Zeit

zeit

Einleitung

Zu dieser Jahreszeit, mit ihrer Umstellung zur Sommerzeit, kann man leicht dazu verführt werden, über die Zeit nachzudenken. Vorausgesetzt, man hat die Zeit dazu. Die Meisten haben sie nicht, denn es gibt zu viele andere Dinge, worüber man nachdenken sollte, und nicht genug Zeit, ihnen allen gerecht zu werden. Es gibt keine Zeit, um über die Zeit nachzudenken.

Da ich sie habe, habe ich nun seit einiger Zeit über die Zeit nachgedacht, in der Absicht, diese zum Thema dieser Ausgabe von Dhyāna zu machen. Statt aber nur meine eigenen Worte wiederzugeben, ziehe ich es vor, andere, die sich bereits eloquent dazu geäussert haben, zu Wort kommen zu lassen.

– Robert

Buddhismus und Zeit

Die buddhistische Philosophie befasst sich nicht allzu sehr mit Spekulationen über die Zeit. Zeit existiert, wie vieles in dieser Welt, als ein Konzept. Und als Konzept ist sie ein Produkt des Denkens und sollte als solches behandelt werden.

Wenn der Buddha von seinen Schülern zu hypothetischen Themen befragt wurde, antwortete er meistens mit Schweigen, und auf die Frage, ob die Welt endlich oder unendlich sei, antwortete er:

„Ob die Welt endlich oder unendlich ist, begrenzt oder unbegrenzt, das Problem eurer Befreiung bleibt dasselbe.“

Die Frage, ob etwas endlich oder unendlich sei, entstammt einem an die Zeit gebundenen Geist; für einen zeitungebundenen Geist stellt sie sich gar nicht. Nur der denkende Geist involviert sich in solche Spekulationen. Spielt es wirklich eine Rolle, ob die Welt endlich oder unendlich ist?

In der Textsammlung Majjhima-nikaya findet sich ein Dialog zwischen dem Buddha und dem Mönch Malunkyaputta, welcher den Buddha einmal mit folgender Aussage konfrontierte:

„Wenn der Erhabene mir nicht erläutern will, ob die Welt ewig ist oder ob die Welt nicht ewig ist, (….) oder ob der Vollendete nach dem Tod lebt oder nicht lebt, dann will ich das religiöse Leben unter seiner Führung aufgeben und zum niedrigeren Leben eines gewöhnlichen Mannes zurückkehren.“

Der Buddha erwiderte:

„Ich bitte dich, Malunkyaputta, habe ich denn jemals zu dir gesagt: ‘Komm, Malunkyaputta, führe das religiöse Leben mit mir und ich will dir erläutern, ob die Welt ewig ist oder ob die Welt nicht ewig ist, (…) oder ob der Vollendete nach dem Tod existiert oder nicht existiert’?“

„Nein, wahrhaftig nicht, verehrter Herr.“

„Oder hast du jemals zu mir gesagt: ‘Verehrter Herr, ich will das religiöse Leben mit dem Erhabenen führen unter der Bedingung, dass mir der Erhabene erläutert, ob die Welt ewig ist oder ob die Welt nicht ewig ist, (…) oder ob der Vollendete nach dem Tod existiert oder nicht existiert’?“

„Nein, wahrhaftig nicht, verehrter Herr.“

„Somit ist klar, Malunkyaputta, dass weder ich dergleichen zu dir gesagt habe noch auch du dergleichen zu mir gesagt hast. In diesem Fall, eitler Mann, wen prangerst du denn so zornig an?“ Und der Buddha fuhr fort:

„Jeder, der sagen sollte: ‘Ich will das religiöse Leben nicht mit dem Erhabenen führen, bevor mir dieser nicht erläutert hat, ob die Welt ewig ist oder ob die Welt nicht ewig ist, (…) oder ob Vollendete nach dem Tod existiert oder nicht existiert’, diese Person, Malunkyaputta, würde sterben, bevor der Tathagata ihm dies jemals erläutert hätte.“

Ed: Der folgende Teil dieses Dialogs ist bekannt als:

Das Gleichnis vom vergifteten Pfeil

„Es ist, Malunkyaputta, wie wenn ein Mann von einem mit Gift bestrichenen Pfeil verwundet worden wäre, und seine Freunde, Kameraden, Familie und Verwandten besorgten ihm einen heilkundigen Arzt und der Verwundete würde sagen:

‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, wer jener Mann ist, der mich getroffen hat, ob es ein Krieger oder ein Priester, ein Bürger oder ein Bauer ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, wie der Mann, der mich getroffen hat, heisst und welchem Stamm er angehört.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob der Mann, der mich verwundet hat, gross gewachsen, klein oder mittelgross ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob die Hautfarbe des Mannes, der mich verwundet hat, schwarz, braun oder gelb ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob der Mann, der mich verwundet hat, in einem Dorf, in einer Burg oder in einer Stadt wohnt.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob der Bogen, von dem der giftige Pfeil abgeschossen wurde, ein kurzer oder langer war.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob die Sehne des Bogens aus Horn oder Draht, aus Bambus, Hanf oder Bast gefertigt ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob der Pfeil, der mich getroffen hat, aus Rohr oder aus Binse ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob die Federn am Pfeil, der mich verwundet hat, von einem Geier oder Reiher, Falken, Pfau oder einer Schnepfe stammen.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob der Schaft des Pfeils, der mich getroffen hat, mit Rindsleder oder Büffelleder, Hirschleder oder Affenleder umwickelt ist.’

Oder er würde sagen: ‘Ich will diesen Pfeil nicht entfernt haben, solange ich nicht weiss, ob die Spitze, die mich verwundet hat, gerade oder krumm oder hakenförmig ist, oder ob sie wie ein Kalbszahn oder wie ein Oleanderblatt gefertigt ist.’

Dieser Mann, Malunkyaputta, könnte noch so viele Fragen stellen, er würde sterben, ohne die Antworten zu kennen.

Ebenso, Malunkyaputta, würde jeder, der sagte: ‘Ich will das religiöse Leben nicht mit dem Erhabenen führen, solange mir dieser nicht erläutert hat, ob die Welt ewig ist oder ob die Welt nicht ewig ist’, sterben, bevor der Tathagata ihm dies jemals erläutert hätte.

Das religiöse Leben, Malunkyaputta, hängt nicht von der Ansicht ab, die Welt sei ewig, noch hängt das religiöse Leben von der Ansicht ab, die Welt sei nicht ewig. Ob die Ansicht gilt, die Welt sei ewig oder die Welt sei nicht ewig, Geburt, Alter, Tod, Sorgen, Klagen, Unglück, Trauer und Verzweiflung bleiben in jedem Fall bestehen; was ich darlege, ist deren Verlöschen in diesem gegenwärtigen Leben.

Das religiöse Leben, Malunkyaputta, hängt nicht von der Ansicht ab, dass der Vollendete sowohl existiert als auch nicht existiert nach dem Tod, noch hängt das religiöse Leben von der Ansicht ab, dass der Vollendete weder existiert noch nicht existiert nach dem Tod. Ob der Vollendete nach dem Tod sowohl existiert als auch nicht existiert oder weder existiert noch nicht existiert, Geburt, Alter, Tod, Sorgen, Klagen, Unglück,

Trauer und Verzweifung bleiben in jedem Fall bestehen; was ich darlege, ist deren Verlöschen in diesem gegenwärtigen Leben.

Dementsprechend, Malunkyaputta, bedenke immer, was es ist, wozu ich mich nicht geäussert habe und was es ist, wozu ich mich geäussert habe.

Und wozu, Malunkyaputta, habe ich mich nicht geäussert? Ich habe nicht erklärt, Malunkyaputta, die Welt ist ewig, ich habe nicht erklärt, die Welt ist nicht ewig; ich habe nicht erklärt, die Welt ist begrenzt; ich habe nicht erklärt, die Welt ist unbegrenzt; ich habe nicht erklärt, dass der Vollendete nach dem Tod existiert; ich habe nicht erklärt, dass der Vollendete nach dem Tod nicht existiert; ich habe nicht erklärt, dass der Vollendete nach dem Tod sowohl existiert als auch nicht existiert; ich habe nicht erklärt, dass der Vollendete nach dem Tod weder existiert noch nicht existiert.

