Wochenretreat 2025, 3. Tag
Jeder Tag ist ein neuer Tag. Heute scheint die Sonne, die gestrigen Regenwolken haben sich verzogen. Auch in unseren Köpfen oder Gemütern ist es schon etwas klarer, als noch vor zwei Tagen.
Vielleicht denken jetzt einige oder alle: «Nein, bei mir ist es kein bisschen ruhiger im Kopf. Noch immer ziehen dauernd Gedanken vorbei.»
Dem mag so sein, aber allein das Vorhandensein von Gedanken heisst nicht unbedingt, dass Kopf und Gemüt nicht still sein können. Solange unsere Sinne wach sind und das Gehirn aktiv, werden immer Gedanken produziert. Der «Trick» ist bloss, sich nicht darum zu kümmern.
Gedankenstille
Es ist wie beim Schwimmen in einem Fluss. Wenn man sich vor den Wellen fürchtet und wild zappelnd um sich schlägt, wird man von ihnen überwältigt und läuft eventuell Gefahr zu ertrinken. Wenn man aber Ruhe bewahrt und sich vom Wasser tragen lässt, sind die Wellen nebensächlich und werden nicht weiter beachtet. Dann ist das Schwimmen im und mit dem Fluss ein Vergnügen.
Ähnliches geschieht bei der Sitzmeditation. Wenn man sich mit ganzem Herzen dem ruhig dahin fliessenden passiven Gewahrsein überlässt, treten die Gedanken von selbst in den Hintergrund. Nach und nach stellt sich eine stille Freude und Wachheit ein. So wie die Wellen in einem Teich oder See zu Ruhe kommen, wenn man nicht dauernd Steine hinein wirft oder darin herumwühlt. Das Wasser, das trüb und schmutzig schien, wird hell und klar.
Man merkt wieder, wie schön die Welt eigentlich ist. Wie wohltuend das Geräusch des Regens sein kann – tropf-tropf-tropf – und wie schön der Gesang des Windes – schschsch. Aber nichts ist so tief und allumfassend wie ein Moment der Stille, in dem man sich selbst nicht kennt, aber voller Leben ist.
Dieses wache Da-Sein, in dem jede Bewegung, jedes Geräusch, jede Empfindung wahrgenommen wird, ohne vom Ichbewusstsein registriert und kommentiert zu werden, ist der natürliche Zustand unseres Geistes.
Die Wirklichkeit sehen
Man wird in der Meditation kein anderer Mensch, auch die Welt wird keine andere Welt. Was sich ändern kann, ist die Art und Weise, wie man sich selbst und die Welt sieht. Das ist gemeint, wenn es im Herz-Sutra heisst:
«Der Bodhisattva Avalokiteshvara, in tiefster Weisheit versenkt, sah deutlich …»
Soweit sind wir gestern gekommen. Nun wollen wir uns fragen, was es ist, was Avalokiteshvara so deutlich gesehen hat.
In unserer Version des Sutras heisst es:
«… sah deutlich, dass die fünf Skandhas ihrem Wesen nach leer sind und überwand dadurch alles Leiden.»
Die fünf Skandhas
Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört? Und wie oft wurde schon erklärt, was die fünf Skandhas sind! Die buddhistische Literatur ist voll von Darlegungen und Kommentaren dazu. Trotzdem ist dieses Konzept für die meisten von uns noch immer schleierhaft. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe:
Einerseits handelt es sich um eine buddhistische Lehre über die Grundlagen unseres Daseins, die dem westlichen Denken fremd ist. Andererseits hat man sich – wohl aus eben diesem Grund – noch nie die Mühe gemacht, diese Grundlagen, wie Avalokiteshvara, wirklich zu studieren, zu kontemplieren und in der Meditation zu betrachten.
Aber nicht nur das: Im Grunde genommen ist uns die ganze Botschaft des Herz-Sutras äusserst unangenehm. Sie besagt ja nichts anderes, als dass das, was wir für das wichtigste und einzige Gut unseres Lebens erachten – unser eigenes Ich mitsamt seinen Freuden und Leiden – in Wirklichkeit nichtig ist.
Lasst uns dies überprüfen, in dem wir uns Avalokiteshvaras Beispiel folgend, aktiv darum bemühen, selber die Wirklichkeit hinter den Worten zu erfassen, sie zu studieren, zu betrachten und zu befragen.
Studieren – Definition der Worte
- Das Wort Skandha stammt aus dem Sanskrit. Es wird meistens übersetzt als «Anhäufung», «Gruppe», «Aggregat» oder «Zusammensetzung».
