Standpunkte

eyeOfTheStorm

Einleitung

Diese Nummer von Dhyāna handelt von den verschiedenen Standpunkten, aus denen wir Menschen unsere Welt erleben und interpretieren. Die einzelnen Artikel widerspiegeln Erfahrungen, die uns in letzter Zeit beschäftigten und inspirierten. Wir betrachten dabei vor allem die unerwarteten Ausblicke und Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man die Perspektive wechselt. Möge einiges davon auch in Euch ein Echo finden.

Das Auge des Wirbelsturms

Als „Auge“ bezeichnet man in der Meteorologie das nahezu windstille Zentrum eines Wirbelsturms. In der empirischen Geisteswissenschaft, d.h. der Wissenschaft, die durch Introspektion den eigenen Geist erforscht, symbolisiert das Auge des Wirbelsturms den unbewegten inneren Raum in einem aufgeregten, sich um sich selbst drehenden Gemütszustand.

Im Auge eines meteorologischen Wirbelsturms herrscht fast vollständige Windstille und Sonnenschein, während im Sturm selbst hohe Windstärken und Wolkenbrüche alles aufwirbeln, was nicht niet­ und nagelfest ist. Dieser Kontrast vom „inneren“ und „äusseren“ Bereich eines Wirbelsturms symbolisiert die unerschütterliche Stille, die mitten in einem menschlichen Gemütschaos erfahren werden kann.

Viele Menschen leiden unter einer ständigen Unruhe und Unzufriedenheit und suchen einen Ausweg in der Meditation. Von ihnen höre ich oft Fragen wie:

Wo ist dieses innere Auge?

„Wie durchbreche ich die hohe Wand von sich jagenden Gedanken? Wo ist dieses innere Auge vom Hurrikan, wo alles stillsteht und ruht?“

In diesem Fall möchte ich die Gegenfrage stellen: „Wo suchst du nach dem Auge des Hurrikans? Ist das Auge woanders als der Hurrikan?“

Solange „Ich das Auge des Hurrikans suche“, solange sind der „Hurrikan“, das „Auge“ und „Ich“ getrennte Dinge, genauer drei verschiedene Vorstellungen, nicht wahr? Irgend etwas wühlt die Gedanken und Gefühle auf, und statt zu schauen, was den Tumult verursacht, flüchtet man in die Theorie von „Hurrikan und sein Auge“ und sucht nach einem „stillen Ort“ ausserhalb des Tumults.

Dieses Vorgehen ist zum Scheitern verurteilt. Weshalb? Weil es keinen Hurrikan gibt, der von seinem Auge getrennt ist. Wo ein Auge des Hurrikans existiert, da exis­tiert ein Hurrikan. Wo ein Hurrikan existiert, da existiert ein Auge. Und es gibt kein „Ich“, das von seinem Hurrikan getrennt ist.

Gedanken und Emotionen sind Bewegung

Gedanken und Emotionen sind Bewegung innerhalb des eigenen Geistes. Wenn man sich damit identifiziert, wird man davon mitbewegt und hat keine Handlungsfreiheit. Das nicht­persönliche Gewahrsein – die geistige Basis sämtlicher Wahrnehmungen – bewegt sich nicht und reflektiert Bewegungen vergleichbar mit einem Spiegel. Dank seiner Stille kann es die Gedanken und Emotionen in ihrem Entstehen, Wirken und Vergehen „sehen“ und dank seiner „Unbewegtheit“ oder Passivität bekommen die Gedanken und Gefühle keine Nahrung und lösen sich auf. Nichts und niemand kommt zu Schaden. Wenn das Gewahrsein aber durch die aufgeregten, mentalen Aktivitäten der Person, für die „Ich“ mich halte, gestört und überdeckt wird, dann bleibt diese heilsame Wirkung aus. Der Gefühls­ und Gedankensturm nimmt dann einfach seinen Lauf, bis seine Energie von selber aufgezehrt ist. Allerdings kann es sein, dass dabei manches in die Brüche geht und sehr viel Gerümpel herumfliegt.

Jeder kann dies selber nachprüfen.

