Sīla u. Spiegelweisheit

sīla

Einleitung

Sīla enthält eine Kostprobe eines Kapitels aus dem im Entstehen begriffenen neuen Buch von Robert mit dem Titel: Der Edle Achtfache Pfad. Es wir einen ähnlichen Stil haben wie Form ist Leere ist Form und ist gewissermassen eine Fortsetzung davon.

Spiegelweisheit ist ein Ausschnitt aus einer Serie von Dharma-Betrachtungen von Agetsu im Rahmen der monatlich stattfinden Tagesretreats.

Wir wünschen Euch eine erhellende Lektüre und einen schönen Sommer. — Robert und Agetsu

SĪLA

EIN ZUSTAND DES SEINS

«Śīla oder Sīla ist ein Kode, der den Vorsatz für eine Lebensführung in Harmonie und Selbstdisziplin zum Inhalt hat. Die prinzipielle Motivation ist es, niemandem Gewalt anzutun oder Leid zuzufügen. Das Sanskrit- und Paliwort Sīla wird vielfach als Tugend, rechte Lebensführung, Sittlichkeit, moralische Disziplin oder Gebote umschrieben. Gemeint ist das achtsame und bewusste ethische Verhalten in Übereinstimmung dem Edlen Achtfachen Pfad. Im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich mit «Moral» verbunden wird, ist Sīla ein innerer ethischer Kompass für einen selbst und für die Beziehungen mit anderen. Die buddhistischen Kommentare erklären das Wort Sīla denn auch mit dem Begriff Samadhana, was «Harmonie» oder «Gelassenheit» bedeutet.»

Wenn man den Edlen Achtfachen Pfad gehen möchte, empfiehlt es sich, diesen weglosen Weg mit Rechten Reden zu betreten. Normalerweise sind unsere mentalen und physischen Lippen von morgens früh bis abends spät in Bewegung. Reden ist eine unserer Hauptbeschäftigungen, nicht wahr? Wir können nicht aufhören zu reden. Die Gesellschaft verlangt dies. Ein stiller Mensch gilt als verschlossen; ein schweigender Mensch ist dieses und jenes, aber er ist keiner von uns; er ist nicht Teil der Gruppe. So ist es doch, oder? Wir reden nicht nur laut mit uns selbst und anderen, wir reden auch stumm zu uns selbst, wenn wir allein sind. Damit beweisen wir uns unsere eigene Existenz. Das ist offensichtlich. Wo bin ich, wenn ich aufhöre mit mir selbst zu reden? Existierst ich noch? Würde man aufhören, mit sich selbst zu reden, könnte man — zum ersten Mal — die Welt als das sehen, was sie ist … Harmonie.

Rechtes Reden

Was Rechtes Reden nicht ist: Lügen; Zwietracht sähen; beleidigen; müssiges Geschwätz.

«Was machst du», frage ich meinen Freund, als wir zusammen im Tram Nr. 7 zur Arbeit fuhren.»

«Ich stelle meine Zähler zurück», sagte er mit einem verhaltenen Grinsen und zeigte mir ein rundes Gerät am Handgelenk mit einem LED-Bildschirm und vier Knöpfen an der Peripherie.

«Zähler wofür?» frage ich etwas zögernd. Ich war nicht sicher, wie genau ist die Antwort wissen wollte, aber meine Neugierde hatte den Zweifel bereits übertrumpft.

«Ach soo, ja …», sagte er, «Wie du weisst, bin ich neuerdings sehr an der Lehre Buddhas interessiert.» Ich nickte. Er sagte: «Eines der Elemente des Achtfachen Pfades ist Rechtes Reden.» Ich nickte abermals. Vor einer Woche hatte mein Freund mir im gleichen Tram Nr. 7 die Elemente von diesem Bissen von Buddhas Erkenntnis dargelegt. Nun fuhr er etwas verlegen lächelnd fort:

«Ich fragte mich, wie oft ich wohl die Grundzüge des Rechten Redens schon verletzt habe mit meinem Denken und Sprechen und wie aufmerksam ich in dieser Hinsicht bin. Also kaufte ich mir diesen digitalen Zähler, um meine offensichtlichen Entgleisungen im buddhistischen Sinn, so wie ich es verstehe, zu zählen.» Ich lächelte ihm zustimmend zu und fragte, wie es mit dem Zählen gehe.

«Am Anfang des Experimentes waren die Zahlen ziemlich hoch: Viel müssiges Geschwätz, dann zivilisiertes Schmähen, nicht allzuviel direkte Lüge, aber doch ein beträchtliches Mass an Falschheit in Form von herablassendem und zänkischem Gerede.» Er sagte dies, ohne zu zögern. Seine Ehrlichkeit beeindruckte mich. «Und nun?», wagte ich zu fragen.