- Die fünf Skandhas sind fünf von Buddha beschriebene Gruppen von Komponenten, die das ausmachen, was wir gewöhnlich als «Selbst» oder «Ich» wahrnehmen. Es handelt sich dabei nicht um eine Theorie, sondern hat eine direkte Auswirkung im täglichen Leben.
- Die Lehre der fünf Skandhas ist ein grundlegender Bestandteil von Buddhas Analyse und Erklärung der menschlichen Psyche. Sie durch eigene Erfahrung zu verstehen ist der erste Schritt zur Befreiung vom Leiden.
Kontemplieren –Warum befreit rechte Sicht und rechtes Verstehen der fünf Skandhas von Leiden?
Jeder Mensch sieht die Welt durch die Brille seines Ichs. Er ist überzeugt, dass er sein Ich gegenüber anderen Ichs bewahren, schützen und durchsetzen muss. Doch das ist ein grosser Irrtum. Die wahre Grundlage unseres Lebens ist nicht das Ich, sondern das ich-lose, universale Bewusstsein.
Das Haften an diesem Irrtum ist dafür verantwortlich, dass wir Menschen gemeinsam eine Welt voller Widersprüchen und Lügen geschaffen haben und aufrechterhalten. Mit unserer Ichhaftigkeit säen wir Samen der Konkurrenz, Zwietracht und ernten Krieg und Streit.
Im Gegensatz dazu ist die universale Natur prinzipiell auf die Kooperation und das Zusammenwirken aller Kräfte ausgerichtet. Mit anderen Worten: Wer seine Ich-Illusion erkennt, versteht und überwindet, der sät Samen der Liebe und erntet Frieden mit sich selbst und der Welt.
Die fünf Gruppen
- Form (Rūpa)
Diese Gruppe umfasst alle physischen und psychischen Aspekte der Existenz – die materiellen Dinge und den Körper. Alle Formen sind unbeständig; sie entstehen und vergehen in Abhängigkeit von den Umständen.
Beispiel: Der eigene physische Körper bestehend aus zahllosen Zellen. Auch alle materiellen Objekte, mit denen der Körper interagiert, sind der Veränderung unterworfen.
Meditationsfragen: Kannst du irgendetwas sehen, hören usw., von dem du weder Wort noch Namen kennst – das keine Form hat? Was geschieht mit den Formen, wenn du sie weder benennst noch festhältst?
- Empfindungen/Gefühle (Vedanā)
In dieser Gruppe sind die grundlegenden Empfindungen auf Sinnesreize enthalten – angenehm, unangenehm oder neutral. Sie entstehen automatisch, ohne Denken, in Abhängigkeit von den Sinneswahrnehmungen. Sie sind, wie diese, flüchtig und wechselhaft.
Beispiele: Schmerz bei einem Nadelstich, Wohlgefallen in einem heissen Bad, Zuneigung oder Abneigung, wenn man jemanden oder etwas sieht, hört, riecht usw.
Meditationsfragen: Wie kommen angenehme, unangenehme oder neutrale Empfindungen zu Stande? Wer empfindet sie? Wie lange halten sie an?
- Wahrnehmungen (Saṃjñā)
Saṃjñā, (ausgesprochen als «Sam-niaa») ist die Fähigkeit, die Eigenschaften der Formen und Empfindungen zu erkennen, einzuordnen, zu deuten und zu benennen.
Beispiele: Das Erkennen einer Farbe als „blau“, eines Geräusches als „laut“, eines Geruchs als „duftend“, eines Geschmacks als „süss“, einer Berührung als „weich“ oder eines Gedankens als „Erinnerung“, eines Gesichtsausdrucks als freundlich/unfreundlich usw.
Meditationsfragen: Wer macht die Unterscheidungen? Gehören die Eigenschaften ein für alle Mal zum Objekt oder nicht?
- Geistesformationen (Samskara)
Diese Gruppe ist für unser Denken nur schwer zu erfassen. Samskara wird auch als «Willensäusserung» oder Willenstendenzen übersetzt. Dazu gehören alle mentalen Gewohnheiten, Konditionierungen, Emotionen, Gedanken und Handlungen. Es ist die Fähigkeit, auf Wahrnehmungen und Gefühle (2. und 3. Skandhas) zu reagieren.
Die Reaktionen werden mit der Zeit zu persönlichen Tendenzen, Verhaltensmustern und Denkgewohnheiten und formen den individuellen Charakter.
Gemäss Buddha werden die Geistesformationen von einem Leben auf das andere übertragen. Das heisst, unsere gegenwärtigen Veranlagungen und Charakterzüge haben eine lange Vorgeschichte.
