Die Ente

Die Ente – AWH, Tagesretreat Januar 2020

sleepingDuck Jan

Das erste Kalenderblatt dieses Jahres zeigt eine Ente. Wir haben das Jahr 2019 aufgehört mit einem Frosch und jetzt ist die Ente dran. Zufall?

Ich weiss es nicht; doch gewisse Themen und gewisse Schwingungen gehen halt immer weiter, egal, was unsere Kalender sagen.

Das Bild zeigt eine schlafende Ente, nicht wahr? So sieht es jedenfalls aus.

Lasst mich euch ein bisschen erzählen, wie dieses Bild zustande kam: An einem Nachmittag im August letzten Jahres spazierten Robert und ich am Zürichsee. Auf und neben dem See herrschte reger Betrieb. Es war einer jener Sommertage, der viele Leute ins Freie lockte.

Licht und Schatten

Im Schatten eines Schiffssteges, nahe am Ufer, hatten sich einige Enten zum Mittagsschlaf zusammen- gefunden. Doch eine davon befand sich offensichtlich in einer leichten Strömung, denn wir bemerkten, dass sie ganz langsam vom Schiffssteg weggetrieben wurde. Nach einigen Metern geriet ihr Körper aus dem Schatten ins Sonnenlicht. Kaum trafen die hellen Strahlen auf ihr Gefieder, hob sie ihren Kopf und paddelte schnurstracks zum Ausgangspunkt im Schatten zurück. Dort angekommen, steckte sie den Kopf unverzüglich wieder ins Gefieder und verfiel in das, was wir Schlaf nennen.

Es dauerte nur einige Augenblicke, bis der Körper wieder abdriftete und in die gleiche Richtung trieb wie zuvor. Kaum war die scharfe Grenze auf dem Wasser zwischen Schatten und Sonnenlicht überschritten, hob die Ente ihren Kopf und paddelte entschlossen zum Ausgangspunkt im Schatten zurück, wo sie den Kopf sofort wieder im Gefieder verbarg und in Schlaf verfiel.

Beim dritten Mal hatte Robert die Kamera bereit und machte einen kleinen Film über dieses Geschehen, das sich noch etliche Male wiederholte. Es war so lustig zu sehen, wie sich die Phasen zwischen Schatten und Licht – Kopf in den Federn und Kopf auf dem Hals – wiederholten.

Doch jetzt, wo wir einen Schnappschuss davon vor Augen haben, was sehen wir?…

Man mag es oberflächlich betrachtet immer noch «Ente» nennen. Doch ist das, was wir sehen, wirklich eine Ente?

Seht ihr das Spiel von Licht und Schatten? Die Grenzen zwischen Hell und Dunkel? Seht ihr diese Form, die sich aus diesem Wechsel von Hell und Dunkel ergibt?

Falls wir es immer noch «Ente» nennen wollen: Wo beginnt die «Ente» und wo hört sie auf?

Ist es eine Ente oder sind es zwei?

Und wo ist sie? Schwebt sie in grüner Luft? Oder auf einer grünen Fläche?

Ente oder Nicht-Ente?

Wenn man sich diesem Bild öffnet und es unvoreingenommen betrachtet, dann versteht man vielleicht die Worte, die das Kalenderbild begleiten, intuitiv, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Der erste Satz lautet:

«Es gibt Dinge, an die Gedanken niemals herankommen»?

Ist es nicht tatsächlich so, dass dieses Bild etwas in einem auslöst, das man nicht in Worte fassen kann?

Der zweite Satz sagt:

«Gefühl ist nicht mental, hat nichts zu tun mit Emotion.
Wenn man dies erlebt, sind Worte bedeutungslos.»

Die Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion ist fundamental wichtig, wenn man auf dem Weg der Meditation zur wahrhaftigen Realität unserer Existenz vorzudringen wünscht.

Man merke, ich spreche hier nicht von Meditation als eine Übung, die zu etwas Entspannung und Entlastung im täglichen Stress verhilft. Wir sind auch nicht an einer in unsere Kultur übertragene Praxis des Buddhismus interessiert. Ich spreche hier von Mediation, die unserem Bewusstsein tatsächlich einen Bereich jenseits von Worten öffnet.

Was wir hier sehen, ist keine Ente. Am Anfang stand die Wahrnehmung einer sogenannten Ente, aber was wir jetzt sehen ist eine Form, die gestaltet ist durch helle und dunkel Linien mit ihren Schattierungen und Farben.

Doch was ist die Realität?