«Aber jetzt, nachdem ich ein paar Tage lange beobachtet habe, was in meinem Kopf vorgeht, werden die Zahlen kleiner. Solange ich auf mein Denken achte, kann ich einen aufkommenden Gedankengang umleiten oder sterben lassen, bevor ich auf den Zähler drücken muss. Mehr und mehr wird das Nicht-Rechte-Reden ersetzt durch etwas, das im Augenblick Wert hat, oder, was noch besser ist, durch Schweigen.»

Wir beendeten unsere Fahrt ohne weitere Worte. Ich konnte nicht feststellen, ob mein Freund einen Knopf auf seinem Zähler drückte, obwohl ich heimlich versuchte, es zu sehen.

• Lügen

Die Synonyme für das Wort «Lüge» beinhalten: Verleumdung, Täuschung, Trug, Fälschung, falsche Behauptung, Unwahrheit, Schwindel, Verzerrung, Hinterhältigkeit, Betrug, Unehrlichkeit, Tatsachenverdrehung, Übertreibung, Arglist, Irreführung, Mogeln, Verheimlichung, Zerrbild.

Eine Lüge ist eine unwahre Aussage, die mit der bewussten Absicht der Täuschung gemacht wird. Man beachte den Ausdruck «bewusste Absicht». Was will ich erreichen? Was ist meine Absicht? Was ist es, das ich nur durch eine Verdrehung der Wahrheit erreichen kann? Aber was noch wichtiger ist … warum? Warum mache ich das?

Ich meine, lügen ist für die meisten unter uns eine automatische Reaktion auf eine Situation. Vielleicht haben wir das als Kind gelernt, wenn eine Autoritätsperson uns mit etwas konfrontiert hatte, das in ihren Augen falsch war. Niemand liebt Schmerzen, egal ob sie verbal oder körperlich ausgelöst werden. Eine Lüge, und sei es bloss eine kleine, unschuldige Lüge, nimmt uns aus der Schusslinie. Möglicherweise sind wir sauf diese Weise schmerzhafter Schelte oft genug entkommen, so dass die Technik ein Teil unseres Verteidigungsmechanismus wurde und leider auch ein Teil unseres karmischen Gepäcks.

Das Gute an der Sache ist, dass alle diese kleinen Lügengebilde unser Bewusstsein durchqueren müssen. Und wenn man sich bemüht, darauf zu achten, was sich im Geist abspielt, kann man erkennen, wenn sie sich zu entfalten im Begriff sind. Im Moment, wo man den Prozess durchschaut, fällt die ganze Struktur zusammen und kann einen nicht länger beherrschen. Man kann diese Befreiung deutlich spüren und man staunt, wenn man es sich erlaubt, zu staunen.

Lügen = eine bewusste Handlung

Für die Anderen wird lügen womöglich zu einer ständigen Karriere. Wobei lügen ein absichtsvoller, bewusster Akt ist und nicht bloss eine automatische Reaktion auf eine Situation. Wenn man sich jemals in die Lage brachte, in der man auf eine erste Lüge mit neuen, grösseren Lügen nachziehen musste, um ein Image oder eine Beziehung aufrechtzuerhalten, dann weiss man, wie schwierig es ist, diese selbstgeschaffene Situation zu bewältigen. Es besteht immer die Gefahr, dass man ein winziges Detail der letzten Lüge vergessen hat, so dass die nächste Lüge nicht ganz stimmt. Ist die Energie, die Mühe und das Risiko einer potentiellen Blossstellung es wert, eine derartige Farce aufrechtzuerhalten?

«Viele Leute meinen, ein Lügner gewinne einen Sieg über sein Opfer. Gemäss meiner Erfahrung ist eine Lüge ein Akt der Abdankung seiner selbst. Man opfert die eigene Wirklichkeit derjenigen Person, die man belügt; man macht diese Person zu seinem Meister, man verurteil sich dazu, von nun an die Realität vorzutäuschen, welche die Sichtweise der anderen Person vorgibt… Wer die Welt belügt, ist fortan der Sklave der Welt. Es gibt keine kleinen, harmlosen Lügen; es gibt nur verheerende Destruktion und eine kleine Lüge richtet den grössten Schaden an. — Ayn Rand, Atlas Shrugged

Dann gibt es auch die Lüge gegenüber sich selbst. Diese zerstörerische Selbsttäuschung führt mit der Zeit so weit, dass die eigene Sicht der Dinge in totalem Widerstreit mit der Realität steht. Das Leben wird zu einem ständigen Kampf darum, einen Status quo aufrechtzuerhalten, der sich nicht halten lässt, weil sich alles immer wandelt. Das Leben gemäss den eigenen Ideen und Wünschen kontrollieren zu wollen, ist eine zum Scheitern verurteile Sisyphusarbeit.