Sokei-an sagt

Bei Sokei­-an findet sich eine hier passende Erinnerung. Er berichtet:
„Als ich jung war, besuchte uns ein alter Mönch aus dem Norden Japans. Er war be­ unruhigt darüber, dass er keinen Ruhm erlangt hatte und bloss Abt eines kleinen Dorftempels geblieben war. Doch seine Belehrung half mir sehr. Er sagte: „Stell dir die Meditation sinnbildlich vor.

  • Erstens: Der Körper ist wie die Erde, halte ihn in der Meditation still. Verursache kein Erdbeben!
  • Zweitens: Dein Geist ist wie das Was­ser, sanft und beweglich. Verursache keinen Sturm darin!
  • Drittens: Deine Emotionen sind wie Feuer. Halte sie in Schach! Entfache keine Feuersbrunst!
  • Viertens: Deine unterbewussten Regungen sind wie die Luft. Bleibe wach, aber lass keinen Tornado aufkommen.
  • Fünftens: Das Universalbewusstsein ist wie der Äther. Es ist transpa­ rent. Solange sich diese fünf großen Elemente nicht in Stille vereinen, kannst du kei­ ne Freiheit erlangen. Deshalb führt das Stillsitzen, wenn die geistige Unruhe nicht beseitigt wird, zu nichts.“ So hat mich jener Mönch belehrt.“

Nicht die Geschehnisse in der Welt sind die Ursache für „meine“ Unruhe und „mein“ Leiden, sondern der Fakt, dass „ich“ darauf beharre, diese Geschehnisse aus der Perspektive der launischen, nie zufriedenen, immer etwas anderes suchenden Person heraus zu interpretieren und mich damit identifiziere.

Daher: Dass beste Mittel für einen festen Stand auch bei Sturm und Regen ist das Verweilen im ruhigen Gewahrsein. Das gelingt aber nur, wenn man diesen Zustand pflegt, und zwar so, dass er mehr und mehr den Platz des persönlichen Ichs be­ kommt. Auf die Frage nach der besten Art der Meditation pflegte der Engländer A. Crowley zu sagen: „Setz’ dich hin, halt’s Maul und geh’ raus.“ (Eight Lectures On Yoga , 1939, Kap. 4)

Was bleibt dann übrig? – Auch dies kann jeder nur für sich selbst entdecken.

Deshalb: Wenn ein Hurrikan entstanden ist, dann betrachte ihn genau. Um was für ein Zentrum dreht sich die Luft? Was wirbelt sie auf?

Wenn du dies siehst, dann bist du im Auge des Hurrikans. Aber es ist niemand da, der dies weiss.

Aus Lehm formt man Gefässe doch erst die Leere, das Nichts, ermöglicht den Gebrauch.

Dreissig Speichen treffen sich in der Nabe, doch erst der Leerraum in der Mitte macht das Rad nutzbar.

Man baut ein Haus aus Mauern, durchbrochen von Fenstern und Türen. doch erst der leere Raum darin macht das Haus bewohnbar.

Durch die Materie, das Sichtbare, erhalten die Dinge ihre Form. durch das Unsichtbare, die Leere, erhalten sie Sinn und Wert.

Tao te king in der Übersetzung von M.L.Bergoint & K. Holitzka (Urania)

Peekaboo* – siehst du mich?

Bist du jemals beim Lesen oder in einem Gespräch auf eine Idee gestossen, die dich nicht mehr losgelassen hat? Eine Idee, die an jeder Ecke auf dich wartete, dich in die Ferse biss, bis du ihr endlich die nötige Aufmerksamkeit schenktest? Der folgende Satz von Sokrates fiel mich vor einiger Zeit auf diese Weise an und sorgte für allerlei „mentale Beschwerden“:

Ein Ding wird nicht gesehen, weil es sichtbar ist, sondern umgekehrt, es ist sicht­ bar, weil es gesehen wird.“

oder anders gesagt:

Ein Ding wird nicht gesehen, weil es sichtbar ist, sondern umgekehrt, es ist sichtbar, weil es gesehen wird.“

Die Augen empfinden; der Geist sieht. Der Geist sieht Dinge, die er vorgängig er­ kannt hat. Was das Auge wahrnimmt, wird im Geist mit der Erinnerung an eine glei­ che oder ähnliche Erscheinung verknüpft. Wenn eine Übereinstimmung zwischen dem Sinneseindruck und einer Erinnerung besteht, sieht man ein Bild des Gegen­ standes vor sich. Dieses Bild wird auf das, was das Auge wahrgenommen hat proji­ ziert und schon ist das Ding sichtbar.