Und warum, Malunkyaputta, habe ich all dies nicht erläutert? Weil dies nicht heilsam ist, Malunkyaputta, und nichts zu tun hat mit den Grundlagen der Religion; noch hilft es bei Ablehnung und ist nicht förderlich für das Verlöschen der Leidenschaften, für Stille, Einsicht, höchste Weisheit und vollständiges Erwachen. Deshalb habe ich mich dazu nicht geäussert.

Und was, Malunkyaputta, habe ich erläutert? Das Leiden habe ich erläutert, die Ursache des Leidens habe ich erläutert, die Aufhebung des Leidens habe ich erläutert und den Weg zur Aufhebung des Leidens habe ich erläutert.

Und warum, Malunkyaputta, habe ich all dies erläutert? Weil dies heilsam ist und zu tun hat mit den Grundlagen der Religion, weil es bei Ablehnung hilft und förderlich ist für das Verlöschen der Leidenschaften, für Stille, Einsicht, höchste Weisheit und vollständiges Erwachen. Deshalb habe ich mich dazu geäussert.“

Majjhima Nikaya 63. (VII,3) Cúlamálunkya Sutta

(Ed.: Es heisst, die Geschichte habe ein gutes Ende genommen, Malunkyaputta habe dem Buddha für seine Worte gedankt.)

Malunkyaputta sind wir alle. Er stürzt sich in die Konversation, indem er dem Buddha ein Ultimatum setzt: „Entweder gibst du mir Antworten oder ich verlasse dich und die Gemeinschaft.“ Der Buddha sieht, dass Malunkyaputtas Ego im Moment ein wenig hyperaktiv ist und demontiert seine Argumente und damit sein Ego brilliant.

Ein verbale Ohrfeige wie: „Eitler Mann, wen prangerst du denn so zornig an?“, würde vermutlich die meisten von uns hart treffen. So hart, dass wir wahrscheinlich nichts anderes mehr hören würden von Buddhas weiterer Darlegung. Malunkyaputta jedoch stürzte sich nicht in die Selbstverteidigung. Er nahm alles gelassen entgegen. In diesem Sinn ist Malunkyaputta nicht wir alle.

Zen und Zeit

Bodhidharma war ein buddhistischer Mönch (gest. 532), der von Indien nach China einwanderte und dort die Meditationsschule des Buddhismus verbreitete. Dies führte zur Entwicklung des chinesischen Ch’an-Buddhismus (auf Sanskrit Dhyāna, auf japanisch Zen). Bodhidharma gilt deshalb als erster Patriarch der Ch‘an-Schule.

Gemäss der Legende führte er bei den Mönchen des Shaolin-Klosters das Körpertraining ein, das als Shaolinquan oder Kung-fu bekannt wurde. Von ihm wird folgende Aussage überliefert:

„Die Natur des Geistes, einmal erkannt, kann durch keine menschliche Sprache erfasst oder enthüllt werden.
Erleuchtung kann nicht erlangt werden, und jemand, der sie erlangt, sagt nicht, er wisse.“

Übersetzt aus: The Zen Teaching of Huang Po, On the Transmission of Mind, translated by John Blofeld

Die Natur des Geistes, einmal erkannt, kann durch keine menschliche Sprache“ ergründet oder ausgedrückt werden. Verstehen ist also nicht eine Sache des Denkens, weil jede Sprache aus dem Denken hervorgeht. Wahres Verstehen ist nicht die Frucht eines Denkprozesses.

Erleuchtung kann nicht erlangt werden“, weil Erlangen ein Konzept ist. Etwas zu erlangen heisst, ein Ziel erreichen. Ein Ziel zu erreichen, erfordert die Erfüllung gewisser Vorgaben in einer gewissen Zeitspanne, d.h. in einem Prozess. Erleuchtung, in der Gegenwart präsent sein, ist kein Prozess. Entweder man ist es oder man ist es nicht.

Dogen und Zeit

Dogen war ein japanischer Zen-Meister. Er wurde in Kyoto geboren. Er gründete die Sōtō-Zen-Schule, nachdem er in China unter Meister Rujing die ursprüngliche Ch’an-Schule des Buddhismus studiert hatte. Er ist bekannt für seine zahlreichen Schriften, darunter Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, Shobogenzo. Diese enthält 95 Kapitel zum Thema buddhistische Praxis und Erleuchtung.