Beispiel: Alle Impulse, Meinungen und Reaktionen, die auch unserer Sicht «doch ganz normal sind». Sie drücken sich aus in Sätzen wie: «Das machen doch alle so», «So wie man in den Wald ruft, so kommt es zurück», «Ich kann nicht anders» usw. In Wirklichkeit handelt es sich aber um nichts anderes als die stereotypen Äusserungen des illusorischen Ichs.
Durch das automatische Festhalten an und das Verteidigen von eigenen Verhaltensmustern erzeugen wir Menschen immer dieselben Konflikte, Reaktionen und Gegenreaktionen.
Das sind die sogenannten drei Gifte von Gier, Hass und Verblendung, die ein Leben in Harmonie mit dem grossen Ganzen verhindern.
- Bewusstsein (Vijnana, phonetisch: «Vidschnaana»)
Wir alle wissen, dass es ein Bewusstsein gibt. Es ist müssig, über das Warum nachzudenken. Über das Wie, das heisst über die Funktion und Wirkung des Bewusstseins dachten und denken die Buddhisten jedoch sehr differenziert nach. Die geläufige Lehre unterscheidet acht Aspekte oder Arten von Bewusstsein.
Die ersten sechs sind mit den sechs Sinnen verbunden (Augenbewusstsein, Ohrenbewusstsein, Nasenbewusstsein, Zungenbewusstsein, Hautbewusstsein, Geistbewusstsein (Mind)).
Das siebte Bewusstsein ist das Ichbewusstsein. Dieses macht eine Unterscheidung zwischen Ich und Du, ich und das Andere. Es führt dazu, dass man alles persönlich nimmt und sich als der Mittelpunkt des Lebens sieht.
Das achte Bewusstsein ist wie ein Speicher, in dem sämtliche Eindrücke, Erinnerungen und Handlungen eines Lebewesens wie Samen gesammelt und aufbewahrt werden.
Das sechsfache Sinnesbewusstsein und das Ichbewusstsein entstehen dann, wenn die Sinne mit ihren Objekten in Kontakt kommen: Augen mit Farbe/Form; Ohren mit Klang; Nase mit Duft usw. Sie dauern solange der Kontakt besteht und vergehen, wenn der Kontakt aufhört. Wir erfahren dies, wenn wir schlafen oder ohnmächtig sind: Dann wissen wir nichts von uns selbst und unserer Welt.
Das heisst, jeder Mensch trägt in sich einen Speicher voller Erinnerungen und Eindrücke. Diese sind uns nicht bewusst, beeinflussen aber alle Erfahrungen und alle Handlungen eines Individuums. Träume, Visionen und manchmal auch «Eingebungen» sind Beispiele dafür.
Im Gegensatz zum Sinnesbewusstsein und Ichbewusstsein hört das Speicherbewusstsein nie auf. Auch wenn wir schlafen, sind die Körperorgane «bewusst» und erfüllen ihre Funktionen ganz ohne uns.
Diese acht Bewusstseinsarten bilden zusammen die menschliche Erfahrungswelt. Da sie grundsätzlich auf den Sinnen beruhen, bilden sie jedoch nicht die Wirklichkeit ab. Die Wirklichkeit kann nur mit dem sogenannten Buddha-Auge «gesehen» werden, demselben Auge, mit dem Avalokiteshvara deutlich sah, dass die fünf Skandhas ihrem Wesen nach leer sind.
Dieses direkte Sehen zu verwirklichen, ist das A und O der Zen-Praxis. Es gilt, sich immer wieder aufs Neue von den gewohnten Meinungen und Vorstellungen zu lösen, das eigene Tun und Denken mit Sorgfalt und Ehrlichkeit zu beobachten und dem Geist durch Stille zu ermöglichen, in seinen ursprünglichen Zustand der Klarsicht zurückzukehren und darin zu ruhen.
In der Stille der Meditation können die Illusionen des menschlichen Bewusstseins im Licht der uns angeborenen wachen Buddhanatur beleuchtet und durchschaut werden. Dann kann sich die Wirklichkeit offenbaren, die alles Leben, alle Bewusstseinszustände und alle Welten hervorbringt. Und obwohl sie keinen Namen hat, geben wir ihr Namen, wie Buddhanatur, Urnatur, das Ungeborene, das Absolute und viele mehr.
Zusammenfassung
Es würde jetzt zu weit gehen, alle acht Aspekte der fünft Skandhas ausführlicher zu erklären. Für heute ist es wichtig zu verstehen, dass alles Leben eine endlose Abfolge von Bewusstseinsmomenten ist, die sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind. Dabei gibt es keinen «Chef», nichts, das wichtiger oder weniger wichtig ist. Das ist gemeint mit «leer»: leer von irgendetwas!