Kinderspiel

Dies erinnert mich an ein Spiel, das wohl viele aus der Kindheit kennen: Es gilt, ein Objekt zu finden, das in einem anderen, komplexeren Objekt oder in einer Land­schaft verborgen liegt. Oder man bekommt nur einen Teil eines fotografierten Gegenstandes zu sehen und soll den Rest aus dem Gedächtnis ergänzen. Es ist inter­ essant, das Funktionieren des eigenen Geistes zu beobachten, während er versucht, ein solches Puzzle zu lösen. Beobachte einfach die Bewegungen der Gedanken, die falschen Anläufe, die Ratlosigkeit. Oder schau, wie schnell und automatisch das Objekt benannt wird. Und achte auf das Gefühl, das entsteht, wenn du die Lösung gefunden hast. Dieses Gefühl ist der Grund, warum man überhaupt solche Spiele spielt, nicht wahr?

Es gibt viele Gelegenheiten für diese Betrachtung. Sitze z.B. still in einem ruhigen Zimmer und schaue zu, wie der Abend zur Nacht wird und sich die Formen im Zim­ mer dabei verändern. Wann folgt eine Form auf eine andere? Wann wird der Tisch mit den spindeldürren Beinen zu einer Spinne mit spindeldürren Beinen? Das Licht, dass durch die schräggestellten Lamellen des Rollladens dringt, wirft allerlei Schatten an die Wand. Ist es noch eine Wand?

Wann beginnen die verschieden Formen zu verschwinden?

  • Wenn ich keine Namen mehr habe für die Gegebenheiten, welche die Augen wahrnehmen?
  • Wenn ich nichts wieder­erkenne, weil ich es vorher nicht erkannt habe?
  • Wenn es vollkommen dunkel ist?
  • Wenn ich merke, wie töricht es ist, in dieser wunderbaren Stille zu sitzen und davon getrennt zu bleiben, bloss weil ich damit beschäftigt bin, das ewige Spiel des Benennens mit mir selbst zu spielen? Das Universum kümmert sich keinen Deut darum. Es bewegt sich weiter und ich habe, wie gewöhnlich, den Zug verpasst.

90° gedreht

In letzter Zeit war ich mit Computer­generierten Bildern beschäftigt, wobei ich ein 3D­Programm benutzte (mehr dazu unter „Virtueller Sandkasten“). Auf dem Bildschirm befand sich ein Bild in der Entwicklung. Wegen seiner Komplexität dauerte es für den Computer 3 bis 4 Minuten, um den Prozess abzuschliessen. Statt einfach vor dem Computer zu sitzen und auf den Bildschirm zu starren, stand ich auf und machte etwas Yoga. Während ich mich aus einer tiefen Seitendehnung aufzu­ richten begann, fiel mein Blick zufällig auf den Bildschirm. Das Bild war nun voll­ ständig entwickelt. Wegen der Position meines Kopfes in der seitlichen Dehnung, sah ich das Bild nicht horizontal, sondern aus einer um 90° gedrehten Perspektive.

Aus dieser Perspektive sah ich ein völlig anderes Bild als zuvor. Warum änderte sich meine Sicht des Bildes, aber nicht meine Sicht seiner Umgebung (der Bildschirm z.B. veränderte sich nicht)? Wäre dem ebenso gewesen, wenn ich dem Bild einen Namen gegeben hätte, bevor sich die Augenstellung verändert hatte? Als ich das Bild wieder horizontal betrachtete, stellte sich seine ursprüngliche Form nicht wieder ein. Ich sah immer noch dasselbe Muster wie in der Seitenlage. Mit er­ heblicher mentaler Anstrengung versuchte ich, das Bild in seiner anfänglichen Per­ spektive zu sehen. Ohne Erfolg …. vielleicht hätte eine Dehnung in der entgegenge­ setzten Richtung die Register wieder zurückgesetzt. :­)

Was ist der springende Punkt von all dem?