Leider nehmen wir alle mehr oder weniger Teil an dieser Scharade. Warum machen wir das? Warum belüge ich mich selbst? Warum erzähle ich mir selbst Geschichten über mich selbst? Warum werde ich zornig, wenn andere Leute meine Sicht der Dinge nicht teilen? Was will ich erzeugen, was behalten? Weiss ich überhaupt, dass ich das tue?

• Zwietracht sähen

Die Synonyme für den Begriff «Zwietracht sähen» beinhalten: Uneinigkeit und Missstimmung schaffen, Feindseligkeit und Streit verursachen.

Man beachte die Worte «schaffen/verursachen».

Was will ich erreichen?

Welchen Plan habe ich?

Was erhoffe ich mir von diesem Tun?

Wir befanden uns im Tram Nr. 7 auf dem Heimweg von der Arbeit. Mein Freund starrte ausdruckslos aus dem Fenster und schwieg. Es war offensichtlich, dass ihn etwas beschäftigte. Etwas, das auf dem Weg zur Arbeit am Morgen noch nicht da war. Es war kein friedliches Schweigen. Ich konnte fast spüren, wie es in ihm kochte. Ich versuchte, mich in seine Stille einzuschleichen mit der leichten Bemerkung, wie lieb mir die doch hölzernen Sitze im alten Tram Nr. 7 sind im Vergleich zu den Stoffsitzen in den neueren Trams.

«Ja,» sagte er «Man macht dauernd Vergleiche.»

«Was ist falsch daran» fragte ich? «Das war bloss eine blöde Bemerkung, um dich aus deinem Kokon zu holen. Du bist schon die ganze Zeit still», fügte ich bei.

«Tut mir leid», antwortete er, «Ich hatte heute eine lange Auseinandersetzung mit meinem Vater über seine Bevorzugung seines Enkels Paul auf Kosten des anderen Enkels Ronald. Ich habe dir ja schon von meinem Sohn Paul erzählt; Ronald ist der Sohn meines Bruders. Die beiden sind etwa gleich alt und gute Freunde.»

«Und, was hat dein Vater gesagt?»

«Er sagte, er wisse nicht, wovon ich rede. Ich gab ihm dann einige Beispiele, wo seine zum Himmel schreiende Vorliebe offensichtlich war. Ich wies ihn darauf hin, dass sein Umgangston mit den beiden Jungen, aber auch zwischen meinem Bruder und mir, zu Spannungen führe.»

«Und?», fragte ich.

«Ich sage ihm, dass es wegen seiner seit Jahren bestehenden Vorlieben zwischen meinem Bruder und mir schon oft zu heiklen Situationen gekommen sei. Ich fragte ihn, warum er das tue? Warum er uns immer vergleichen wolle und dann den einen dem anderen vorziehe?

«Und?», fragte ich.
«Und nichts! Er stritt alles ab und hängte auf.»

Wir alle kennen dies. Ein Lehrer, Coach, Verwandter oder Freund spielt jemanden aus der Klasse oder aus der Familie gegen einen anderen aus. «Warum bis du nicht so wie er/sie?» «Wenn du so wärst, wie deine Schwester, dann …». «Du bist genau wie der nutzlose …». Das passiert andauernd. Meistens sind die Motive dahinter verborgen. Warum machen wir das? Wissen wir es? Ist es so wichtig, meine Meinung zu äussern auf die Gefahr hin, ein anderes Wesen oder mich selbst zu verletzen?

Man könnte natürlich sagen: «Ach, wenn die andere Person nicht so selbstbezogen wäre, würden ihr solche Bemerkungen nichts ausmachen. Dann würden meine Bemerkungen an ihr ablaufen, wie das Wasser vom Rücken einer Ente.» Umgekehrt könnte man dann natürlich auch sagen: «Ach, wenn ich nicht so selbstbezogen wäre, hätte ich nicht den Drang, meine Zwietracht säenden Meinungen anderen oder mir selbst lauthals kundzutun.» Oder etwa nicht? Dieses Spiel ist nicht zu gewinnen. Aber es ist sehr populär heutzutage. Ist es nicht Gang und Gäbe in den Unsozialen Sozialen-Medien (USM) und in den Mainstreemmedien (MSM)? Wo wohnt diese Zwietracht? Warum gibt man Zwietracht einen Zufluchtsort? Weiss man es? Jeder kann die Antwort nur für sich selbst finden. Wo beginnen wir mit der Suche nach der Quelle?