Wir müssen weg davon, die Dinge mit den Gedanken und den Ideen und Vorstellungen zu betrachten und uns vorbehaltlos dem zuwenden, was ist. Echte Meditation ist die vollständige Hingabe an das ichlose, wortlose, allumfassende Sein; an eben den Geist, an den «Gedanken niemals herankommen».

Viele Menschen sitzen jahrelang, in ihrer Gedankenwelt. Sie haben alles Mögliche gelesen, glauben alles über Meditation zu wissen und zu verstehen. Aber echte Meditation kennen sie nicht.

Auch der Kopf muss mit

Im letzten Dharmavortrag des vergangenen Jahre haben wir dies anhand von Bashos wunderbarem Haiku vom Frosch betrachtet:

Der grosse Teich.
Der Frosch hüpft ins Wasser.
Plupp!

Wasser ist im Zen ein Symbol für den allgegenwärtigen Geist. Es hat keinerlei Form und kann deshalb alle Formen annehmen; es hat keine Farbe und kann deshalb alle Farben annehmen.

Analog dazu bedeutet Meditation das vollständige Eintauchen in den formlosen Geisteszustand.

Die klassische chinesischen Meditationsanleitung lautet: «Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein!»
Wobei Tao dasselbe ist, wie der universale, alles Leben erzeugende Geist, der jenseits von Denken und Reden wirkt.

Das heisst: Es gilt, wie der Frosch, ganz ins Wasser einzutauchen, auch mit dem Kopf.
Oder: Der Kopf soll, wie bei der Ente auf dem Bild, Teil des ganzen Ganzen sein und nur ins Spiel gebracht werden, wenn seine Fähigkeiten – die Sinne und das damit verbundene Denken — gebraucht werden.

Solange man dies nicht versteht und vollbringt, bleibt Meditation eine oberflächliche Angelegenheit ohne Kraft und Saft. Solange man dem Kopf die Sonderstellung einräumt, die er in Wirklichkeit nicht hat, und voller Furcht ist, man könnte ihn verlieren, solange kann man Gefühl und Emotion nicht unterscheiden.

Gemütswellen

Der Begriff «Emotion» basiert auf dem lateinischen Wort emovere mit der Bedeutung von «herausbewegen», «hervorwühlen». Emotionen sind Gemütsbewegungen oder seelische Erregungen; Reaktionen auf (bewusste oder unbewusste) Sinnes-Wahrnehmungen. Es sind gewissermassen psychische Wellen, die sich in Wort und Tat entsprechend der momentanen persönlichen Befindlichkeit ausbreiten.

Aber ohne ein Subjekt, das sich der Welt entgegenstellt, ohne ein Ich, das sich vom Ganzen abspaltet, gibt es keine Emotionen. Es braucht immer ein Ich, das etwas als schön, hässlich, schrecklich, liebenswürdig, begehrenswert usw. interpretiert und entsprechend emotional reagiert.

Der ichlose Geist in Ruhe erzeugt keine Emotionen.

Das Tao, das Wasser, ja die ganze die Natur, in der wir leben, sind absolut unparteiisch. Sie sagen nicht: «Ich liebe dich; ich hasse dich; du bist gut, der andere ist schlecht; dieses finde ich schrecklich – pfui – ; jenes finde ich wunderbar – toll!

Die Ente hat mir dies deutlich gezeigt: Sie hat nicht geschnattert, nicht geschimpft, hat sich nicht aufgeregt, ist nicht in Panik geraten, weil sie aus dem Schlaf geweckt wurde durch eine Empfindung auf ihrer Haut. Sie hat einfach den Kopf aus dem Gefieder genommen, um zu sehen, was ist und wo sie ist, und hat sich auf den Weg gemacht dorthin, wo sie zu dieser Zeit sein wollte, nämlich im kühlenden Schatten, wo es sich gut schlafen liess. Ich wette, sie hat auch nicht gezählt oder sich darüber aufgeregt, wie oft sie abgedriftet ist.

Und was machen wir, wenn wir aus dem Schlaf geweckt werden? Was machen wir, wenn wir mal weg- getragen werden und die Kontrolle verlieren?

Körperweisheit

Ich habe mich dann auch gefragt, warum und wie die Ente überhaupt gemerkt hat, dass sie abgedriftet ist. Was hat sie im Schlaf dazu bewegt aufzuwachen? Sie hätte ja weiter driften können – der Zürichsee ist gross. Was ist da passiert?