Im Kapitel Uji spricht Dogen über Zeit. Das Wort Uji kann unterschiedlich übersetzt werden, was oft für Verwirrung sorgt, wenn man Dogens Text liest. In der Einleitung zu seiner englischen Übersetzung von Shobogenzo sagt Norman Fischer zum Wort Uji folgendes:

Das japanische Wort uji, das normalerweise ‚zur gegebenen Zeit‘ oder zu dieser Zeit‘ bedeutet, kann je nach Kontext unterschiedlich übersetzt werden. In Zen-Geschichten findet man uji oft an der Stelle, wo es heisst, dass So-und-so erleuchtet wurde. Zum Beispiel: ‚In diesem Moment, uji, wurde er erleuchtet.‘ Dogen hebt hervor, dass man, wenn man solche Geschichten liest, dem in diesem Momentkeine Beachtung schenkt. Man richtet das Augenmerk nur auf den Dialog und die Erleuchtung. Man beachtet die Aussage, dass etwas zu einer gewissen Zeit geschieht, nicht. Dogen sagt, dass es aber bei der ganzen Sache um ‚diese Zeit‘, diesen Moment, geht. Das Entscheidende in der Geschichte ist nicht das, was die Leute sagen, der Drehpunkt ist ‚diese gegebene Zeit‘, dieser Moment.

Uji

Eine der Übersetzungen der ersten Zeilen von Uji lautet:

Ein früherer Buddha sagte:
Auf einem Berg stehen ist nur für einen Moment (Uji).
Auf den Grund des Meeres tauchen ist nur für einen Moment (Uji)
Ein Dämon sein ist nur für einen Moment (Uji).
Eine stehende oder sitzende Buddhafgur sein ist nur für einen Moment (Uji).
Der Wanderstock eines Mönchs sein oder sein zeremonieller Wedel ist nur für einen Moment (Uji).
Eine Tragsäule eines Tempels oder eine Laterne vor der Meditationshalle sein ist nur für einen Moment (Uji).
Ein Nachbar oder ein Mensch in der Strasse sein ist nur für einen Moment (Uji).

Die ganze Erde und der grenzenlose Raum sein ist nur für einen Moment (Uji).

‚Nur für einen Moment‘ (Uji) bedeutet, dass Zeit selbst Sein ist, und alles Sein ist Zeit. Ein Buddha ist selbst Zeit; weil er Zeit ist , hat er das strah- lende Licht der Zeit. Ihr solltet euch dies vergegenwärtigen während der zwölf Stunden eures täglichen Wachseins. ‚Dämon‘ ist Zeit; weil es Zeit ist, ist es nicht von den zwölf Stunden des Heute getrennt.“

Übersetzt aus: Norman Fischer: Shobogenzo by Great Master Dogen© 2007 Shasta Abbey

…nur für den Moment

Ein Dämon, Buddha oder ein Mensch in der Strasse sein – nur für den Moment – das sind alles Gedanken. Denken ist Zeit. Sein ist Zeit. Ich bin ein Dämon oder Buddha, während ich im Dämon- oder Buddha-Gedanken bin, ebenso gilt, ich bin ein Dämon oder Buddha, während ich in Dämon- oder Buddha-Zeit bin. Ich bin in meiner persönlichen Wirklichkeit in der nicht-persönlichen Wirklichkeit. Meine Dämon-Wirklichkeit ist nichts mehr als eine vorübergehende Antwort auf einen Moment der Wirklichkeit. Aber diese Antwort ist auch Wirklichkeit.

Dogen fordert uns auf, während zwölf Stunden dessen gewahr zu sein, den zwölf Stunden unseres Alltags. Lebe in zwölf Stunden chronologischer Zeit, ohne in zwölf Stunden psychologischer Zeit die Rolle eines Buddha oder Dämonen oder Menschen auf der Strasse zu spielen.