• Beleidigung

Synonyme für das Tätigkeitswort «beleidigen» sind u.a.: beschimpfen, geringschätzen, herabsetzen, lästern, anfeinden, verletzen, verteufeln, bedrohen, verunglimpfen, verleumden, pöbeln.

Beleidigende Worte findet man nicht nur in der groben Sprache von diversen Internetforen. Auch nicht nur in den einschlägigen Schimpfworten, die sich manche Mächtigen dieser Welt regelmässig gegenseitig oder ihren Bürgern an den Kopf werfen. Dazu gehören auch feindseligen Sätze, die unter der Rubrik «Small Talk» bei einer Tasse Kaffee unter Freunden ausgetauscht werden. Wie zum Beispiel die Worte, in die ich meine Meinung einpacke, um einen nicht anwesenden Arbeitskollegen zu diffamieren und zu verleumden. Es gibt viele Variationen dieser Art von Rede, und bloss weil man sie nicht mit voller Lautstärke ausspricht, heisst das noch langen nicht, dass sie nicht beleidigend sind.

Rückgratlose Cyberschnecken

Die heutige Gesellschaft, die ganz auf die relative Anonymität des Internets ausgerichtet ist, ist eine offene Pandorabüchse voller beleidigender und feindseliger Rhetorik. Leute, die sich nie getrauen würden, in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht Schimpfworte zu gebrauchen, fühlen sich nun frei, ihren Mist im Cyberspace zu verbreiten, ohne Furcht, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es scheint manchmal, wir Menschen wissen nicht Besseres mit unserem Geist zu tun, als dubiose Worte aneinanderzureihen, um dubiose Gedankenschlachten mit dubiosen Feinden um dubiosen Angelegenheiten auszufechten. Müssen wir es der Evolution überlassen, dies zu beenden? Oder endet die beleidigende Rede dann, wenn Manjushris Schwert die Wurzeln dieser fortwährende wachsenden Gedanken-Schlingpflanze, die uns von Bodhi trennt, ein für alle Mal durchschneidet?

• Müssiges Geschwätz

Wir verschwenden einen guten Teil unseres Wachzustandes mit «müssigem Geschwätz». Am häufigsten schwafeln wir mit uns selbst. Meistens diskutieren wir mit uns selbst über uns selbst. Nicht verbal, aber mental. Wir haben viele wichtige Dinge zu besprechen, nicht wahr? Bevorzugte Themen sind wie ich aussehe; wie ich mich heute fühle im Vergleich zu gestern; wie ich rieche; das Problem mit dem Haarausfall; was ich heute essen werde; was ich von diesem und jenem oder von dieser oder jener Person halte; wie es mit meiner Meditation geht; wie es mit meiner Meditation nicht geht … Diese schriftliche Liste kann ad infinitum fortgeführt werden. Sie ist bloss ein triviales Beispiel für Geschwätz auf Papier. Eine Zuhörerschaft, die sich von müssigem Geplapper verzaubern oder fesseln lässt, ist für viele Leute ein begehrter Artikel. Denn, ist das nicht das A und O der Unsozialen Sozialen Medien?

Es kann recht interessant sein — vorausgesetzt man achtet darauf — neben Jemandem zu sitzen, der/ die plötzlich laut ausspricht, was vorher still in seinem/ihrem Geist herumspazierte. Es gibt auch Leute, die jeden Gedanken in ihrem Kopf aussprechen. Dann kann man unbemerkt zuhören, wie die Pros und Kontras einer Gedankenkette aufgebaut werden und, normalerweise, ins Leere führen. Denn die Themen wechseln ständig. Aber Achtung: Man versuche nicht, in eine derartige «Konversation» einzusteigen. Das würde schieres Chaos erzeugen. Man hat da nichts zu suchen.

Es ist ein interessanter Einblick in die mentale Komödie, die man gewöhnlich für Denken hält. Aber wir selbst verhalten uns natürlich nie so … also müssen wir uns keine Sorgen machen, oder?

Eine Frage, die man sich inmitten all diesem müssigen Geschwätz stellen könnte, ist die: «Wie wäre es, wenn ich einfach zu plappern aufhören würde? Was würde mit «mir» passieren? Wer willens ist, diese Frage selber zu beantworten, dem gibt der Edle Achtfache Pfad das Rüstzeug dafür.

Ein alter Zen-Meister pflegte zu sagen:

«Achte darauf, was aus deinem Mund kommt. Es ist ein Spiegel deines Geistes. Bevor du etwas sagst, bedenke diese vier Elemente: Zeit, Ort, Situation und Mass. Ist es die passende Zeit dies zu sagen? Ist es der passende Ort? Bin ich in in der passenden Position? Und auf welcher Art und Weise ist es zu sagen?»

Man schreit ja auch nicht einfach mitten in einer vollen Disko «FEUER», bloss weil man das «Recht auf freie Rede» hat.