Der springende Punkt ist: „Der Mensch sieht, was er will, und missachtet den Rest“, wie es in einem Lied von Paul Simon heisst. Die Geisteshaltung, mit der ich einem Moment begegne, entscheidet, was ich sehe. Es ist eine reziproke Beziehung; je weniger eng die Geisteshaltung ist, d.h. je kleiner die Beteiligung des „Ichs“, umso grösser ist das Wahrnehmungsfeld. Wenn der Geist nicht mit der Beschwörung von Bildern aus dem Bodensatz der Erinnerungen an vergangene Augenblicke beschäf­ tigt wird, hat man die Freiheit, den gegenwärtigen Augenblick zu sehen. Der Geist ist offen. Er kümmert sich nicht um die Namen der Dinge. Er sieht das ganze Puzzle und nicht nur Teile davon. Man beginnt die Vernetzung von allen Erscheinungen zu sehen und zu verstehen – Indras Netz.

Für viele von uns ist diese Haltung beängstigend, denn sie bedeutet, die Welt zu sehen, ohne sie mit der persönlichen Glasur zu überdecken. Habe ich z.B. die Gewohnheit, bei allem einem Mangel zu sehen, dann müsste ich diese Haltung auf­ geben – aber nicht indem ich sie mit ihrem Gegenteil ersetze. Eine Meinung mit einer anderen zu ersetzten, führt zu Konflikt. Dann ist der Geist in sich gespalten, weil er eine Wahl trifft. Wie weiss man, was aufgegeben werden muss und was nicht? Wie fängt man den Wind ein?

Alles ist in Bewegung

Alles ist in Bewegung. Es ist ein Sumpf; je mehr man sich dreht und wendet, desto tiefer sinkt man. Wir alle kennen dies. Man muss sich jedesmal, wenn man etwas sieht, selbst ermahnen, das Positive zu sehen, und wenn man nichts Positives findet, das einem passt, besser zu schweigen. Alle diese Überlegungen brauchen Zeit. Und wenn man von einem dieser geistigen Kreuzzüge zurückkehrt, ist alles beim Alten. Der Augenblick ist längst vergangen, aber ich bin immer noch damit beschäftigt zu entscheiden, was ich davon halten soll. Lächerlich, aber wahr.

*Peekaboo (auch geschrieben Peek­a­boo) ist ein Spiel, das mit Kleinkindern gespielt wird. Die ältere Person verdeckt ihr Gesicht mit ihren Händen, nimmt sie plötzlich weg, schaut in das Gesicht des Kindes und sagt „Peekaboo!“ und fügt manchmal hinzu „Ich sehe dich“ . ­ Wikipedia

Indras Netz

Indras Netz ist ein Sinnbild für den inneren Zusammenhalt aller Lebensformen und Phänomene des Universums. Es geht zurück auf die Legende vom indischen Gott Indra, der u.a. die Aufgabe hat, das Weltall zu schützen. Dazu baute er ein weltumspannendes Netz, das in jedem Knoten ein leuchtendes Juwel enthält. Jedes Juwel spiegelt jedes andere, d.h. kein Juwel steht für sich allein, jedes repräsentiert sämtliche anderen Juwelen. Eins ist alle, alle sind eins.

Dieses Sinnbild wurde zu einem Eckpfeiler von Buddhas Lehre vom „wechselseitig bedingten Entstehen aller Phänomene“ – „Wenn das besteht, so entsteht jenes. Durch das Entstehen von jenem wird dies hervorgebracht. Wenn jenes nicht ist, so entsteht auch dies nicht. Durch das Aufhören von jenem wird dieses beendet.” –. Eine ausführliche Darlegung dieser grundlegenden Wahrheit findet sich im Avatamsaka­Sutra, einer Schrift der zum Mahayana­ Buddhismus gehörenden, in China entstandenen Kegon­ Schule.

Indras Netz ist auch eine ausgezeichnete Analogie für das Wesen von Hologrammen: Jeder Punkt eines Hologramms enthält sämtliche Informationen aller anderen Punkte. Viele Naturwissenschaftler benutzen heutzutage dieses Modell u.a. zur Erklärung der Funktionsweise sowohl des Kosmos als auch des menschlichen Gehirns.