«Die fünf Skandhas sind leer» heisst also: Es gibt in allen unseren körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Aktivitäten kein «Ding», keine Instanz namens Ich.
Leer ≠ Nichts
Aber Achtung! In unserer alltäglichen Wahrnehmung scheint das Ichbewustssein wie ein kontinuierliches lebendiges «Ding» – ich habe mein Bewusstsein und du hast dein Bewusstsein. Und die Welt, die wir dank dieses Bewusstseins erleben, ist unsere Realität.
Und in unserem Denken ist «leer» identisch mit nichts. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Welt in ihrer Schönheit und ihrem Elend einfach «nichts» sein soll. So ist es auch nicht gemeint.
Die Leere, von der das Herz-Sutra spricht, steht nicht im Gegensatz zu Etwas. Der Buddhismus behauptet nicht, dass nichts existiert. Man hüte sich vor dieser Interpretation.
Der Begriff Leere oder Leerheit ist eine für das westliche, dualistische Denken irreführende Übersetzung des Sanskritwortes Shunyata, wobei Shunyata die fundamentale Natur der ganzen Existenz bezeichnet. Das Universum, der Himmel, Lebewesen, Gegenstände, unser Geist – sie alle haben die Qualität von Shunyata: Nichts entsteht (aus sich selbst heraus), nichts vergeht, nichts in unrein, nichts ist rein … Shunyata ist ohne Gegensätze, ohne Unterscheidung, ohne irgendetwas, das wir uns denken können.
Unser sprachliches Denken kann zwar sagen, das Universum, der Himmel oder der Geist sei «leer»; unsere Erfahrung jedoch «weiss, dass sämtliche Dinge, alles, was wir sehen, hören, denken und fühlen können – im Universum, am Himmel und in unserem Geist – sehr wohl «etwas ist». Es einfach zu verleugnen, wäre eine weitere Selbsttäuschung.
Sein und Nicht-Sein
Das Paradox von der Gleichzeitigkeit von Sein und Nicht Sein zu erkennen und «aufzulösen» ist der tiefe Sinn und Zweck der buddhistischen Lehre und des Herz-Sutras im Speziellen. Das dualistische Denken und die Idee von der Existenz einer Person, eines Ichs, muss vollständig demontiert werden, ohne dass man deshalb nihilistisch oder negativ wird.
Shunyata ist kein Entweder-Oder, es geht nicht um Leere oder Form, Sein oder Nicht-Sein. Shunyata ist das Wesen der Wirklichkeit. In unserer relativen Erfahrungswelt ist die Wirklichkeit sowohl Form als auch Nicht-Form. In der absoluten Erfahrung ist die Wirklichkeit weder Form noch Nicht-Form. Alle Dinge sind vergängliche, sich gegenseitig bedingende Erscheinungsformen. Sie sind nicht das, wofür wir sie halten.
Im Buddhismus findet Shunyata, die Gleichzeitigkeit von Sein und Nicht-Sein ihren höchsten Ausdruck in der Formel: Samsara ist Nirvana. Oder wie es im Zazen Wasan heisst: Dieser Ort hier ist das reine Buddha-Land, dieser Körper ist der Körper Buddhas.
Eigenverantwortlichkeit
Warum ist es so schwierig für uns, diese befreiende Erkenntnis zu erleben, anzunehmen, zu verwirklichen und weiterzugeben?
Die Antwort auf diese Frage ist einfach, offensichtlich und leicht nachvollziehbar. Erstens: Sie kann nicht mit dem Verstand erlangt werden. Zweitens: Niemand gibt «ich» und «mein» auf. Man hält an den eigenen Gefühlen und Meinungen fest, angeblich, weil man nichts anderes kennt – in Wirklichkeit aber, weil man nichts anderes kennen oder annehmen will.
Wir wollen einfach bleiben, was wir sind – oder glauben zu sein, wollen uns nicht auf die Offenheit unserer ursprünglichen, kindlichen und natürlichen Wesensnatur einlassen. Wir beklagen uns zwar dauernd über das Leiden an der «schlechten Welt» und die «bösen Anderen», aber wir wollen die Wurzeln dieser Übel nicht freilegen. Das würde ja bedeuten, sie klar in uns selbst zu erkennen, zu benennen und zu eliminieren. Dieses Unterfangen ist ganz und gar nicht im Sinne meiner Ich-Identität.
Und so bleibt selbst eine jahrelange «Zen-Praxis» nichts anderes als eine Form von Selbsttäuschung und Selbstbefriedigung – «and the show goes on.»