Lügen; Zwietracht sähen; beleidigen; müssiges Geschwätz, sie alle haben ihre Wurzel in unserem Verlangen, nämlich im Verlangen jemand oder etwas zu sein oder nicht zu sein.

«Wenn ihr schlafend durchs Leben geht, wächst das Verlangen in euch wie eine Schlingpflanze im Urwald.
Ihr hüpft wie Affen von Baum zu Baum, ohne eine Frucht zu finden –
Leben um Leben, ohne Frieden zu finden.» — Dhammapada – Desire, nach T. Byrom

SPIEGELWEISHEIT

In der Dharma-Betrachtung vom März habe ich die Verstrickung in unsere eigene kleine Gedanken- und Gefühlswelt mit einem Spiegelkabinett verglichen. Im Zen-Buddhismus steht der Spiegel für das Bewusstsein, das «leer» von Absichten, Erwartungen, Meinungen und allen anderen Gedankeninhalten ist. Der Spiegel spiegelt das, was ist, und sonst nicht. Er ist ohne «ich».

Die Spiegelbilder stehen für die Gestaltungen, die unser menschliches Bewusstsein auf Grund seiner Sinneswahrnehmungen und deren Interpretation formt. Wohin wir auch schauen, wir sehen alle Dinge, inkl. uns selbst, immer nur so, wie wir es gewohnt sind und für wirklich halten. Und dies in vielfacher Multiplikation; soweit unser Gesichtsfeld reicht. Wir halten für echt und wahr, was uns unsere Sinne zutragen.

Spiegelwänden

Wir wissen nicht, dass es sich um illusorische Bilder handelt, die von den Spiegelwänden des menschlichen Geistes (mind) erzeugt werden. Wir wissen nicht, dass das, was wir für unsere Welt halten, ein Schattentheater in einem leeren Raum ist. Wir streiten und kämpfen mit unwirklichen Gebilde; wir lieben und suchen Beständigkeit in sich ständig wandelnden Erscheinungen. Und so stossen wir immer wieder gegen diese Wände an, die uns von der Wirklichkeit trennen. Frustriert irren wir umher und suchen nach einem Ausweg aus den immer gleichen, sich ewig erneuernden Irrungen und Wirrungen in unserem Alltags.

Nach diesem Vortrag gab es Einige, die das Spiegellabyrinth im Gletschergarten von Luzern besuchten und ein paar interessante Beobachtungen machten. Jemand berichtete z.B. lachend, dass es unmöglich gewesen sei, den Ausweg in den Spiegelwänden zu sehen; es sei jedoch kein Problem gewesen, als sie den Blick von den Bildern weg auf den Boden und die eigenen Füsse gerichtet habe. Durch diese Entdeckung, basierend auf ihrer eigenständigen, körperlichen Erfahrung, — nichts, das vorgängig gelesen oder gehört wurde, — hat die Berichterstatterin aus sich selbst heraus eine Wahrheit erkannt, die grosse Weltlehrer wie der Buddha, Krishnamurti und andere, uns oft vergeblich nahezubringen versuchten.

Nämlich: Man findet den Ausweg aus der Gefangenschaft der Gedankenwelt mit ihren Sinnestäuschungen nicht, wenn man ihn mit Gedanken über eben diese Gedankenwelt sucht. Der Weg zeigt sich in den Tatsachen, im So-Sein der gegebenen Situation. Wenn man diese beobachtet und akzeptiert, ohne an Vorurteilen und Meinungen zu haften, dann kann man sehen, wo es lang geht. Es ist nicht ohne Grund, dass über dem Eingangstor mancher Zen-Klöstern die Worte stehen: «Schau’, wo du hintrittst!»

Achtsamkeit

Die Achtsamkeit auf die eigenen Füsse — die reelle Wirklichkeit hier und jetzt — das achtsame Gehen und Handeln — Schritt um Schritt — ist der Weg aus der Gefangenschaft des mentalen Spiegellabyrinths. Diese Achtsamkeit aufzubauen und zu erhalten fällt uns eigenwilligen Menschenwesen sehr schwer. Deshalb stolpern wir immer wieder über die eigenen Füsse und fallen auf die Nase. Statt uns von den natürlichen Gegebenheiten leiten zu lassen, lassen wir uns gedankenlos treiben von unserem Wollen und Nicht-Wollen, von Ungeduld, Misstrauen, Vorstellungen.

Achtsamkeit wächst aus der inneren Stille; innere Stille wächst aus Besinnung; Besinnung wächst aus innerer Stille, innere Stille wächst aus Achtsamkeit. Das ist das Geheimnis der Meditation.