Die Vorstellung von einem Netzwerk, das alles mit allem verbindet, führte auch zur Geburt des Internet. Und der Zen­Meister Thich Nhat Hanh münzte für die Charakterisierung der realen Lebensumstände in unserer Welt den Begriff „Intersein.“ Es ist demnach ein grosser Irrtum zu glauben, es gäbe irgend ein Lebe­wesen, irgend ein Ich, dass allein aus sich selbst heraus existieren und agieren kann.

Stille

„Im Mondlicht fegt der Bambusschatten die Treppe die ganze Nacht lang, doch kein einziges Staubkorn wird bewegt.“ – Zen­Vers

Es ist tiefe Nacht. Du bist wach und schaust aus dem Fenster. Es ist still, nur ein leichtes Lüftchen bewegt die Zweige der Bäume im Garten. Kannst Du es sehen? Wie der Schatten eines Astes über den Gartentisch fegt? Hin und her, hin und her – die ganze Nacht lang. Aber die Herbstblätter, die seit Tagen auf dem Tisch liegen, bewegen sich keinen Millimeter.

Ähnlich bewegen wir uns tagein und tagaus, immer beschäftigt, immer busy. Tage­ lang, wochenlang, monatelang, jahrelang, ein ganzes Leben lang. Doch wenn wir zu­ rückschauen: Wo sind die Tage, Wochen, Monate, Jahre geblieben? Was haben wir in der Hand als Resultat unserer ständigen Aktivität? Was ist geworden aus all den Dingen, die wir bewegt, umgeschichtet, neu geordnet, gekauft, verkauft, gebastelt, verschenkt und verloren haben?

Nichts ist geblieben, die Hände sind so leer, wie sie immer waren.

Was wäre dann der Sinn meines Lebens?

Für unser gewöhnliches Denken, das davon ausgeht, dass jeder Mensch eine Person mit einem beständigen Ich ist, also etwas Konkretes mit einem Anfang und einem Ende, mag die Idee, das nach einem ganzen langen Leben nichts übrigbleibt, fremd oder sogar beängstigend sein. Was wäre dann der Sinn meines Lebens? Wozu sich anstrengen mit Beruf und Familie, wenn am Ende nichts verändert ist? Wozu all die Freuden und Leiden erdulden? In der Tat wird die Frage oft gehört: „Was ist der Sinn des Lebens, wenn man am Ende doch stirbt und nichts übrig bleibt?“

Wie bereits angedeutet, macht diese Frage nur dann Sinn, wenn sie auf der Annahme basiert, dass „Ich“ etwas „bin“, das ein Leben „hat“, in dem es gilt, ein oder mehrere Ziele zu erreichen. In der Regel beinhaltet dieses Ziel, sich möglichst viel anzueig­ nen, möglichst viel zu tun, um möglichst viel zu gewinnen. Als allgemein angestreb­ te Ziele gelten etwa: Erfahrungen sammeln, einen guten Platz in der Gesellschaft er­ kämpfen, Vermögen anhäufen, Sicherheit erlangen oder bewahren etc. Wir alle leben mit dieser Annahme, dass unsere Person, unser Ich existiert und die Herrschaft über unser Leben innehat, nicht wahr? Aber ist es die Wahrheit?

Wahrheit?

Wie kann man den Wahrheitsgehalt dieser menschlichen Grundannahme beweisen? Indem man einfach nachvollzieht, was Alle sagen und tun, im Sinne von „Die Masse kann doch nicht falsch sein“? – Aber welche „Masse“ hat recht? Diejenige, deren Führer uns den Himmel als Lohn für die Mühen auf Erden versprechen? Oder diejenige, die in den Todesanzeigen verspricht, „Du wirst in unseren Herzen für immer weiterleben“? Oder diejenige, die eine Wiedergeburt in einem nächsten Leben predigt, wo dann alles wieder von vorne beginnen kann?

Irgendetwas geht hier nicht auf. Zu viele verschiedene Szenarien, zu viel Spekulation!

Um den Wahrheitsgehalt von menschlichen Ideen zu prüfen, kann man nicht diese Ideen selbst benutzen!

Was dann?

