Der Spiegel

Im vergangenen Monat habe ich etliche Rückmeldungen bekommen zu den beiden letzten Dharma-Betrachtungen, in denen das Sinnbild des Spiegels und des Spiegellabyrinths benutzt wurde, um dem Kern unserer Verwirrungen und Konflikten im Leben näher zu kommen und einen Ausweg zu finden.

Zur Abrundung dieses Themas folgen jetzt noch einige Bemerkungen zu Sinnbildern allgemein und dem Sinnbild von Spiegel und Siegelbild speziell mit Hinblick auf ihre Benutzung in der Zen-Lehre.

Zen ist ein Zweig des Buddhismus, in dem die direkte Erfahrung der Wirklichkeit ohne das Dazwischenfunken des Intellektes, d.h. jenseits von Sprache und Symbolen, angestrebt wird. Sinnbilder dienen dabei als Brücke vom gedanklichen, konzeptuellen «Verstehen» zur unmittelbaren Erfassen einer Wahrheit. Wie alles im Zen hat ein Hilfsmittel seinen Wert nur in einem bestimmten, gegebenen Augenblick. Das heisst: Ein Sinnbild macht entweder sofort Sinn oder nicht. Wenn es einem nichts sagt, macht es keinen Sinn, sich weiter dabei aufzuhalten.

Im Zen-Buddhismus steht der Spiegel für das reine Bewusstsein, das «leer» von Absichten, Erwartungen, Meinungen und allen anderen Gedankeninhalten ist. Der Spiegel spiegelt, was ist, sonst nichts, ohne«ich». Die Spiegelbilder stehen für die Gedanken, die das menschliche Bewusstsein auf Grund seines gewohnheitsmässigen, gewöhnlichen Denkens formt und dann für die Wirklichkeit hält.

Hier sind einige bekannte Beispiele, wie das Sinnbild des Spiegels in der Zen-Lehre benutzt wird:

Zuerst ein Beispiel aus der Gegenwart. Neulich sagte der Zen-Meister Sodo Harada, Abt des Sogen-ji in Okayama, Japan (mit SchülerInnen in der ganzen Welt) in einem seiner Teishos:

«Ein natürlicher, gesunder Geist (mind) ist frei von Haftungen, vergleichbar mit einem Spiegel. In einem Spiegel gibt es nichts, bevor ein reflektiertes Objekt auftaucht, und nichts bleibt, wenn das Objekt weg ist. Das Objekt fügt nichts zu, wenn es kommt, und nimmt nichts weg, wenn es verschwindet. Egal um welches Objekt es sich handelt, der Spiegel wird davon weder ‹sauberer› noch ‹schmutziger›. Die unmittelbare Wahrnehmung des direkten Geistes (direct mind) ist ähnlich wie dies. Bewusstsein funktioniert aber nur so, wenn es im Zustand des reinen Gewahrseins ist, offen für seine innere Wahrheit.

Im natürlichen Zustand ist der Geist frei vom Zwang zu denken, aber das heisst nicht, dass er nicht denkt. Die Leute verstehen dies oft falsch. Einfach den Denkprozess abzuschalten, ist eine Art geistiger Blackout. Ab und zu sagen Schüler zu mir: ‹Ich denke nichts›. Das ist schön, wenn der Geist ganz natürlich in der Stille zur Ruhe gekommen ist. Aber wenn das Denken bloss unterdrückt wird, ist das nichts anderes als die Ausblendung des Selbst und das Abschalten des Bewusstseinslichtes. Das hat im täglichen Leben keinen Nutzen.

Es ist natürlich möglich, das gewöhnliche Denken während des Zazens mit intensiver Konzentration anzuhalten; das ist wie bei einem Seiltänzer, der sich nur auf sein Tun fokussiert, während er auf dem Seil balanciert, aber sein gewöhnliches Denken wieder aufnimmt, sobald der Akt erledigt ist. Diese Art von Zazen ist falsch, sie führt bloss zu einer Spaltung des Lebens in eine Zeit, in der der Geist im Zazen zum Schweigen gebracht wird und der restlichen Zeit, in der der ‹Geist frei herumwandern darf›. Diese zwei Aspekte des Lebens haben keine Verbindung miteinander, so dass die Praxis auf den Meditationsraum beschränkt ist und im täglichen Leben nicht funktioniert.