Der Haiku-Meister Matsuo Basho drückt die „zwölf Stunden der Gegenwart“ auf diese Weise aus:

„Mein Pferd
Klipp-klappend über die Felder –
Oh ho! Auch ich bin Teil des Bildes!“

Das Erkennen, dass man selber Teil des Bildes ist, kann sich nur einstellen, wenn man nicht damit beschäftigt ist, eine eigene Version des Bildes zu basteln, d.h. in Buddha/Dämonen-Zeit zu weilen. Hätte Basho seine eigene Teilhabe am Bild erkannt, wenn er über sein vom Sattel schmerzendes Gesäss lamentiert hätte?

Wir verbringen eine grosse Portion unserer Existenz mit Lamentieren über unseren schmerzenden Hintern und verlieren dadurch die Berührung mit der Tatsache von „auch ich bin Teil des Bildes“. Wir suchen lebenslang nach unserer Version der Wirklichkeit. Wie viele Versionen haben wir gefunden? Wie viele haben wir aufgegeben? Erschaffe ich einen neuen Buddha, während ich diesen Text lese?

Die Tyrannei der Zeit

Eine buddhistische Sicht der Quantenmechanik
Von Yongey Mingyur Rinpoche

Wenn man unsere Erfahrungswelt vom Standpunkt der Zeit betrachtet, kann man sagen, dass Tische, Wassergläser usw. tatsächlich in der Zeit existieren – allerdings nur aus einer relativen Sicht. Die meisten Menschen neigen dazu, sich die Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken: „Ich war an einer langweiligen Sitzung“, „Ich bin an einer langweiligen Sitzung“, „Ich werde an eine langweilige Sitzung gehen müssen.“

Doch wenn man an die Vergangenheit denkt, macht man eigentlich nichts anderes, als Erfahrungen abzurufen, die schon vorbei sind. Man ist nicht in der Sitzung. Die Vergangenheit ist wie ein Same, der in einem Feuer verbrannt wurde. Wenn er einmal verbrannt ist, gibt es keinen Samen mehr. Er ist dann nur eine Erinnerung, ein Gedanke, der durch den Geist huscht. Die Vergangenheit ist demnach nichts mehr als eine Idee.

Ebenso ist das, was man „Zukunft“ nennt, ein Aspekt der Zeit, der noch nicht stattgefunden hat. Man würde über einen Baum, der noch nicht gepfanzt ist, nicht so reden, als ob es sich um ein anfassbares, solides Objekt handeln würde, weil es keinen entsprechenden Kontext gibt; noch würde man über die eigenen Kinder, die noch nicht gezeugt sind, nicht so sprechen, wie über Menschen, mit denen man im Hier-und-Jetzt zu tun hat. Also ist auch die Zukunft nur eine Idee, ein Gedanke, der durch den Geist huscht. Was bleibt dann als aktuelle Erfahrung? – Die Gegenwart.

Aus der buddhistischen Sicht ist die Essenz der Zeit Leere, ebenso wie die Essenz von Raum und den Objekten, die sich im Raum bewegen. Jeder Versuch, Zeit oder Raum auf Grund kleinerer und noch kleinerer Intervalle zu defnieren, scheitert irgendwann. Wenn man diesen Punkt erreicht, begibt man sich in einen Erfahrungsbereich, der jenseits von Worten, jenseits von Ideen, jenseits von Konzepten ist.

„Jenseits von Ideen und Konzepten“ bedeutet nicht, dass der eigene Geist leer wird wie eine Eierschale oder dumpf wie ein Stein. Eigentlich geschieht genau das Gegenteil. Der eigene Geist wird weiter und offen. Man kann weiterhin Subjekte und Objekte wahrnehmen, jedoch mehr illusionäre: Man erkennt sie als Konzepte und nicht als aus sich selbst heraus existierende Dinge.

Quantengravitation und Quantenschaum

Ich wurde bekannt mit der Theorie der Quantengravitation, eine Untersuchung der fundamentalen Natur von Raum und Zeit. Diese stellt grundlegende Fragen wie: „Woraus sind Raum und Zeit gemacht? Existieren sie absolut oder entspringen sie aus etwas Fundamentalerem? Wie sehen Raum und Zeit auf einer sehr kleinen Skala aus? Gibt es eine allerkleinste Einheit von Raum oder Zeit ?