Das hat ihr das natürliche Körpergefühl gesagt. Die Wärme der Sonnenstrahlen auf der Haut schien das Signal zu sein. Es war nicht nötig, darüber nachzudenken. Im Gegenteil, der Kopf war völlig aus dem Spiel, versteckt in den Federn. Den brauchte sie nur ganz kurz, um sich dank seiner Sinne zu orientieren und auf kürzestem Weg zum schattigen Schlafplatz zurück zu paddeln. Das ging ganz flugs, ohne Gedanken dazwischen. Die ganze Ente war im ganzen Geschehen ganz und gar, mit Haut und Haar bzw. Federn eins. Der ganze Organismus, den wir Ente nennen, war präsentlebendigwach. Auch im Zustand, den wir Schlaf nennen!

Wir sind mit demselben Körpergefühl ausgestattet. Das ist unsere Natur. Unser Körper ist nicht das kompakte, begrenzte Gebilde, für das wir selbst ihn halten. Wir sind eine Ansammlung von Zellen, die ständig in Bewegung sind. Und wie ein Vogelschwarm in der Luft, sind unsere Zellen dauernd in Bewegung und erzeugen gemeinsam die Illusion von einer Form. Habt ihr schon gesehen, wie Vogelschwärme in der Luft Formen bilden, sich wieder auflösen und neue Formen bilden? Form ist ohne Substanz – auch dieser Körper ist ohne Substanz (Agetsu klopft sich auf den Körper). Wir sind in Wirklichkeit ein unendlicher Tanz der leeren, dynamischen Formkräfte der Natur.

Doch was bewegt den Tanz?

Universales Wissen

Das ist die entscheidende Frage: Was bewegt uns? Wovon sind wir bewegt? Der universale immerwährende Tanz von Entstehen und Vergehen in der Ente, im Frosch und in uns selbst steht unter der Regie der allgegenwärtigen universalen Weisheit der Natur. Er folgt immer dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alle Lebewesen haben einen inneren Kompass, der immer in die «richtige» Richtung zeigt. Die Ente musste nichts tun. Im richtigen Moment wusste sie, was zu tun ist.

Wir sind nicht anders als die Ente. Wir haben dieses Wissen, diesen Kompass. Es gibt ganz verschiedene Namen dafür: z.B. Intuition, Instinkt. In der Sprache des Zen sagen wir «Buddhanatur» oder «Herzgeist», Sokei-an prägte den Begriff «Intuitive Erkenntniskraft» dafür. Es ist das namenlose, ichlose, aber direkt erfahrbare Gefühl, das nicht aus dem Denken kommt, sondern ganz unabhängig davon funktioniert und wirkt. Im intuitiven Handeln gibt es keine Zeit, keine Unterscheidung, kein Subjekt und Objekt. Es umfasst immer die Ganzheit des gegebenen Augenblicks.

Wenn der Geist in Ruhe ist, kann er dieses Wunder betrachten und staunend erahnen: Ich bin das Wasser, die Ente, der Frosch, der Mensch und alles andere, was existiert, gleichzeitig, in diesem Moment. Wo ist da eine Grenze? Wo fange ich an, wo höre ich auf?

Dieses Gefühl, dieses intuitive Verstehen ist es, was unserem Leben den Zauber verleiht. Es ist das, was uns erlaubt, in jedem Mitlebewesen den Bruder und die Schwester zu erkennen und mit ihnen zu kommunizieren, wie es der Heilige Franz von Assisi tat.

Aber wie gesagt: Das kann nur geschehen, wenn der in Geist Ruhe weilt.

Keine Wellen erzeugen

Wir alle kennen dies. Warum schaut man so gerne kleinen Kindern zu oder spielenden Katzen, Hunden und anderen Tieren? Warum sitzt man so gern an einem rauschenden Bach oder betrachtet die Wolken am Himmel? Ist es nicht dieses unaussprechbare Gefühl, das uns ein Glücksgefühl beschert, für das man keinen bestimmten Grund angeben könnte?

Manche nennen es «Freude», «Glückseligkeit» oder «Frieden». Aber man sollte weitergehen. Selbst diese Worte sind zu viel. Sobald ein Gefühl benannt und definiert wird, wird es zu einer Emotion: Ah, wie schön …; ah, wie schrecklich …; wuuuunderbar …; ah, dieses … ah jenes ..! Dann wird es zu Wellen in unserem Gemüt, zu Sturm und Getöse! Wie kann da Stille sein?

