Eigene Kraft und andere Kraft

Wochenretreat 2025, 4. Tag

Eigene Kraft und andere Kraft – Seit drei Tagen konzentrieren wir unser Denken und Handeln vollkommen auf das bewusste Dasein im Hier und Jetzt und auf die Sitzmeditation. Für unseren normalerweise zerstreuten Geist mag dies recht anstrengend sein. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass diese Anstrengung der eigenen Körper- und Geisteskraft nur ein Aspekt der geistigen Suche ist.

Parallel zu unserem Bemühen wirkt nämlich in den tieferen Schichten des Bewusstseins auch eine andere Kraft und zwar die Kraft der Erkenntnis des ursprünglichen klaren Geistes.

Unterscheidung von eigener Kraft und anderer Kraft

Die Unterscheidung zwischen «eigener Kraft» (jap. Jiriki) und «anderer Kraft» (jap. Tariki) ist ein zentrales Prinzip der zen-buddhistischen Philosophie. Es beschreibt zwei sich ergänzende Aspekte der Zen-Praxis, ohne deren Zusammenwirken kein Fortkommen auf diesem Weg möglich ist..

Die «eigene» Kraft, Jiriki, bezieht sich auf das, was wir aus eigener Geisteskraft tun können. Die «andere» Kraft, Tariki, betont das, was der ursprüngliche klare Geist aus sich selbst heraus bewirkt. Mit anderen Worten: Die «eigene» Kraft ist mit dem limitierten Ich-Bewusstsein verknüpft, während die «andere» Kraft sich auf die potentielle Erkenntniskraft der Urnatur bezieht, welche gemäss Buddhas Erfahrung und Lehre in jedem Lebewesen vorhanden ist und nur darauf wartet, freigesetzt zu werden.

Die eigene Kraft wird zum Beispiel mobilisiert, wenn man die Dharma-Lehre studiert, Selbstdisziplin und regelmässige Sitzmeditation übt. Ebenso, wenn man sich bei langen Sitzperioden darum bemüht, Schmerzen in den Beinen und Momente der Ratlosigkeit, Einsamkeit oder Frustration nicht zu bekämpfen, sondern sie wie Wolken am Himmel des Gewahrseins zu sehen und vorbeiziehen zu lassen, was nicht so ohne Weiteres gelingt.

Die andere Kraft ist vergleichbar mit Pflanzen, deren Wurzeln in der Dunkelheit verankert sind, und deren Triebe ganz natürlich dem Sonnenlicht entgegenstreben, wobei sie selbst harte Mauern durchbrechen können. Ebenso streben die in unserem wahren Wesen angelegten Fähigkeiten zu Weisheit und Mitgefühl aus sich selbst heraus nach Verwirklichung im menschlichen Tun und Lassen.

Es ist, wie mein Lehrer H. Platov zu sagen pflegte: «Du denkst, du bist es, die nach Wahrheit sucht, doch die Wahrheit sucht auch dich.» Ein anderer meiner Lehrer (Eido Shimano Roshi) sagte es so: «So, wie du dich dem Dharma gibst, so gibt sich das Dharma dir.»

Dieses Prinzip fand seinen deutlichsten Niederschlag im Tao Te King von Laotse. Dort wird es als die Kardinaltugend von «Tun im Nicht-Tun » oder «Handeln ohne zu handeln» von allen Seiten beleuchtet und gelobt.

Die Einheit von eigener und anderer Kraft.

Eine vor längerer Zeit verstorbene Freundin, die fast ihr ganzes Leben lang intensiv und konsequent Nonstop-Zen praktizierte, schenkte mir einst eine poetische Beschreibung eines ihrer tiefsten Erlebnisse:

«Eines Tages wachte ich auf und wusste: Hier bin ich – ein Bewusstsein aus Fleisch und Blut mitten in dieser Welt, geborgen im unendlichen All.
Schon oft geboren, schon oft gestorben.
Manchmal habe ich lange geschlafen, bin aber immer wieder aufgewacht.
Ich weiss nicht mehr, wie viele Mütter mich schon geboren haben,
an wie vielen Händen von Vätern, Omas, Opas, Tanten und Onkeln ich die Welt erkundet habe,
in wie vielen Religionen ich getauft, geweiht und benannt wurde,
in wie vielen Schulräumen, Tempeln, Moscheen, Synagogen und Kirchen ich Belehrungen erfahren habe, wie oft ich als Braut oder Bräutigam vermählt wurde,
wie viele Kinder und Kindeskinder meinem Leib entsprungen sind,
in wie vielen Särgen mein Körper beerdigt oder dem Feuer übergeben wurde.
Eines aber weiss ich jetzt gewiss: Meine Heimat, das unermessliche, namen- und formlose All, habe ich nie verlassen.»

Plötzliches Erwachen

Vermutlich haben einige von euch schon etwas Ähnliches erlebt. Man wälzt ein Problem, das einen nicht loslässt. Dann geht man müde zu Bett und schläft ein. Plötzlich erwacht man aktuell oder im Traum und … Oh! – Die Lösung ist da!

Es kann auch sein, dass man im scheinbaren Wachzustand des Alltags mitten in einer Tätigkeit «plötzlich erwacht». Und das, was soeben noch verborgen war, liegt sonnenklar vor den eigenen Augen.

Die Zen-Überlieferung kennt zahlreiche Geschichten dieser Art. Da diese einen sehr wertvollen Einblick in die Wirkungsweise der «eigenen» und der «anderen» Kraft geben, möchte ich zwei davon erwähnen:

Am bekanntesten ist wohl die Geschichte von Kyōgen Chikan, einem Schüler des grossen Meisters Isan Reiyū.

Die Geschichte von Kyōgen

Kyōgen war ein gebildeter Mönch. Er konnte viele Sutras auswendig zitieren und war für seinen scharfen Verstand bekannt. Eines Tages fragte ihn sein Meister Isan: «Was ist dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden (um dich zu zeugen)?»

Kyōgen mobilisierte sein ganzes Wissen, um eine Antwort zu finden. Er durchforstete unzählige Schriften, dachte Tage und Nächte lang darüber nach. Doch jede Antwort, die er seinem Meister vorlegte, wurde als rein intellektuell und nicht als Ausdruck echter Erkenntnis zurückgewiesen.

Völlig frustriert erbat sich Kyōgen schliesslich die Erlaubnis, das Kloster verlassen zu dürfen. Er bezog eine verfallene Hütte beim Schrein des Sechsten Patriarchen Hui-neng und machte es sich zur Aufgabe, diese Gedenkstätte zu pflegen.

Monate vergingen. Eines Tages war er dabei, den Weg vor seiner Hütte zu fegen. Dabei erwischte sein Besen einen kleinen Kieselstein. Der Stein flog in die Luft und schlug gegen einen trockenen Bambusstock neben dem Weg. Als das dadurch erzeugte «Kling» auf Kyōgens Ohren traf, geschah es:

Alle seine intellektuellen Anstrengungen, alle Zweifel, alle Frustrationen lösten sich auf. Der Klang durchbrach die Mauern seines Denkens. Er erlebte ein tiefes und unmittelbares Verständnis der unmittelbaren Wirklichkeit, so wie sie ist.

Die Geschichte von Ananda

Wie ihr wisst, war Ananda der Cousin und ständige Gehilfe von Shakyamuni Buddha. Er war immer an dessen Seite und hörte alles, was der Buddha predigte. Dank seines ausserordentlichen Erinnerungsvermögens entging ihm kein Wort, sodass er noch Jahre später sämtliche Lehrreden fast wortgetreu wiedergeben konnte. Aber es blieb ihm versagt, deren Bedeutung zu verstehen.

Dieser Mangel war ihm lange Zeit nicht bewusst und kümmerte ihn auch nicht. Denn er dachte: «Solange ich meinem erleuchteten Onkel diene, wird sich dessen Weisheit von selbst auf mich übertragen.»

Doch dem war natürlich nicht so. Die Blumen wahrer Erkenntnis können nur im eigenen Geist wachsen und blühen.

