Zeitmaschine

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Zeitmaschine – In der Nacht hatte es geschneit, leise, zart wie Puderzucker. Der kurze Weg zur Strassenbahn Nr. 7 wurde begleitet vom leisen Knirschen des Neuschnees unter den Füssen und dem Anblick unzähliger Schneeflocken, die jede für sich auf den Bäumen und Hecken am Wegesrand ruhten.

Es war ein faszinierender Anblick, und in den Momenten, in denen der Zauber gebrochen war, kamen mir einige Worte aus dem Lotus-Sutra in den Sinn. Darin wird ein von Buddha geschaffenes Land beschrieben.

«Der Boden war flach wie eine Handfläche und aus klarem Kristall. Das Land war mit funkelnden Juwelenbäumen geschmückt, die mit Baldachinen aus Juwelen bedeckt waren und an denen juwelengeschmückte Fahnen hingen. Die Grenzen waren ringsum mit Juwelenvasen und Räuchergefässen gesäumt.»

Soweit wir wissen, gab es zur Zeit Buddhas keine Strassenbahnen. Aber in den vedischen Lehren ist von Flugmaschinen die Rede. Das sagte mir jedenfalls mein Gedächtnis, als ich in die schneefreie, warme und helle Zeitkapsel Nr. 7 einstieg und unter den Passagiere meinen Strassenbahnfreund suchte.

Als ich auf den freien Platz neben ihm rutschte, unterbrach er seine Lektüre, um mich zu begrüssen. Auf seinem Schoss lag ein aufgeschlagenes Buch, in seiner Hand einen Becher mit noch heissem Kaffee. Ich erwiderte seinen Gruss, nahm den Deckel von meinem Becher, um etwas Zucker hinzuzufügen, und fragte ihn, was er gelesen habe.

«Ich lese einen alten Klassiker, den ich im Bücher-Brocky gefunden habe: Die Zeitmaschine von H.G. Wells. Kennst du das?», antwortete er.

«Ja, natürlich, ich habe das Buch als Kind gelesen. Es gab sogar eine Hollywood-Verfilmung, eine Art Camp-Film, wenn ich mich recht erinnere. Das Buch war jedoch viel besser», antwortete ich. Die Geschichte handelt von einem Mann, der an verschiedene Orte reisen konnte, ohne sein bequemes Labor zu verlassen, während er in seiner Zeitmaschine sass.

Nach diesem kurzen Austausch sassen wir schweigend da. Wir sahen, wie der Schnee fiel und die Realität von dem, was war, in eine neue Version der vorherigen Realität verwandelte. Die ganze Welt verschwamm nun in Schwarz- und Weisstönen. Wir schauten zu, wie die Menschen in die Strassenbahn einstiegen, sich den Schnee von Hüten und Mänteln klopften oder mit den Füssen stampften, um den nun anhaftenden, nassen Schnee von ihren Schuhen und Stiefeln zu schütteln. Einige schienen sich damit zufrieden zu geben, den Schnee einfach von selbst verschwinden zu lassen. Zufrieden waren vor allem die Kinder auf dem Weg zur Schule.

Die Leute, die aus der Strassenbahn stiegen, waren alle gut eingepackt und bereit, in die gerade entstehende Welt des fallenden Schnees einzutauchen. Was sie davon hielten, war schwer zu sagen. Ihre Gesichter waren hinter hohen Kragen verborgen, in Schals gehüllt und ihr Blick auf einige sehr wichtige Nachrichten konzentriert, die über ihre iPhone-Bildschirme liefen. Aber vielleicht sagte das auch schon alles darüber aus, was sie über den leise fallenden Schnee dachten.

Mein Strassenbahnpartner brach die Stille, die sich über uns gelegt hatte, und sagte: «Ich habe gerade über den Schnee nachgedacht. Wie das war, als wir Kinder waren, und wie es war, jeweils den ersten Schneefall der Saison zu erleben. Ich habe mich an die vielen Schneefälle erinnert, die ich im Laufe meines Lebens erlebt habe, die guten und die weniger guten.» Und mit einem Lächeln zitierte er eine Passage aus Die Zeitmaschine: «Ich sah riesige Gebäude, die sich schwach und hell auftürmten und wie Träume verschwanden.»

Mein Begleiter hielt inne und fügte dann seine eigene Beobachtung hinzu: «Wir sind alle Zeitmaschinen, nicht wahr?»