Jeder Tag ist ein neuer Tag
Was es heisst, vollkommen offen zu sein, können wir den kleinen Kindern abschauen, die noch nicht von ihrem Ich beherrscht werden. Für sie ist jeder Tag ein neuer Tag. Sobald sie am Morgen die Augen öffnen, nehmen sie den «Tag in Besitz». Ihre fünf Skandhas funktionieren ganz natürlich: Sie rennen und hüpfen unermüdlich umher und stehen selten still. Bei Vergnügen lachen und jauchzen sie, bei Unbehagen weinen und schreien sie. Sie sind interessiert an allen Dingen, ohne sie zu benennen oder zu beurteilen. Sie zeigen klar, was ihnen angenehm ist und was nicht. Wenn es zu ihrem Vorteil ist, passen sie ihr Verhalten den Anforderungen und Erwartungen der Erwachsenen instinktiv an. Andernfalls machen sie (oft dramatischen) Widerstand.
Und wenn der Tag vorbei ist, bleibt nichts kleben.
Doch wir Erwachsenen machen genau das Gegenteil: Wir lassen die Vergangenheit nicht hinter uns. Wir schlüpfen jeden Morgen in die gleichen mentalen Kleider. Wir mögen den Körper und die Haare waschen und frische Hemden oder Blusen anziehen, das Gesicht schminken oder rasieren, aber wir vergessen, auch das Gemüt zu waschen. Die meisten kommen nicht einmal auf die Idee, dies zu tun.
Eigenverantwortung
Und so verlässt man das Haus mit denselben verschwitzten Gedanken wie gestern – denselben Ressentiments, Launen, Träumen und Hoffnungen – und derselben existenziellen Unsicherheit.
Wenn dann alles wieder so ist wie gestern, vorgestern und «schon immer», hat man sich den Beweis geliefert, dass man halt ein Opfer der Umstände ist. Und man sucht nach Schuldigen bei sich selbst oder bei anderen. Man fühlt sich der Willkür «anderer» ausgesetzt, so wie ein Ruderer ohne Ruder den Wellen ausgesetzt ist.
In einer Hinsicht jedoch sind wir alle Kinder geblieben. Denn Kinder sind genau so unwissend wie wir Erwachsenen: Beide haben keine Ahnung davon, dass die Folgen ihres Verhaltens – im Guten wie im Schlechten – eines Tages auf sie zurückfallen werden. Sie wissen nicht, dass ein Mensch jederzeit die Wahl hat, sein Tun und Lassen nach dem Guten (Heilsamen) oder Schlechten (Unheilsamen) auszurichten.
Für diese Erkenntnis braucht es eine Bewusstwerdung, die nur durch Achtsamkeit, ehrliche Selbstbeobachtung, Selbstakzeptanz, Selbsterkenntnis und tägliche geistige Erneuerung wachsen kann.
Was wir heute tun, ist das Wichtigste
Für diejenigen, die einmal der grenzenlosen Offenheit ihres Geistes begegnet sind oder wenigstens eine Ahnung davon haben, beginnt diese Nonstop-Praxis ganz von selbst.
Dann sind die Sätze, die wir vor und nach jedem Essen sprechen, nicht mehr blosse Floskeln. Wie zum Beispiel nach dem Frühstück:
Jeden Morgen werden wir neugeboren. Lasst Geist und Herz weit offen sein.
Denn, was wir heute tun, ist das Wichtigste.
Wenn man ganz da ist – hier und jetzt – und sich mit Haut und Haar Knochen auf das einlässt, was gerade geschieht, dann gibt es nichts Wichtigeres, als das, was gerade getan werden will. Am Beispiel des gegenwärtigen Retreats hat es jemand ungefähr so ausgedrückt:
Morgens früh strammen Schrittes den Weg hinan gehen (Kinhin), die Sutras aus voller Kehle chanten, nach dem Frühstück mit Hingabe die Toilette putzen, in der Sitzmeditation den inneren Film vorbeiziehen lassen, ohne mitzuspielen oder sich einzumischen, beim Mittagessen jeden Bissen kosten, nachmittags das im Dharma-Vortrag Gehörte kauen und verdauen, beim Qi Gong die Muskeln spannen und entspannen, abends sitzen, bis die Knie schmerzen, und nachts sich vertrauensvoll dem Vertrauen in den eigenen Geist übergeben.
Also weiter so. Wir sind erst in der Mitte der Woche.

Jeder Tag ist ein neuer Tag
- Wochenretreat 25, 1.Tag : Nonstop-Zen
- Wochenretreat 25 2. Tag: Das Curriculum der Zen-Schule
- Dharma-Vorträge