Und so geschah es, dass Ananda im Alltag manchmal ganz schön in Verlegenheit geriet. Zum Beispiel wurde er einmal auf dem Bettelgang von einer jungen Frau, die es schon lange auf ihn abgesehen hatte, bezirzt.

Der Buddha, der gerade zu seiner Gemeinschaft sprach, sah mit seinem inneren Auge, dass Ananda kurz davor stand, sein Mönchsgelübde der Keuschheit zu verleugnen. Schnell rief er den Bodhisattva Manjushri herbei und beauftragte ihn, Ananda und die Frau auf der Stelle zu ihm zu bringen.

Und schwups waren die beiden da.

Der Buddha nahm Ananda nicht diskret zur Seite, sondern stellte ihn vor der versammelten Gemeinschaft zur Rede.

Der falsche und der wahre Geist

Zuerst erklärte der Buddha Ananda und uns allen, wie verhängnisvoll es sein kann, wenn man sich vom illusionären Ich, das nur seine Wünsche befriedigt sehen will, leiten lässt. Er sagte in etwa: Ananda, du warst im Begriff, etwas zu tun, das du sehr lange bereuen würdest. Nicht weil Sex schlecht ist, aber mit deinem fehlenden Verständnis würde es dich nachhaltig verwirren und von deinem Weg ablenken. Weisst du eigentlich, wer du in Wirklichkeit bist?

Daraus entwickelte sich eines der tiefgründigsten Sutras des Mahayana Buddhismus, das Shurangama Sutra. Im Wesentlichen geht es dabei darum, durch die wahre, unzerstörbare Natur des Geistes vom illusionären, konditionierten, denkenden Geist zu unterscheiden. Und zwar durch die direkte Erfahrung und nicht bloss durch Hörensagen. Zu diesem Zweck demolierte der Buddha den Glauben an und sämtliche Vorstellungen von einem permanenten, handelnden Selbst namens Ich.

Leider fehlte Ananda trotz aller Erklärungen Buddhas die geistige Kraft, diese Unterscheidung zu machen, sodass er im denkenden Ich-Geist gefangen blieb.

Ananda erwacht

Nachdem der Buddha gestorben war, übernahm Mahakashyapa die Rolle des Lehrers in der Sangha. Obwohl Ananda dabei war, als der Buddha in seiner berühmten Blumenpredigt Mahakashyapa zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, fragte er Mahakashyapa wieder und wieder, was er von Buddha bei dieser Gelegenheit bekommen habe. Er konnte nicht verstehen, dass die klare Sicht der Wirklichkeit keine Sache des Verstandes ist sondern nur ohne Worte von Herz zu Herz übermittelt werden kann.

Mahakashyapas Antwort war immer gleich: «Der Buddha hat mir nichts gegeben. Schau, meine Hände sind leer.» Doch Ananda insistierte: «Der Buddha muss dir etwas gegeben haben, warum sagst du es mir nicht?» Er konnte nicht verstehen, dass die Wirklichkeit

Schliesslich schaute Mahakashyapa Ananda in die Augen und sagte: «Ananda!»
Ananda schaute fragend zurück: «Ja?»
Noch zweimal rief Mahakashyapa «Ananda!» und Ananda fragte zurück «Ja?»
Beim dritten Mal sagte Mahakashyapa: «Ananda, öffne das Fenster!»

Als Ananda noch immer nicht begriff, verlor Mahakashyapa die Geduld. (Er besass noch nicht den Grossmut von Shakyamuni Buddha. Voller Unmut fuhr er Ananda an: «Ich bin es müde, dir andauernd dasselbe zu sagen: Der Buddha hat mir rein gar nichts gegeben. Du Dussel, bist es nicht würdig, ein Schüler von Buddha genannt zu werden. Geh weg und komm mir erst wieder unter die Augen, wenn du verstehst.»

