drängen. Man soll das wissen, sich aber davon nicht ablenken lassen. Glaube ihnen nichts, höre nicht zu, ignoriere sie! Dann können sie gar nicht anders, als zu verstummen.

Und dann, wenn sich die Stille öffnet …wird man «hören», was zu tun ist und was zu lassen. Dann muss man nur noch «ge-horchen».

Denn unsere inneren Weisheit ist immer da, uns den Weg zu zeigen.

Probiert es aus! Nutzt nicht nur den heutigen Tag, nutzt jede Gelegenheit dazu.


Teil 2: September

Zwischenstand

Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen. Die Landesgrenzen und Geschäfte sind wieder offen. Viele Menschen gehen wieder ihrer Arbeit nach. Die grosse Stille in den Strassen ist vorbei.

Doch die Thematik Corona ist noch immer omnipräsent. Die «Luft» ist durchtränkt von einer allgemeinen Verunsicherung. Nach wie vor gibt es Massnahmen, die jeden einzelnen Menschen betreffen. Während die grosse Mehrheit kaum von der Pandemie direkt betroffen ist, sehen sich andere in ihrer Existenz bedroht oder sind mit Arbeit überfordert, weil sie sich immer neuen Verordnungen unterwerfen müssen.

Das aktuelle Beispiel ist die sich in unseren Städten dauernd ausweitende «Maskenpflicht». Sie ist in meinen Augen ein wunderbarer Indikator dafür, was in vielen Gemütern vor sich geht, wenn von einer höheren Instanz befohlen wird, was man zu tun hat und was man nicht tun darf. Widerstand macht sich breit: Wer hat das Sagen, wer hat die Macht, die Verhaltensnormen festzulegen? Wem soll man glauben, wem soll man nicht glauben?

Die allgemeine Verunsicherung, die im März unter der Bevölkerung noch viel Hilfsbereitschaft und einen gewissen Gemeinschaftssinn ausgelöst hatte, ist nicht kleiner geworden, wird heute aber von allgemeiner Müdigkeit und Überdruss begleitet. Die Kakophonie von Meinungen, Theorien, Schuldzuweisungen und dergleichen ist nicht überseh- und überhörbar.

Andernorts können die Menschen keine Zukunft planen, weil der Meeresspiegel steigt und ihre Inseln überflutet oder weil ihre Länder in endlose Kriege verwickelt sind und ihr ganzes Hab und Gut zerbombt ist. Wir aber regen uns auf, weil wir auf Befehl ein Stück Stoff vor dem Gesicht tragen müssen, das weder ein Zeichen unserer Religionszugehörigkeit ist, noch dem Schutz vor Wüstensand oder vor Asche aus wütenden Waldbränden dient.

Ungewissheit

Wir denken noch immer, wir dies sei in eine ganz spezielle, unsicheren Zeit. Wir rechnen damit, dass sie bald ein Ende findet und wünschen uns eine Normalität, zu der wir zurückkehren können.

Doch dem ist nicht so. Alle diese Ideen, Hoffnungen und Erwartungen sind Unsinn. Es gibt und gab nie «sichere Zeiten»; «Normalität» ist nichts anderes als ein Gedankenkonstrukt mit einer sehr unsicheren Grundlage und blitzschnellen Verfallszeit.

Auch zu Buddhas «Zeit» herrschte Unsicherheit. Die Menschheit litt damals wie heute unter Kriegen, Hungersnöte, Naturkatastrophen, neuen Kriegen, Revolutionen, noch mehr Kriegen mit ihren unfreiwilligen Flüchtlingsströmen und eben, ab und zu Pandemien. Veränderungen und Vergänglichkeit sind das Naturgesetz der weltlichen Existenz. Das ist die Basis und die Quintessenz von Buddhas Erkenntnis und Lehre. Statt weiterhin an Illusionen und unrealistischen Erwartungen zu haften, sollten und können wir Menschen zu den Tatsachen erwachen und erkennen, was das Leben in Wirklichkeit ist.

Die körperliche Gegenwart, die jeder Menschen, als sein eigenes Leben betrachtet, ist ein winzig kleines Segment in einem Gefüge von Zeit und Raum, das wir Menschen uns ausgedacht haben. Zeit und Raum sind Illusionen, die wir aufrechterhalten, um die grosse Illusionen von einem Ich, einer Person, einem Selbst das als Einzelwesen in Raum und Zeit existiert, aufrechtzuerhalten.

Das Gerde von sicheren und unsicheren Zeiten ist also Unfug. Die Illusion von einer Normalität, zu der man zurückkehren könne, ist das Brett vor dem Kopf, das jede Entwicklung, jeden Ansatz einer wirklichen Erneuerung im Keim erstickt. Wie war denn das Leben vorher? Zu welchem vergangenen Leben wollen wir zurückkehren?