«Zeitmaschinen?», fragte ich.

«Ja, Zeitmaschinen. Kannst du dir etwas vorstellen, das Teil deines physischen oder psychischen Ichs ist, aber nicht von der Zeit abhängt? Und ja, du kannst dir Zeit lassen, darüber nachzudenken» sagte er mit einem Grinsen.

Nach einer Weile sagte er: «Die Zeit existiert nur in unseren Köpfen. Kannst du mir die Zeit selbst zeigen?»

«Okay, jetzt bin ich also eine Zeitmaschine, gedanklich konstruiert, was kommt als nächstes?» fragte ich.

«Du bist auch der Zeitreisende.»

«Wie funktioniert das?»

«Als ich Dir die Schneewelt beschrieb, die ich auf Grund meines Erlebens der Schneewelt von heute Morgen geschaffen habe, reiste ich in der Zeit zurück, in die Vergangenheit. Ich war ein Zeitreisender. Ich ahmte H. G. Wells nach, als ich dir erzählte, was diese Schneewelt war, in der ich mich gedanklich befand. – Oh, mein Kaffee ist kalt geworden. Ich habe mehr Zeit mit Reden als mit Trinken verbracht.»

«Meiner auch. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, dir zuzuhören, als zu trinken.»

Ich lachte und sagte ihm, dass nicht nur mein Kaffee kalt sei, sondern dass es auch an der Zeit sei, aus der Strassenbahn auszusteigen. Wir verabschiedeten uns für diesen Tag und er versprach, morgen früh aufmerksam zuzuhören, wenn ich über irgendetwas schimpfen wollte.

Ich stieg aus. Die Geschwindigkeit der Zeit hatte sich der Langsamkeit des willkürliche Fluges einer Schneeflocke angepasst. Der stetige Schneefall machte mich lächeln. Er brachte eine tiefe Stille mit sich, der man sich nicht entziehen konnte. Er bremste den fiebernden Geist. Niemand hetzte zur Arbeit oder zum Einkaufen. Niemand ass ein Würstchen, während er sich durch die sich langsam bewegende Menge schlängelte. Die iPhone-Roboter waren weniger zahlreich. Alles in allem ein schöner Start in einen verschneiten Tag.

Ich suchte mir eine geschützte Ecke abseits der vorbei strömenden Menschenmenge und rief in meinem Büro an. Der angenehmen Stimme am anderen Ende der Leitung teilte ich mit, dass ich mir den Tag frei genommen hätte. Ja, (un)glücklicherweise sei eine dringende persönliche Angelegenheit dazwischen gekommen. Ja, ich würde auf jeden Fall morgen kommen, oder auch später am Tag, wenn es die Zeit erlaubt. Ja, danke, dir auch einen schönen Tag. – Ich brauchte ein wenig Ruhe, um über das nachzudenken, was sich während der Strassenbahnfahrt ereignet hatten. Alles in allem eine schöne Art, einen verschneiten Tag zu verbringen.

Nachdem ich einige Zeit durch die ruhigen Seitenstrassen des Stadtzentrums geschlendert war, liess ich mich in einem ruhigen Café mit Bäckerei und Blick auf die Strasse bei einer heissen Schokolade nieder. Ich klappte mein Tablet auf und fand schnell, was in Gedanken mehrmals aufgetaucht und wieder verschwunden war, während ich meinem Freund und seinem Zeitreiseerlebnis zuhörte.

Es war ein Kommentar zum Lotus Sutra aus dem Buch Buddhism for Today von Nikkyo Niwano

Der Buddha Shakyamuni sprach oft von den sechs geistigen Daseinsbereichen oder Welten, die innerhalb der Menschenwelt existieren. Er stellte diese sechs Welten auch als zweiter Kreis in seinem Bild vom Bhavacakra (Lebensrad) dar. Das Buch Buddhism for Today erklärt, was diese Welten bedeuten, wie wir Menschen in ihnen gefangen sind und unser Dasein innerhalb ihrer Grenzen ausleben. Mein Strassenbahnfreund hatte mir gerade von seiner angenehmen Reise in die Schneewelten seiner frühen Tage erzählt.

«Die sechs Daseinsbereiche sind die sechs Welten, welche die Lebewesen durchwandern. Sie heissen: Hölle, Welt der hungrigen Geister, Welt der Tiere, Welt der Dämonen, Welt der Menschen und Himmel. Diese Lehre lehrt uns die geistigen Zustände des Menschen und den Aufbau der Welt mit dem Menschen als Mittelpunkt.