Der arme Ananda war am Boden zerstört. Er verliess das Kloster und ging in den nächstgelegenen Wald. Als er sich, völlig erschöpft von der ganzen Sucherei, zum Schlaf hinlegte, stiess sein Kopf gegen eine harte Wurzel – Autsch! Im selben Moment, als das «Autsch» ihn durchfuhr, geschah es: Es wurde still und Ananda erlebte seine wahre spontane Urnatur.

Kaum war der Morgen angebrochen, eilte er ins Kloster und klopfte an die Türe von Mahakashyapas Zimmer. Mahakashyapa fragte: «Wer ist da?» Ananda rief: « Ich bin’s, Ananda, –ich habs, ich habe verstanden.»
«Ok», tönte die Stimme aus dem Zimmer, «Wenn du es hast, wenn du verstehst, dann komm durch das Schlüsselloch herein». – Und Ananda betrat das Zimmer durch das Schlüsselloch. (Siehe auch Vortrag von H. Platov : Durch das Schlüsselloch

Grundlagen des Erwachens

Alle Erfahrungsberichte eines «plötzlichen Erwachens» haben folgende Merkmale gemeinsam:

  • Der Geist der betroffenen Personen ist mit einer «grossen Frage» beschäftigt. Es handelt sich dabei nicht um intellektuellen Wissensdurst oder Zweifel, sondern um eine tiefe, existenzielle, instinktive Fragestellung. «Was ist die Buddha-Natur?», «Wer bin ich in Wahrheit?» sind perfekte Beispiele dafür.
  • Das konzeptuelle Denken muss alle seine Möglichkeiten ausschöpfen. Wenn der Intellekt (die eigene Kraft) nicht mehr weiterkommt und gegen eine «undurchdringliche Wand stösst», bleibt ihm nichts anderes übrig, als aufzugeben.
  • In dem Moment, wo der Kampf aufgegeben wird und man «nichts mehr weiss», ist der Geist völlig offen und ungeschützt. Nun steht der «anderen Kraft» nichts mehr im Weg. Sie kann ihre Wirkung im von allem entleerten Geist entfalten. Die (scheinbare) Trennung zwischen Innen und Aussen und die Unterscheidung von eigener oder anderer Kraft ist aufgehoben. Man sieht das Ganze, die wahre Natur, in einem Blick, so wie sie ist.
  • «Plötzlich» ist dieses Erwachen nur insofern, als dass es in einem völlig unerwarteten Augenblick geschieht. In Wirklichkeit geht ihm eine lange Zeit der Reifung voraus – Jahre der Meditation und eines ethischen Lebenswandels zum Beispiel entlang des Edlen achtfachen Pfades. Es ist wie bei einer Frucht, die lange heranreift und dann, wenn die Zeit reif ist, vom Baum fällt.

Weder das eigene Ich noch der Lehrer oder die Lehrerin können diesen Prozess erzwingen. Das Einzige, was man tun kann und sollte, ist die stetige Fortführung der Praxis mit zunehmendem Verstehen, weiser Geduld und grossem Vertrauen in den eigenen Geist.

Auch dafür möchte ich euch zwei Beispiele geben:

Aufgeben

Einmal beschäftigte sich eine Nonne, monatelang Tag und Nacht mit der Frage nach ihrer Urnatur. Beim Essen, beim Zazen, bei der Arbeit im Garten oder in der Küche, immerzu fragte sie: Was ist mein wahres Wesen? Wer sitzt, geht, schmeckt die Speise? Wer bin ich?

Während eines Retreats in ihrem Kloster ging sie zu ihrer Meisterin und gestand frustriert und übermüdet: «Ich komme einfach nicht weiter.» Die Meisterin lächelte und sagte: «Weisst du was, gib deine Anstrengung auf! Leg dich schlafen und überlass es der anderen Nonne!»

Nicht dass ihr jetzt denkt, ihr könntet euch hinlegen und das Meditieren eurer Sitznachbarin oder eurem Sitznachbarn überlassen. Die «andere» Nonne ist keine Person.

Wie ist der Rat der Meisterin dann aber zu verstehen?