Wer den Ausweg aus seinem individuellen, engen Spiegelkabinett gefunden hat, betritt einen grösseren Raum. Wieder «im Freien», kann man entdecken, wie sehr die eigene Existenz eingebettet ist in die Existenz des ganzen Universums. Aber auch die sogenannte normale Welt ist im Grunde genommen ein Spiegelkabinett. Denn auch sie wird durch unsere limitierte und bedingten Sinne verzerrt wahrgenommen und ist in ständiger Wandlung begriffen.

Gletschergarten

Im Gletschergarten von Luzern z.B. zeugen tiefe Mulden im Gestein von einer Zeit, in der die ganze Landschaft unter einer dicken Eisschicht lag. Es bestand eine stetige Reibung zwischen der fliessenden Eismasse und der darunter liegenden Steinmasse. Das Geschiebe, das auf diese Weise unter grossem Druck langsam und stetig bewegt wurde, hinterliess Spuren, die noch heute sichtbar sind. Und während unsere Vorfahren einst zu Gott gebetet haben, er möge doch bitte bitte (!) die Gletscher nicht weiter wachsen lassen, da sie um ihre Dörfer fürchteten, bitten wir heute aus demselben Grund darum, dass die Gletscher nicht weiter schwinden mögen.

Alle, die wir hier heute versammelt sind, haben das Glück und das Privileg, um die Möglichkeit einer Befreiung aus dem Irrgarten unseres Spiegelkabinetts zu wissen, und, darüber hinaus, konkrete Anleitungen von Buddha bekommen zu bekommen, der diese Möglichkeit in seinem eigenen Leben genutzt und realisiert hat. Seine geistigen Werkzeuge waren Meditation und Achtsamkeit. Wobei Meditation und Achtsamkeit nicht für irgendwelche neumodischen Methoden zur Selbstoptimierung stehen, sondern für eine lebenslange Lebenshaltung, die auf dem Studium und der Erkenntnis des tiefgründigen Wesens aller Existenz basiert.

Achtsamkeitsmeditation

Der erste Schritt der Achtsamkeitsmeditation besteht darin, sich von allen Aktivitäten im Aussen zu verabschieden und sich an einem ruhigen Ort hinzusetzen. Man bringt den Körper in eine stabile Position und richtet die Aufmerksamkeit sanft und freundlich nach innen.

Man erlaubt dem Atem, frei zu fliessen, bis er leicht und regelmässig wird. Wenn der Atem zur Ruhe gekommen ist und man ganz «angekommen», ganz «da» ist, dann gilt es, das Bewusstsein von den Sinnesobjekten abzuwenden und «nach innen» zu richten. Das ist der zweite Schritt.

Um zu vehindern, bloss vor sich hinzuträumen oder sich in Gedankenspaziergängen zu verlieren, achte man sorgfältig darauf, was in einem vor sich geht. Man lasse die Gedanken, Bilder, Empfindungen, die durch das Gemüt streifen, vor dem inneren Auge vorbeiziehen, als hätte man nicht damit zu tun. Ohne sich bei Einzelheiten aufzuhalten registriere man die auftauchenden Gestaltungen, ohne sie zu beurteilen oder sich sonst in irgendeiner Art und Weise damit zu befassen.

Wie die Erfahrung zeigt, gehört der grösste Teil des mentalen Material zur Vergangenheit. Recycling mag in der materiellen Welt zu etwas Brauchbarem oder Wertvollem führen, das Recycling von Gedankenmaterial jedoch führt zu nichts. Man füllt damit bloss vergorenen Wein in neue Schläuche.

Nicht-Identifikation

Der Schlüssel zur achtsamen Meditation heisst deshalb «Nicht-Identifikation»! Und das erste Gebot heisst: Identifiziere dich nicht mit dem, was vor sich geht. Sage nicht «ich» dazu. Denn wenn man zu allem, was auftaucht, «ich» oder «mein» sagt/denkt, dann ist man nicht frei davon. — Ich werde oft gefragt, wie das geht.

Das ist aber kein Geheimnis! Jeder und Jede kann dies tun. Denn es ist durchaus möglich, sich z.B. nicht um das zu kümmern, was die Ohren hören, — die lauten oder leisen Geräusche —, sondern nur um das Hören selbst. Man betrachte alles so, wie in einem Stummfilm und mische dich nicht ein!

Wenn sich die direkt Verbundenheit mit den auftauchenden Gedanken, Bildern und Empfindungen gelöst hat und ein gewisser Abstand dazu besteht, kann man feststellen, dass es nicht das eigenes Tun ist, das die Dinge wahrnimmt. Es ist nicht nötig zu sagen: Ich fühle, ich rieche, ich denke usw. Man muss sich nicht persönlich anstrengen, um zu sehen, zu hören, zu fühlen oder zu denken.