Ich frage: „Wie wäre es, das Leben selbst nach seinem Sinn befragen?“ „Aber das Leben versteht doch meine Sprache nicht.“ , antwortest du. „Versteht es dann deine Frage nach dem Sinn?“

Sackgasse!

Die Frage nach dem „Sinn meines Lebens“ existiert nur im eigenen Kopf und nur der eigene Kopf kann darauf eine Antwort basteln. Alles, was man darüber hört oder liest ist bedeutungslos, Nachplapperei, ein Secondhandprodukt.

Manche bleiben in dieser Sackgasse gefangen und fragen weiter: „Wenn mir das Leben meine Sinnfrage nicht beantworten kann, was hat es dann für einen Wert?“

Wenn der von mir definierte Sinn des Lebens seinen Wert bestimmen soll und umgekehrt der Wert dem Leben einen Sinn, dann wird das Problem verdoppelt. Dann wird man sein Leben lang nach dem Sinn und Wert des Lebens suchen, den es in Wahrheit nirgends ausserhalb des eigenen Denkens zu finden gibt. Und dieses ändert sich andauernd.

Ich frage noch einmal

Ich frage noch einmal: „Wie wäre es, das Leben selbst nach seinen Sinn fragen?. Aber nicht mit diesen Worten, nicht mit diesen gedanklichen Voraussetzungen?“

Statt davon auszugehen, dass „ich weiss, was und wie das Leben sein soll“ und mir dieses „Wissen“ immer wieder zu bestätigen oder zu beweisen versuche, könnte man vielleicht den Spiess einmal umkehren und anerkennen, dass dieses ganzes „Wissen“ angelernt und anerzogen ist und nicht aus erster Hand, nicht aus eigener Erfahrung kommt. Nur wenn man die Natur des Leben, in dem man lebt, vorbehaltlos beobachtet – Augenblick um Augenblick – mit den eigenen Augen ganz genau hinschaut, mit den eigenen Ohren hinhorcht, mit den eigenen Händen zupackt, mit der eigenen Nase atmet, mit dem eigenen Denkorgan denkt, kann man das Leben er­ leben.

Manche haben dieses Abenteuer gewagt – und spontan in Worte gefasst, was sie erkannt und für wahr empfunden haben. Der eingangs zitierte Satz ist ein Beispiel dafür: „Im Mondlicht fegt der Bambusschatten die Treppe die ganze Nacht lang, doch kein einziges Staubkorn wird bewegt.“

Manche Menschen denken

Manche Menschen denken, wenn sie sich von der Vorstellung von einem definierten „Sinn des Lebens“ trennen und nichts festzuhalten versuchen würden, würde nur ein dunkles Nichts übrigbleiben. und sie verlieren darob ihre Lebensfreude, (die sie allerdings schon auf Grund ihrer anstrengenden Suche nach dem Sinn weitgehend verloren haben). In Wahrheit würden sie sich höchstens von den selbstzentrierten Ideen des Ichs entfernen. Dementsprechend ist das „Nichts“, das sie so fürchten, nur ein gedankliches Nichts.

Der Verfasser des zitierten Zen­ Verses hat in der nächtlichen Stille, in der er offenbar nicht schlief, gesehen, dass es ein Nichts gibt, das sich dank dem Bambus, dem Mond, der Sonne, dem Staub und dem menschlichen Gewahrsein manifestiert! In diesem Nichts entpuppt sich die Fülle des Daseins als ein ununterbrochenes Zusammenspiel von Geschehnissen, die in gegenseitiger Abhängigkeit sichtbar werden und wo es kein einziges Individuum gibt. Gleichwohl: Das ist das Leben.

Dasselbe Verstehen äussert sich auch in den zwei folgenden, bedenkenswerten Aussagen. Die erste wird von einem tödlich verletzten Samurai überliefert, die zweite sagt es mit Worten aus der heutigen Zeit:

„Zum Glück bin ich bereits gestorben, andernfalls würde ich mir jetzt Sorgen machen oder mich vielleicht ängstigen.“

„Von allem ‘Müssen’ und ‘Sollen’ befreit, erfreute er sich seines Lebens, und als er nach langen Jahren starb, gab es nichts, das ihn zurückhielt.“

Sommer 2012

standpunkten
Standpunkte
Nach oben scrollen