In den meisten Zweigen der Physik werden Raum und Zeit so behandelt, als ob sie unendlich, uniform und vollkommen gleichförmig wären: ein statischer Hintergrund, in dem sich Objekte bewegen und Geschehnisse stattfnden. Das ist eine sehr brauchbare Annahme, wenn es darum geht, das Wesen und die Eigenschaften von grossen Körpern der Materie und von subatomaren Partikeln zu erforschen. Aber wenn es darum geht, Zeit und Raum selbst zu untersuchen, ändert sich die Situation gründlich.

Auf der Ebene der menschlichen Wahrnehmung sieht die Welt scharf, klar und fest aus. Ein Brett, das von drei oder vier Beinen unterstützt wird, erscheint auf der Ebene der gewöhnlichen Wahrnehmung ziemlich eindeutig als Tisch.

Nun stellt euch vor, man würde ein materielles Objekt durch ein Mikroskop betrachten. Man würde vernünftigerweise erwarten, dass man mit zunehmender Vergrösserung ein schärferes, klareres Bild der dem Objekt zugrunde liegenden Struktur sehen würde. In Wirklichkeit geschieht jedoch genau das Gegenteil. Wenn man die Vergrösserung erreicht, in welcher man das individuelle Atom zu sehen beginnt, sieht man die Welt zunehmend „verschwommen“ und die meisten Regeln der klassischen Physik müssen zurückgelassen werden. Das ist der Bereich der Quantenphysik, in dem subatomare Partikel in allen möglichen Richtungen hin und her fattern und mit wachsender Frequenz in Erscheinung treten und verschwinden.

Fährt man fort die Vergrösserung zu verstärken, so dass man kleinere und kleinere Distanzen sehen kann, stellt man schliesslich fest, dass Raum und Zeit selbst zu fattern beginnen – Raum selbst entwickelt winzige Kurven und Kringel, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit erscheinen und verschwinden. Dies geschieht auf einer extrem kleinen Skala – so klein, dass ein Atom im Vergleich dazu unserem Sonnensystem entspricht. Dieser Zustand wird von den Physikern als Quantenschaum (engl. Spacetime Foam) bezeichnet. Man verstehe dies wie Rasierschaum, der aus der Distanz wie eine weiche Masse aussieht, aus nächster Nähe aber aus Millionen winzigen Bläschen zusammengesetzt ist.

Buddhisten finden in der Wissenschaft Freiheit

Für Buddhisten bietet die Beschreibung der Wirklichkeit der Quantenphysik ein grosses Mass an Freiheit, mit der die meisten Menschen nicht vertraut sind und die anfänglich etwas fremd und sogar beängstigend erscheinen mag. So sehr besonders westliche Menschen die Chancen der Freiheit hochschätzen, die Idee, dass der Akt des Beobachtens eines Geschehens dessen Verlauf auf zufällige, unvorhersehbare Weise beeinfussen kann, scheint dann vielleicht doch etwas zu viel an Verantwortlichkeit.

Es ist viel einfacher, die Rolle eines Opfers zu übernehmen und die Verantwortung oder Schuld für unsere Erfahrungen einer Person oder Macht ausserhalb unserer selbst zuzuschieben. Wenn wir die Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft jedoch ernst nehmen, dann müssen wir die Verantwortung für unsere von Augenblick zu Augenblick stattfndenden Erfahrungen selbst tragen.

Unser Gefühl für die persönliche Begrenzung und Verletzlichkeit würde allmählich durch ein Gefühl der Offenheit und Möglichkeiten ersetzt. Wir würden die Menschen um uns herum in einem völlig neuen Licht sehen – nicht als Bedrohung für unsere persönliche Sicherheit oder unser persönliches Glück, sondern einfach als Leute, die nichts von den unendlichen Möglichkeiten ihrer eigenen Natur wissen.

Weil unsere eigene Natur nicht beeinfusst wird von willkürlichen Unterscheidungen, dass etwas „so“ oder „so“ ist oder gewisse Fähigkeiten hat und andere nicht – könnten wir in der Lage sein, den Anforderungen jeder Situation, in der wir uns fnden mögen, zu entsprechen.