«Hölle» ist der mentale Zustand, in dem unser Geist von Zorn verzehrt wird. Jeder und alles scheint ein Feind zu sein, wenn wir vor Wut brennen. Wenn sich zum Beispiel ein Mann mit seiner Frau gestritten hat, hasst er sogar das Geschirr, das nichts mit dem Streit zu tun hat, und zerschlägt es vielleicht sogar. Aber indem er das Geschirr zerschlägt oder den Gegner schlägt, kann er weder das Geschirr noch den Gegner wirklich zerstören. Derjenige, der am meisten leidet, ist derjenige, der wütend ist.

«Hungrige Geister» beschreibt den Geisteszustand, in dem eine Vielzahl von Wünschen in unserem Geist entsteht. Das Verlangen beschränkt sich nicht nur auf Geld und materielle Dinge, sondern umfasst auch das Verlangen nach Ehre oder nach der Zuneigung eines anderen Menschen. Aufgrund unserer Gier wissen wir nicht, wie wir zufrieden sein können, selbst wenn wir unsere momentanen Wünsche erfüllen. Je mehr Wünsche wir haben, desto mehr klammern wir uns an sie und geraten so in einen Teufelskreis.

«Tiere» stehen für einen Geisteszustand, dem es an Weisheit mangelt und der von Unvernunft geprägt ist. Ein Mensch, der nicht vernünftig handelt, handelt nur aus Instinkt und tut, was er will, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

«Dämonen» sind in allem egozentrisch und haben nur die eigenen Interessen im Auge. Diese Mentalität führt zu Konflikten, Streit, Auseinandersetzungen und Kriegen unter den Menschen. Das ist der geistige Zustand, in dem Egoismus zu Streit führt.

«Mensch» drückt den Geisteszustand aus, in dem versucht wird, die vier oben genannten schlechten Geisteshaltungen durch das Gewissen zu kontrollieren, damit wir nicht in die Extremen fallen, obwohl wir alle diese Geisteszustände in uns tragen. Das ist das Wesen des gewöhnlichen Menschen.

Mit «Himmel» ist die Welt des Glückseligkeit oder der Freude gemeint. Damit ist aber nicht die unveränderliche Freude gemeint, die man durch die Erleuchtung Buddhas erlangt. Es ist die Freude der Sinne und der Gefühle, d.h. die Freude, die durch Illusionen hervorgerufen wird, eine vorübergehende Freude, die in die Welten der Hölle, der hungrigen Geister oder der Dämonen abgleiten kann, sobald etwas Unangenehmes geschieht. Verzückung ist typisch für einen solchen Geisteszustand.

In diesem Fall ist der Himmel ein Ort, dessen Bewohner keine Leiden oder Probleme haben. Aber aber solange wir keine wahre Erleuchtung erlangen können, wären wir selbst dann, wenn wir den Zustand des Himmels erreichen sollten, damit unzufrieden. Normalerweise geht man davon aus, dass man von allen Sorgen befreit ist, wenn man Millionär wird, in einer grossen Villa wohnt und viele Diener hat. Aber in der Praxis ist es nie so, wie man denkt. Wenn es ein sogenanntes Paradies gäbe, in dem die Menschen den ganzen Tag faul herumsitzen und nichts zu tun haben, würden sie sich langweilen und den Wunsch verspüren, etwas zu tun. Dieser «Himmel» ist ein solch stagnierender Geisteszustand.

Die sechs Welten treten ständig im Geist des Menschen auf und wechseln von einer zur anderen. Dies wird „Wanderung innerhalb der sechs Welten“ genannt. Wenn wir keine gute Lehre und keine From der Praxis haben, wandern wir ständig in den sechs Welten umher, und unsere Nöte und Leiden werden niemals verschwinden. Jeder wird dies erkennen, sobald er über sich selbst nachdenkt.» – Buddhism for Today von Nikkyo Niwano

Er sass still da, völlig versunken in den Tanz des Schnees, in die schemenhaften vorbeiziehenden Menschen, ohne auf die heisse Schokolade zu achten, die mit jeder Minute weniger heiss wurde. Ein leise auftretender Gedanken schwebte über dem treibenden Schnee und wurde zur Frage: Ist dies die himmlische Welt, von der der Buddha gesprochen hatte?

– robert

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