Aufhören

Man kann aber auch nicht willentlich aufhören, zu sehen, zu hören, zu fühlen oder zu denken. Wenn unser Geist wach ist und die Sinne intakt, dann hört und fühlt und riecht und denkt es ganz automatisch. Dieses Gewahrsein — vergleichbar mit einem Spiegel — ist eine Fähigkeit, die dem menschlichen Geist von Natur aus gegeben ist. Normalerweise wissen wir nichts von dieser Fähigkeit und bleiben deshalb an den Dingen haften. Wir wissen nicht, dass wir hören können, ohne etwas zu hören, oder sehen, ohne etwas zu sehen.

Doch wenn man diese Fähigkeit einmal entdeckt hat und sich darauf einlässt, dann eröffnet sich ein ganz neuer Raum. Der Geist offenbart seine ursprüngliche Grösse und Weite. Darin zeigt sich ganz klar, dass nicht ich es bin, die/der wahrnimmt oder bewusst ist.

Das Bewusstsein existiert einfach aus sich heraus. Unser körperliches Dasein ist Bewusstsein. Pflanzen, Tiere und Menschen tragen alle das fundamentale Wissen in sich, das ihnen erlaubt, das Leben zu leben, das ihnen gegeben ist. Und dies ganz ohne «Ich». Dieses fundamentale Wissen kann uns den Weg aus den Verstrickungen in der illusorischen Welt weisen.

Nachdem der Inder Shakyamuni Gautama in meditativer Schau seinen eigenen Geist untersucht und dessen Aktivitäten und Funktionsweise kennengelernt hatte und bis ans Ende des Denkens gekommen war und selbst dann noch einen Schritt weiter ging, verstand er die Ursache, die treibende Kraft und die Gesetzmässigkeit der gesamten Existenz bis ins letzte Detail.

Bewusstsein

Die Wand zwischen seinem limitierten «kleinen» Bewusstsein und dem allumfassenden Universalbewusstsein war endgültig weg. Das ist der Geisteszustand, der einen Buddha kennzeichnet, das ist mit «Buddha» gemeint. Shakyamuni Buddha verbrachte danach sein ganzes Leben damit, diese unaussprechliche Freiheit in Wort und Tat zu übermitteln, so dass sie auch von kommenden Generationen von suchenden Menschen studiert und praktisch nachvollzogen werden kann.

Auch wir können also erkennen, dass sämtliche Lebensformen und Lebenserscheinungen, inklusive unsere eigene Person, die Manifestation des einen, unbegrenzten, fundamentalen Bewusstseins sind. Das Ich-Bewusstsein ist nur ein ganz winziger, eng begrenzter Aspekt davon. Das allumfassende, fundamentale Bewusstsein ist nicht Mensch, nicht Tier, nicht dieses oder jenes ist. Aber es bringt all dies hervor.

Wirklichkeit

Wir mögen der fundamentalen Wirklichkeit viele Namen geben, doch letztlich wissen wir nichts darüber. ES ist ohne Form, ohne irgendetwas, das man benennen, messen oder wissen kann. Keine Denkkategorie vermag ES zu durchleuchten oder zu erfassen. ES ist die Basis, die Matrix, die Urnatur allen Lebens. Es gibt kein einziges Lebewesen, kein Sandkorn, keine Wolke, kein Kind, kein Tier, keine Körperzelle, die nicht von dieser Urnatur durchdrungen ist. Wir alle, du und ich, sind Gestaltungen der universalen Wirklichkeit.

«Das universelle Prinzip (Tao), das enthüllt werden kann, ist nicht das immerwährende Prinzip.
Der Name, der genannt werden kann,
ist nicht der immerwährende Name.

Himmel und Erde entstammen dem Namenlosen.
Ich nenne es das Nicht-Sein.
Das Sein ist die Mutter aller Einzelwesen.» — Lao tse, Tao te Ching

Unter den vielen möglichen Verkörperungen des einheitlichen Bewusstseins, erachtete der Buddha den menschlichen Zustand als etwas ganz Spezielles und Wertvolles. Warum? Weil dieser Zustand die Fähigkeit beinhaltet, das ganze Mysterium der aus sich selbst heraus existierenden Wirklichkeit zu erfahren. Allerdings nicht mit dem denkenden Geist. Der einzige Weg führt über die Meditation.

Universale Weisheit

Der Buddha unterschied vier Arten bzw. Aspekte der in der Meditation wirkenden Weisheit. Dabei griff auch er auf das Sinnbild eines Spiegels zurück. Er nannte die erste Weisheitsart «Grosse Spiegel Weisheit». Die drei anderen heissen: «Universale Weisheit», «Nach innen gerichtete beobachtende Weisheit», und «Handelnde Weisheit».