Auszug aus: The Joy of Living: Unlocking the Secret and Science of Happiness by Yongey Mingyur Rinpoche, an internationally renowned Tibetan Buddhist master who has opened the American Yongey Buddhist Center in California. Visit www.mingyur.org.

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft ….. lauter Ideen

“Unser Denken basiert auf gestern, vielen Tausenden von „Gestern“. Wir sind ein Produkt von Zeit und unsere Reaktionen, unsere gegenwärtigen Einstellungen sind die gegenwärtige Folge von unzähligen Augenblicken, Geschehnissen und Erfahrungen. Die Vergangenheit ist für die Mehrzahl von Leuten die Gegenwart. Das ist eine Tatsache, die nicht bestritten werden kann. Ihr selbst, euer Denken, eure Handlungen, eure Reaktionen sind die Frucht der Vergangenheit. Der Fragende möchte nun wissen, ob die Vergangenheit sofort ausgelöscht werden kann, d.h. nicht mit der Zeit, sondern sofort ausgelöscht.

Oder braucht der Geist Zeit, um von dieser kumulierten Vergangenheit in der Gegenwart befreit zu sein? Es ist wichtig, diese Frage zu verstehen, nämlich: Da jeder Einzelne von uns das Resultat der Vergangenheit ist, mit einem Hintergrund zahlloser, sich dauern verändernder und variierender Einfüsse, ist es da möglich, diesen Hintergrund auszulöschen, ohne den Prozess der Zeit zu durchlaufen?

J. Krishnamurti

Die Gedanken sind ein Resultat der Zeit, nicht wahr?

Lasst mich die Frage anders stellen: Die Gedanken sind ein Resultat der Zeit, nicht wahr? Gedanken sind ein Resultat der Umgebung, der sozialen und religiösen Einfüsse, welche alle Aspekte der Zeit sind.

Nun, kann das Denken frei sein von Zeit?

Das bedeutet: kann das Denken, als Resultat von Zeit, aufhören und vom Prozess der Zeit frei sein?

Das Denken kann kontrolliert, geformt werden, aber das Kontrollieren der Gedanken findet immer noch im Bereich der Zeit statt; unser Problem lautet also:

Wie kann ein Geisteszustand, der auf Zeit basiert, auf Abertausenden von „Gestern“, unmittelbar frei sein von diesem ganzen komplexen Hintergrund?

Man kann frei sein davon: nicht morgen, aber jetzt, in der Gegenwart.

Das kann nur vollbracht werden, wenn man das erkennt, was falsch ist,

und das Falsche ist offensichtlich der analytische Prozess.

Wenn der analytische Prozess vollkommen endet, nicht durch Zwang aber durch Erkenntnis seiner Falschheit,
dann ist der Geist völlig unabhängig von der Vergangenheit, – was aber nicht bedeutet, dass man die Vergangenheit nicht anerkennt, aber der Geist hat keine direkte Verbindung mit der Vergangenheit.

Geist kann sich also unmittelbar, gerade jetzt, befreien von der Vergangenheit, und diese Trennung von der Vergangenheit, diese vollkommene Freiheit vom Gestern, nicht chronologisch, sondern psychologisch, ist möglich.

Das ist der einzige Weg, um die Wirklichkeit zu erfassen.“

J. Krishnamurti “The First and Last Freedom” – Question 24

Manjushri

Diese unmittelbare Befreiung wird symbolisiert im Bild von Manjushri. Der Bodhisattva Manjushri repräsentiert die Weisheit von Prajna, der dem Geist innewohnenden intuitiven Erkenntniskraft, die nicht durch erworbenes Wissen oder Konzepte begrenzt ist.

manjushri
Manjushri

Manjushris dynamischstes Attribut ist sein Schwert, das Vajra-Schwert der differenzierenden Weisheit oder Einsicht. Dieses Schwert durchschneidet die Bande der Unwissenheit und der Verstrickung in das konzeptuelle Denken. Es schneidet Ego und selbstkreierte Hindernisse ab. Manchmal ist es in Flammen, was Licht oder Transformation symbolisiert. Es wird gesagt, dass das Schwert beides kann: Leben geben und Leben nehmen.

Sommer 2013

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