Zazen ist keine konzentrierte Unterdrückung der Gedanken, sondern viel mehr eine Gewahrsein, so offen, dass es nicht in Gedanken verwickelt wird und nicht denken muss, wenn es nicht nötig ist. In seinem natürlichen Zustand ist das Bewusstsein etwas Fliessendes. Analytisches Denken mag nötig sein, wenn es darum geht, etwas von einem akademischen Standpunkt aus zu untersuchen, aber im tätlichen Leben steht es meistens im Weg.»

— Sodo Harada Roshi, 20. April 2018, aus dem Englischen übersetzt.

Und hier ist ein Beispiel aus der Anfangszeit des Zen. Es ist nachzulesen im Sutra des Sechsten Patriarchen, auch Plattform-Sutra genannt und im Buch aus der Reihe Der Springende Punkt mit dem Titel Das andere Ufer ist hier. Die Bemerkungen dazu sind von Meister Sokei-an.

In der Mitte des 7. Jahrhunderts lebte in China ein berühmter Meditations-Meister namens Hung-jen. Er trug den Titel Der fünfte Patriarch (von China) weil er als ein direkter Nachfolger der geistigen Übertragungslinie von Buddha galt. Als er merkte, dass seine Zeit als Vorsteher einer grossen Mönchsgemeinschaft ihrem Ende entgegen kam, beschloss er, nach einem würdigen Nachfolger zu suchen. Daher sagte er eines Tages zu seinen Mönchen: «Die Frage von Leben und Tod ist von grosser Wichtigkeit für jeden Menschen. Solange euer Geist in Täuschungen verharrt, kann euch Meditation und das blosse Streben nach einem guten Karma nicht retten. Geht in eure Klause und erforscht eure eigene wahre Natur. Demjenigen, der das wesentliche Prinzip des Buddhismus am klarsten erfasst hat, will ich die Kutte und das Dharma übergeben und ihn zum Sechsten Patriarchen erklären.»

Der Hauptmönch, Shen-hsiu, war einer der grossen Mönche jener Zeit und ein ehrlicher, bescheidener Mensch. Der Fünfte Patriarch hatte ihm bereits gewisse Lehrfunktionen übertragen. Seine Schüler liebten und vertrauten ihm. Als Vorsteher der ganzen Mönchsgemeinschaft fühlte er sich verpflichtet, die Aufgabe des Abtes zu erfüllen. Nach langem Überlegung und einigen Stunden Zazen, fasste er sein Verstehen schliesslich in ein Gatha*. Da er sich nicht getraute, es dem Meister direkt vorzutragen, schrieb er es heimlich an eine Wand im Flur des Tempels:

«Der Körper ist ein Bodhibaum,
der Geist ein blanker Spiegel,
Stunde um Stunde wische ihn sorgfältig ab, lass keinen Staub sich darauf niedersetzen.»

Bemerkung von Sokei-an: «Ein Spiegel ist von Natur aus rein. Sein Wesen ist wie der Himmel: leer, unendlich und grenzenlos. Auch ihr tragt diesen Spiegel des grenzenlosem Geistes in euch. Staub symbolisiert hier das Wirrwarr an Gedanken und Emotionen, das unser alltägliches Bewusstsein produziert. Dieses Füllmaterial ist wertlos und verursacht nichts als Schwierigkeiten, weil unser Gemüt vollkommen davon beherrscht wird. Säubert den Geist von diesen Inhalten!

Unser Geist sollte ein Werkzeug sein, das uns zur Verfügung steht. Statt ihr Bewusstsein wie ein Werkzeug der Erkenntnis zu nutzen, lassen sich die meisten Menschen von seinen Inhalten beherrschen und rennen wild in der Weltgeschichte umher.

Es ist wahr, dass der Körper wie ein Baum der Weisheit (Bodhi) ist. Wie jeder biologische Baum ist er aus den vier Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft zusammengesetzt, und trägt alles zum Leben notwendige Wissen in sich. Und es ist auch wahr, dass der Geist wie ein Spiegel ist. Aber zu sagen, man müsse ihn dauernd abwischen, damit sich kein Staub darauf niederlasse, trifft das Wesen der buddhistischen Erkenntnis nicht. Denn diese Einstellung impliziert, dass man sich nicht um die materielle Welt kümmern, aber immerzu den Seelenspiegel abwischen soll, bis er leuchtend klar ist und das absolute, reine Bewusstsein spiegelt. Dies ist eine als Transzendenz verkappte Weltverneinung und falsch verstandener Buddhismus. Sie wertet die materielle Existenz des Körpers ab.