Meister Sokei-an hatte die Vier Weisheiten ausführlich aus der Sicht des Zen-Buddhismus erklärt. Er sagte:

«Die Grosse-Spiegelweisheit ist zeit- und grenzenloser Raum (Ākāsha). Ein anderer Name dafür ist «Speicherbewusstsein» (Ālaya-Bewusstsein). Denn alles, was je ins Leben tritt, getreten ist oder noch treten wird, ist im leeren Raum gespeichert. Für diesen grundlegenden, quasi ersten Bewusstseinszustand passt das Bild des Spiegels sehr gut.

Der Spiegel kann sich selbst nicht sehen – Bewusstsein existiert allein, aus sich selbst heraus und absolut. Es ist unsere Urnatur, es enthält alles gleichzeitig. Nur im Zustand der reinen Wachheit – jenseits aller gedanklichen Aktivitäten – kann man, wie von einem Blitz beleuchtet, die Urnatur plötzlich sehen. Man braucht dafür nicht jahrelang zu meditieren, man muss nur wach sein. Ich nenne es ‹erkennende Intuition›.

Die Universale Weisheit ist das allen Lebewesen angeborene einheitliche Bewusstsein. Man nennt es auch «Das eine Wurzelbewusstsein». — Es ist das, was Lao-tse «Die Mutter aller Einzelwesen nannte. — Feuer ist immer Feuer, ganz egal wo und wie es brennt. Das individuelle Feuer kann variieren, doch Feuer als solches hat immer die gleiche Natur. So verhält es sich auch mit dem Bewusstsein.

Dein Bewusstsein, mein Bewusstsein, dieses Bewusstsein, jenes Bewusstsein: Es ist immer dasselbe Bewusstsein. Die Tautropfen, die auf der Rose, auf dem Veilchen und auf der Tulpe sitzen, sind alle von derselben Beschaffenheit – rein und von der Blume gesondert. Unsere Gedanken und Emotionen sind mentale Formen des universalen Bewusstseins.

Die nach innen gerichtete beobachtende Weisheit ist die Introspektion. Es ist das Bewusstsein, das den eigenen Geist durch Innenschau — Meditation — erkennt. Es ist nicht zu verwechseln mit dem Träumen im Schlaf, aus dem man bei der geringsten Störung aufschreckt. Diese Weisheit gibt uns Menschen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis; ohne sie können wir unser wahres Wesen nicht erkennen.

Die handelnde Weisheit ist die Intuition, mit der die Lebewesen spontan das tun, was getan werden muss. Bei den Tieren nennen wir es Instinkt. Dieses Tun folgt dem natürliche Lauf der Dinge. Wenn der Geist mit vorgefassten Meinungen oder Überzeugungen besetzt ist, kann man jedoch nicht frei agieren, noch kann man den Standpunkt einer anderen Person sehen. Um diese Weisheit zu verwirklichen, muss man den Ich-Standpunkt vollkommen aufgeben.»

«Wer die Dinge voller Begehren betrachtet, sieht nur ihre Oberfläche. Wer nichts haben will und nichts festhält, sieht ihr wahres Wesen.»
– Lao-tse, Tao te Ching

Zusammenfassung

Jedes einzelne Lebewesen ist ein Abkömmling bzw. Träger der einen, allumfassenden Weisheit. Wir Menschen können diese entdecken und im aktuellen Leben erfahren.

Wir haben alles, was wir brauchen, um uns aus dem winzigen Spiegellabyrinth, d.h. aus der Tyrannei unserer Gedanken und Gefühle zu befreien. Wir müssen uns nur von den vergänglichen Bildern und den damit verbundenen Sinnestäuschungen und Begehren lösen. Dazu praktizieren wir Meditation.

Wir brauchen keine Buddhisten, Christen oder irgendwelche «-isten» zu sein und nirgendwo anders hingehen als wo wir sind. Meditation ist an keinen Ort, keine Zeit, keine Sprache gebunden. Meditation ist immer Jetzt! — Also immer neu.

Wenn nichts haften bleibt, nichts festgehalten wird, nichts begehrt und nichts gehasst wird, dann leben wir in der der Grossen-Spiegel-Weisheit. Alles kann sich entfalten, alles ist so ist, wie es ist.

Die handelnde Weisheit ist von morgens früh bis abends spät tätig, ohne etwas zu «tun». Lao-tse nennt es Tun im Nicht-Tun. (Wei-wu-wei). Er sagte:

«Das wahre Wesen ist ohne Tun,
doch nichts bleibt ungetan.
Wunschlosigkeit macht den Geist still,
in Stille nimmt alles seinen natürlich Gang.» — Tao te Ching

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