Der Buddha sagt: Auch wenn man in der Meditation plötzlich ein allumfassendes Glücksgefühl erlebt, dann soll man die Hände davon lassen. Nicht benennen! Nicht «Ich» oder «mein» sagen dazu! Sonst bleibt man sofort daran kleben, und dann ist es schon kaputt. Kaputt im Sinne, dass man das ursprüngliche Erleben mit der Einmischung des persönliches Ichs sofort begrenzt und den eigenen Erwartungen und Wünschen gemäss schubladisiert.

Das Wissen der Natur zeigt sich uns auf Schritt und Tritt. Die Lebewesen wissen zu leben, entsprechend, dem was ist. Und das Leben geht immer weiter. Nur wir Menschen haben dieses Wissen nicht mehr; es liegt tief in uns vergraben, zugedeckt von dem trivialen Krimskrams, den wir für lebensnotwendig halten.

Würden wir – wie die Ente – diesem Wissen vertrauen, dann würden wir, – wie die Ente – den Weg auch im Schlaf nie verlieren. Dann würden wir uns, – wie die Ente – vom Wasser tragen lassen und wenn es Zeit ist zum Handeln, würden unsere Sinne – wie bei der Ente – rechtzeitig erwachen, sodass wir unseren Kopf aus den Federn nehmen und – wie die Ente – der Situation entsprechend, adäquat handeln können.

Die Natur walten lassen

Es ist so, wie wir es in einem unserer Tischsprüche sagen: «Wenn wir selbstlos sind, findet alles seinen natürlichen Weg.» Oder wie es im Tao-te-King von Lao-tse heisst (frei übersetzt):

Wer die Einheit allen Seins in sich selber fühlt,
kennt keinen Zwiespalt und lebt in Harmonie.
Wer wie ein Baby sanft atmend die innere Kraft sammelt,
lebt im Einklang mit sich selbst und allem, was ist.

Diese Worte wurden vor vielen Jahren in China gesprochen; am ganz anderen Ende der Welt, vor vielen Jahren. Ist da ein Unterschied zu heute, zu uns? Ist das Gesagte Zeit-gebunden, Ort-gebunden? Oder ist es einfach so, weil es so ist?

Babys werden oft benutzt als «Lehrer» für Meditation. Nicht weil sie so schön klar, spontan und lustig sind; davon wissen sie nichts. Aber, weil sie uns zeigen, was unsere wirkliche Natur ist. Auch wir sind als Baby geboren. Wisst ihr, wie kleine gesunde Babys atmen? Wisst ihr überhaupt, wie ihr selber atmet?

Ein Baby, so sanft und weich, kann stundenlang brüllen. Woher kommt diese Kraft? Ein Baby, so sanft und weich, kann zupacken. Ein Baby, so sanft und weich, kann von einer Sekunde zur anderen lachen und weinen, hält nichts fest – noch nicht.

Die Vitalkraft sammeln

Der Atem eines Babys ist im Bauch zentriert, nicht in der Brust. Die Tao-Meister und die Zen-Meister legen grossen Wert auf diese natürliche Weise des Atmens. Der Bauch, die Leibesmitte oder Hara ist das Zentrum der Lebenskraft, dort liegen fast alle für den Stoffwechsel zuständigen Organe und der körperliche Schwerpunkt. Meditierende sollten ihre Vitalkraft im Unterleib sammeln und aus dieser Mitte heraus sollten wir handeln. Immer! Das ist das Geheimnis eines erfüllten Lebens und der echten Meditation. Der Meditation, die nicht bloss zum Vergnügen oder zur Selbstoptimierung oder als Flucht betrieben wird. Nur die Meditation, die von allen Begrenzungen und Definitionen wegführt, ermöglicht die Erkenntnis des natürlichen Wissens, das in allen Lebewesen dasselbe ist.

«Die Einheit allen Seins in sich selbst zu fühlen, befreit von Zwiespalt und führt in Harmonie.»

Steckt den Kopf in eure Federn! Überlasst euch dem Fluss des Lebens! Atmet sanft im Unterleib! Gebt den Atem vollkommen frei, ffffffffffffffffffff! Strengt euch nicht an!

Unser Körpergefühl weiss, wann es Zeit ist, einzuatmen, und es gibt den Impuls zum Ausatmen! Seid nur Zeuge! Wir werden getragen von dieser Natur. Wenn wir aufhören, uns mit unserem Eigenwillen querzustellen, wenn wir uns völlig selbst vergessen, ist es egal, ob wir ein Frosch sind oder eine Ente oder ein Mensch. Aber als Mensch haben wir die Chance und das Glück, dies bewusst erleben zu können. Auch heute. Gerade heute!

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