Unterscheiden zwischen wahr und falsch

Zur Erinnerung: Als Ananda im Begriff war, einer fatalen Verfehlung zu unterliegen, nutzte der Buddha die Gelegenheit dazu, zu erklären, wie wichtig es ist, zwischen dem «falschen Geist» und dem «wahren Geist» zu unterscheiden. Natürlich sind das nicht zwei getrennte «Geiste», sondern zwei Aspekte des einen Bewusstseins, das alles Leben erzeugt und durchdringt.

Der «falsche Geist» ist der denkende, unterscheidende, konzeptuelle Geist, der sich ständig im Wandel befindet. Es ist der Geist, der äusseren Objekten nachjagt, Emotionen erlebt und dem Kreislauf von Geburt und Tod unterworfen ist. Er ist nur insofern «falsch», als dass er wegen seiner Unbeständigkeit und Verzerrung ein falsches Bild der Wirklichkeit für die Wahrheit hält.

Dies ist der Geist, den wir in unserem täglichen Leben benutzen und mit dem wir uns identifizieren: Meine Gedanken, meine Gefühle, meine Erinnerungen, meine Erfolge, meine Schwächen … das bin ich.

Wenn wir dies verstehen, das heisst, wenn wir unseren gewöhnlichen Geist kennen, verstehen und in seiner Unzulänglichkeit akzeptieren, dann können wir uns auch davon distanzieren. Dann kommt das Ich – wie H. Platov zu sagen pflegte – an seinen richtigen Ort.

Der «wahre Geist» ist das grundlegende, leuchtende, allgegenwärtige Bewusstsein, das allen Phänomenen zugrunde liegt. Das ist die «andere Nonne» – die andere Kraft – der wir uns hingeben und überlassen sollten und dürfen, wenn unser Denken nicht weiterhilft. Mit ihrer Weisheit und ihrem Mitgefühl, das uns selbst und alle anderen Lebewesen umfängt, kann man tatsächlich inneren Frieden finden, ohne die Konflikte und Leiden der Welt zu verleugnen oder zu ignorieren.

Die goldene Stunde

Einige von euch hatten schon die Gelegenheit, an traditionellen Sesshin im japanischen Stil teilzunehmen. Diese sind bekannt für ihre Strenge und Disziplin. Die Sitzperioden sind sehr lang, die Schlafperioden sehr kurz. Auf brütende Hitze oder klirrende Kälte oder Schmerzen in den Beinen wird keine Rücksicht genommen.

Manche unverständige Menschen meinen, es handle sich dabei um einen Ausdauertest. Dem ist natürlich nicht so. Wer über diese falsche Idee hinweggekommen ist, weiss es besser. Denn, wie soeben gesagt: Wenn die Grenzen des Bekannten erreicht sind und der Wille nicht weiterkommt, übernimmt die «andere Kraft» und befreit das Ich von seinen Anstrengungen.

In den traditionellen Sesshins ist es üblich, dass der Abt und Meister des betreffenden Klosters zu einer bestimmten Abendstunde die meditierende Mönchsgemeinschaft in der Meditationshalle (Zendo) besucht. Man nennt diese spezielle Meditationsperiode die «goldene Stunde».

Der Meister durchschreitet quasi im Zeitlupentempo die Reihen der Sitzenden. Seinem scharfen Blick entgeht nichts; er sieht schon beim Eintritt in die Halle den momentanen Geisteszustand jeder einzelnen Person.

In der Hand hält er den sogenannten Aufweckstock (jap. Keisaku), der dazu dient, bei Bedarf die verspannten Schultern oder die Rückenmuskulatur der Sitzenden durch zwei bis drei kraftvolle, wohl platzierte Schläge zu lockern.

Hier ist ein Beispiel aus der Zeit, als der später berühmte Zen-Meister Rinzai Gigen (Lin-chi I-hsuan), ein (bereits) fortgeschrittener Schüler von Meister Obaku Kiun (Huang-po Hsi-yün) war.

Wahre Gelassenheit

Einst betrat Obaku das Zendo seiner Schülerschaft. Alle Mönche sassen stramm aufrecht und hellwach auf ihren Kissen. Nur Rinzai sass leicht vorgebeugt in schlaffer Körperhaltung und schlief.