Was können wir also tun? Du und ich? In dieser unsicheren Welt?

Resignieren? Sich tot stellen? Depressiv werden? Auswandern? Aussteigen? Sich ins Vergnügen stürzen? Das Beste herausholen?

Rechtes Verstehen

Im Diamant-Sutra wird beschrieben, wie eine grosse Hörerschaft mit grosser Aurmerksamkeit den Worten Buddhas lauschte, als er die Unwirklichkeit aller wahrnehmbaren Dinge beschreib – inklusive des menschlichen Körpers. Vele der Zuhörer gelangten dadurch zur Erkenntnis, dass es nichts aber auch gar nichts gibt, auf das man sich verlassen kann.

Sie waren darob aber weder enttäuscht noch niedergeschlagen; im Gegenteil, sie fühlten sich erleichtert und frei im vollkommenen Verstehen, dass das Wesen des Lebens nicht aus Konzepten besteht, sondern aus dem Werden und Vergehen des gegenwärtigen Augenblicks. Das wahre Leben hat nichts zu tun mit Zeit, nichts zu tun mit der sterblichen Körperlichkeit in einer fragmentierten Welt, die unterteilt ist in Familien, Nationen und andere Gruppierungen, die ihrerseits gespalten sind von Meinungen, Ansichten, Regeln und Dogmen.

Bei dieser Gelegenheit fragte der Schüler namens Subuthi den Buddha: «Wird es auch in künftigen Zeiten Menschen geben, die wahrhaftigen Glauben und wirkliches Vertrauen in diese Lehren haben, wenn sie sie hören?»

Der Buddha antwortete:

«Zweifle nicht, Subhuti. Noch lange nach dem Hinscheiden des Tathagata wird es Frauen und Männer geben, die sich daran erfreuen, die Lehre zu befolgen. Hören solche Menschen diese Worte, werden sie den Glauben und das Vertrauen besitzen, dass sie die Wahrheit sind.

Warum ist das so? Weil Menschen dieser Art nicht in die Vorstellung von einem Selbst, einer Person, einem Lebewesen oder einer Lebensspanne verstrickt sind. Wenn du der Vorstellung von einem Ding (Körper) verhaftet bist, dann bist du auch der Vorstellung von einem Selbst, einer Person, einem Lebewesen und einer Lebensspanne verhaftet. Bist du in die Vorstellung verstrickt, dass es keine

Dinge (Körper) gebe, dann bist du noch immer in der Vorstellung von einem Selbst, einer Person, einem Lebewesen und einer Lebensspanne gefangen. Darum dürfen wir uns nicht an die Dinge haften, noch an die Vorstellungen, dass die Dinge nicht existieren.» …

Heute

Was hat das mit uns zu tun?
Nun, gehören nicht wir, die wir heute hier sitzen, zu den Menschen, die lange nach dem Ableben des Buddha die Wahrheit nicht nur hören, sondern direkt erleben, dass es nichts Beständiges gibt und dass es illusorisch ist zu denken, morgen oder übermorgen oder irgendwann werde alles in Ordnung und in Sicherheit sein?

Könnten wir auch diejenigen sein, die die zeitlose Wahrheit heute erfassen und sich heute von der Vorstellungen «von einem Selbst, einer Person, einem Lebewesen oder einer Lebensspanne» befreien oder der Vorstellung: «Ich lebe in einer schwierigen Zeit und ich will diese überleben?»

Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir noch nicht wirklich verstehen, warum wir hier zusammenkommen. Wir sind uns unserer Stellung und Bedeutung im grossen Leben noch nicht vollkommen klar.

Ihr seid heute alle wieder hier, weil ihr das Bedürfnis habt, wieder einmal gemeinsam in diesem Zendos zu sitzen. Dieses Bedürfnis, sich immer wieder hinzusetzen und zu einer Ruhe zu finden, hat uns niemand anders gegeben. Das kommt nicht von irgend einem Lehrer oder einer Freundin oder einem Freund oder von Vater und Mutter. Das kommt aus unserer eigenen Natur. So wie das Bewusstsein im dunklen Schlafzustand immer wieder dem Licht des Tages zustrebt, so erwacht in uns immer wieder das Bedürfnis nach Stille und Klarsicht. Sich diesem Bedürfnis verpflichtet zu fühlen und es in die Tat umzusetzen, ist meines Erachtens, das was zählt, auch heute.