Man findet die Auffassung, die Seele müsse gereinigt und sauber gehalten werden, in vielen Religionen. Es handelt sich dabei um eine rein menschliche Idee. Denn das ständige Abwischen des vermeintlichen Spiegels ist anstrengend und nicht natürlich. Schaut die Natur an. Weder Bäume noch Katzen noch Hunde wissen etwas von einer Seele, die zu reinigen wäre. Dennoch kann dieses Sinnbild vielen Menschen als erster Schritt zur Befreiung dienen. Die Befreiung beginnt mit der Übung der Achtsamkeit. Ohne die Achtsamkeit auf die Geistesinhalte kann man die Wahrheit nicht finden.»

Hui-neng, der damals als Laie im Tempel als Küchenhilfe beschäftigt war, erfuhr von der Aufgabe, die der Abtes seinen Mönchen aufgetragen hatte und dem Gatha von Shen-hsiu, das auf eine Wand im Tempel geschrieben stand. Da er nicht lesen und schreiben konnte, bat er einen Mönch, ihm den Text vorzulesen. Sobald er diesen gehört hatte, formte sich in ihm spontan ein eigenes Gatha. Er bat einen vorübergehenden Passanten, dieses für ihn auf dieselbe Wand neben das Gatha von von Shen-hsiu zu schreiben. Er diktierte:

«Weisheit ist kein Baum,
der Geist ist kein Spiegel.
Im Ursprung gibt es nichts,
wo könnte sich da Staub ansammeln?»

Bemerkung von Sokei-an: «Als Hui-neng das Gatha von Shen-hsiu hörte, wusste er sofort, dass es nicht der Wirklichkeit entsprach und antwortete spontan aus seiner eigenen Weisheit heraus.

Das Bewusstsein, das uns zu eigen ist, ist wie ein Spiegel. Aber es ist ohne Form und nicht identifiziert mit den Dingen, die es spiegelt.

Hui-neng, der keine Schulbildung hatte, verstand aus sich heraus, dass es im Ursprung – vor Vater und Mutter, vor der Erschaffung der Welt – nichts gibt. Wenn es nichts gibt, gibt es auch keinen Ort, wo sich Staub ansammeln könnte. Und er fragte: Gibt es überhaupt Staub?»**

Der Buddha lehrte, dass alles Leben Bewusstsein ist. Bewusstsein existiert in jeder Körperzelle. Das ganze Nervensystem, sämtliche Muskeln – alles ist Bewusstsein. Es gibt nichts, was nicht Bewusstsein ist. Wir nennen es die Urnatur. Wenn ich euch frage, was eure Urnatur ist, schliesst nicht die Augen. Öffnet sie und schaut mich an! Es ist eine menschliche Idee, dass man sein Bewusstsein sauber halten müsse. Wenn alles Bewusstsein ist, wie kann man es dann sauber halten? Könnt ihr in eben diesem Augenblick sehen, dass ihr im Zentrum des Bewusstseinsspiegels seid, und dass dieses Zentrum keine Peripherie, keine Grenze hat?

Die Urnatur, die sich in uns manifestiert, ist Menschennatur und allumfassende, universelle Natur in einem. Wenn man die Wirkungsweise der eigenen Natur versteht, versteht man die Wahrheit des Universums. Dieses Studium ist natürlich nie zu Ende.»

An einer anderen Stelle berichtet Sokei-an: «Vor langer Zeit stand ich einmal auf einer Holzbrücke zwischen Seattle und Tacoma im Staate Washington. Ich lehnte mich an das Holzgeländer und schaute ins Wasser. Da vergass ich plötzlich meine eigenen Augen und Ohren und sämtliche Sinneswahrnehmungen. Es gab nur immenses Bewusstsein, wie ein Spiegel; das ganze Universum ist darin enthalten und ich ruhte darin. Ich fühlte, dass alle Klänge von ihm gehört werden und nicht von meinen Ohren. ES weiss!»

* Ein Gatha ist ein Vers aus vier Zeilen. Die Zen-Praktizierenden bringen damit ihre eigene innere Erfahrung und Erkenntnis zum Ausdruck. Um ein wahres Gatha zu schaffen, muss die Erfahrung wahr sein.)

** Auf Grund dieser Begebenheit, wurde Hui-neng zum Sechsten-Patriarchen ernannt. Unter seinem Einfluss begann sich Zen als eine eigene Schule des Buddhismus zu etablieren. Das direkte, intuitive Erfassen der Wirklichkeit jenseits von Worten und Symbolen und der spontane Ausdruck davon im alltäglichen Leben ist das «Markenzeichen» der Zen-Praxis.

Dharma-Betrachtung: Der Spiegel Mai 2018, A. Wydler Haduch

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