Bei ihm angelangt, stellte sich Obaku vor Rinzai hin und klopfte mit dem Stock lautstark auf den Boden. Alle Mönche erschraken. Rinzai aber hob bloss die Augenlider und kehrte in seine Versenkung zurück. (So als ob er sagen wollte: Ach, es ist bloss der Meister, der einen solchen Lärm veranstaltet … kein Grund zu Sorge!)

Als der Meister die den Rundgang durch die Reihen beendet hatte, sagt er: «In diesem grossen Zendo mit hundert Mönchen gibt es nur einen, der richtig meditiert.»

Durch die Praxis der Meditation auf allen Ebenen der Sinne, Emotionen und Gedanken, kann man erkennen: Sowohl der «falsche Geist» als auch der «wahre Geist» sind Schwingungen des einen Bewusstseins – unbeständig und vergänglich, ohne Ich, weder «falsch» noch «wahr».

Bewusstsein = Schwingung des Lebensenerie

Bewusstsein ist die Schwingung, die dynamische Energie des lebendigen Universums. Genauso wie die Wellen von Wasser oder von Klängen treffen die Impulse des aktuellen Geschehens in unterschiedlichen Schwingungsfrequenzen auf unsere Sinnesorgane. Ein lauter Knall oder ein leises Geräusch treffen auf das Trommelfell in den Ohren. Ein Lichtblitz oder die zitternden Farben und Formen einer Fata Morgana treffen auf die Retina der Augen. Ein Wort oder ein Gedanke bewegen den Geist. Eine Emotion bewegt das Herz.

Die Schwingungen aller Lebewesen durchdringen sich gegenseitig, werden von anderen abgelenkt, überlagert oder verzerrt. Das Ziel der buddhistischen Meditation ist es, diese ständigen Bewegungen im eigenen Körper, Geist und Gemüt direkt wahrzunehmen, ohne mit dem eigenen Willen einzugreifen. Denn wenn man die Wellen nicht zu manipulieren versucht, kommen sie alle irgendwann zur Ruhe.

Die Berge erodieren, Sonnen und Sterne erlöschen, Körperzellen sterben ab, Gedanken vergehen, Gefühle verblassen. Aber wie das physikalische Energiegesetz besagt: Energie kann nicht erzeugt oder vernichtet werden, sondern nur von einer Form in eine andere umgewandelt werden. Dasselbe gilt für die geistige Energie namens Bewusstsein.

Wer zu dieser Wahrheit erwacht ist, kann mit Fug und Recht sagen:

Hier bin ich – ein Bewusstsein aus Fleisch und Blut, mitten in dieser Welt, geborgen im unendlichen All.
Schon oft geboren, schon oft gestorben.
Manchmal habe ich lange geschlafen, bin aber immer wieder aufgewacht …
Eines aber weiss ich jetzt gewiss: Meine Heimat, das unermessliche, namen- und formlose All habe ich nie verlassen.

Schlusswort

Mögen wir alle die uns verbleibenden Tage, in diesem Retreat hier und im Alltag danach, dazu benutzen, den Boden unseres Geistes durch eigenes Bemühen zu lockern und von steinigen Hindernissen zu befreien, damit er gut durchlüftet und durchlässig wird. Wenn wir das Vertrauen und die Geduld in die ursprüngliche Kraft unseres Geistes pflegen und bewahren, kann die Frucht der Erkenntnis in uns wachsen und reifen.

Wenn man alles aufgibt, nur dieses Bemühen und Vertrauen nicht, dann wird man irgendwann endgültig erwachen. Egal wie viele Leben und Tode noch zu durchlaufen sind, bis es soweit ist.

Denn man kann die ursprüngliche Heimat gar nicht verlassen. Man kann gar nicht aus dem Geist des Universums fallen. Genauso wenig kann man durch Anstrengung erleuchtet oder ein Buddha werden.

Dieses Wissen, diese Gewissheit, ist schon immer da! Erleuchtung heisst bloss, das zu realisieren!

Eigene Kraft und andere Kraft

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