Natürlich ist es legitim und verständlich, wenn wir uns hinsetzen, weil wir einfach einmal wieder Ruhe haben wollen, «herunterkommen» und uns um nichts kümmern wollen und was uns so ein Retreat-Tag sonst noch alles zu bieten hat. Aber das wird der Sache nicht ganz gerecht. Dazu könnten wir auch einen Tag frei nehmen oder Ferien in einem Wellness-Hotel machen.

Wahre Unabhängigkeit

Die wahre Botschaft, die Verheissung, die der echten Meditation innewohnt, ist das Erwachen des reinen Gewahrseins in diesem gegenwärtigen aber zeitlosen Dasein. Das Erwachen zum lebendigen Geist, der von nichts abhängig ist: von keiner Zeit, keinem Körper, keinem Ort. Das stille Staunen über die Enormität des Lebens, an dem hier und jetzt in unserer Körperlichkeit teilhaben, stellt sich nur im reinen Gewahrsein ein. Das ist das Wesen der Meditation, die von Buddha über Bodhidharma, die Patriarchen und alle anderen Vorväter und Vormütter bis hin zu Meister Sokei-an und H. Platov in unsere Ohren und Herzen ausgesendet wird.

Können wir zu dieser Unabhängigkeit, dieser Freiheit erwachen, sie in uns verwirklichen und weitergeben?

Das ist natürlich nicht die Unabhängigkeit einer Person, die sich dem, was ist, verweigert, entgegenstellt, in Pseudomeditation flüchtet oder in der Illusion schwelgt, das Leben lasse sich durch philosophische oder religiöse Überzeugungen meistern.

Es ist eine Unabhängigkeit von allen Streitereien in der Welt, von den andauernden Konflikten, von den persönlichen Stimmungsschwankungen, Sehnsüchten und Ängsten.

Ja, kann man so unabhängig sein von allen Gedanken und Gefühlen, die den Geist seit in seiner ursprünglichen Stille, Offenheit, Liebe und Lebensfreude, verdunkeln? Könnten wir die Unstabilität der akuten Unsicherheit, die das gewohnte Gefüge unserer Gewohnheiten durcheinander brachte, heute nutzen, um die fundamentalen, wahren Stabilität in uns zu finden?

Aufhören

Ja, es ist gut, dass ihr heute hier seid! Lasst uns nicht aufhören damit, gut hinzuschauen und ganz ehrlich zu werden mit uns selbst. Dann können wir etwas in uns entdecken, das uns zuflüstert: «Weiss du, da ist ein viel viel grösseres Geschehen am Werk, da sind Kräfte im Spiel, die du mit deinem Denken nie erfassen kannst.

Aber du kannst aufhören diesem grossen Geschehen im Weg zu stehen. Hör auf, immer Angst zu haben, immer besorgt zu sein um dich selbst: «Ui, werde ich sterben?» «Ui, was wird mir passieren?» «Ui, was passiert, wenn ich das und das nicht kann, wenn mich der und der nicht mag, wenn mich das und das stresst, wenn ich dieses oder jenes nicht mehr haben/tun kann?»

Es ist das Flüstern des grossen Lebensflusses, den die Weisen dieser Welt entdeckt und uns davon erzählt haben. Wir sind die momentane Wellen dieses Flusses. Aber hör auf, dich als Welle nur zu sehen, denn die endliche Wellen sind identisch mit dem unendlichen Fluss.

Bis ans endlose Ende

Aber sobald man denkt: «Jetzt hab ichs, jetzt kenn ichs, jetzt weiss ichs», dann gebe man sich einen ganz kräftigen Tritt in den Hintern! Denn erst wenn man nichts mehr weiss … wenn das totale «Nichts-mehr-Wissen» und das totale «Nicht-mehr-selber-Sein» zum Alltag wird, dann ist das wahre Ende erreicht. Aber davon weiss man dann natürlich auch nichts.

Unsere Wurzeln sind schon lange in diesem Nichts verankert. Wenn die Wurzeln spriessen, dann geschehen die Dinge wie von selbst. Und zwar die ganz gewöhnlichen, alltägliche Dinge. Nichts Grossartiges wird geschehen, keine Heiligenschein erscheint über unserem Kopf. Vielleicht finden lange Problem eine Lösung, auf die man nie gekommen wäre, Knoten lösen sich und Türen gehen auf, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt. Man kann es nie im voraus wissen.

Echte Meditation, echtes Zazen heisst also: Jetzt, hier, in diesem Moment: Mit den eigenen Augen schauen, mit den einen Ohren hören, mit dem eigenen Herzen horchen und gehorchen. Das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Und wenn man einmal gar nicht weiss, was zu tun oder zu lassen ist, dann tue man das, was werde einem selbst noch einem anderen Wesen schadet. So gesehen gibt es kein Ende, selbst wenn alle Dinge zu einem Ende kommen.

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