Das Ungeborene – AWH, Tagesretreat April 2021
Im 17. Jahrhundert lebte in Japan ein Meister namens Bankei Eitaku (1622-1693). Dieser hatte es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Lehre des Bodhidharma und damit das praktische Zen auf verständliche Art in den Alltag der ganz gewöhnlichen Menschen zu bringen. Sein Wirken ging als Die Lehre vom Ungeborenen in die Geschichte ein.
Da er auch Lehrer am Kaiserhof war, erhielt er den Beinamen Kokushi, auf deutsch «National-Lehrer». Obwohl er vor gut dreihundert Jahren lebte, ist seine Lebensgeschichte zeitlos und hoch aktuell. Was er erlebte und entdeckte, könnte auch einem Menschen der heutigen Zeit geschehen sein.
Der vorliegende Dharma-Vortrag gibt eine Einführung in die direkte und klare Sicht eines herausragenden Zen-Meisters. Sie ist verbunden mit dem Wunsch, die Leserschaft zu animieren, das ganze Buch mir dem Titel Die Zen-Lehre vom Ungeborenen zu lesen. Es ist ein nicht nur eine Quelle von tiefster Weisheit, sondern darüber hinaus ein Zeugnis vom tiefgründigen Humor eines vollendeten, klarsichtigen Menschen und ein echtes Lesevergnügen. Nicht nur für Zen-Begeisterte.
Das Leiden des jungen Bankei
Im Alter von elf Jahren hörte Bankei in der Schule einen Satz des berühmten chinesischen Philosophen Konfuzius. Dies gehörte damals in Japan zum normalen Schulstoff. Der Satz lautete: «Der Weg der Grossen Lehre besteht in der Klärung der strahlenden Tugend.» Bankei, der sehr wissbegierig war und das Leben nicht auf die leichte Schulter nahm, fragte den Lehrer, was «strahlende Tugend» sei. Der Lehrer antwortete so, wie er es in seiner Ausbildung zum Lehrer gelernt hatte: «Die strahlende Tugend ist die dem Menschen angeborene Natur des Guten.« Auf die Frage, was denn die angeborene Natur des Menschen sei, erhielt Bankei die Antwort: «Das Urwesen des Menschen.» «Was ist das Urwesen?» war seine nächste Frage. Die unergründliche Wahrheit des Himmels», lautete die Antwort.
Vom philosophischen Standpunkt her antwortete der Lehrer sicher korrekt, doch seine Antworten nützten dem Jungen nichts. Die philosophischen Formulierungen waren ihm schleierhaft. Da gab es offenbar eine «strahlenden Tugend», eine Art angeborene Natur des Guten, die aus der unendlichen Weite des Himmels stammt, und wer diese Tugend klärt, befindet sich auf dem Weg zur höchsten Weisheit. Doch was war damit gemeint?
Bankei war enttäuscht von seinem Lehrer, doch statt die Frage aufzugeben, verlor er alles Interesse am Schulunterricht. Er schwänzte die Stunden, die ihm nichts brachten, und besuchte stattdessen jeden Vortrag, jede religiöse oder philosophische Unterweisung, die in seiner Umgebung von irgendwelchen Gelehrten oder Wanderpriestern gegeben wurden.
Bankeis Vater war gestorben und der älteste Bruder hatte die Erziehungsverantwortung inne. Dieser ärgerte sich über den Eigenwillen seines jüngeren Bruders und schickte ihn weg. Auf sich selbst gestellt, machte sich Bankei auf die Suche nach einer Lösung seines geistigen Problems. Zuerst verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hausbursche bei Verwandten, später als Wandergeselle oder als Gastarbeiter in Tempeln und Klöstern.
Wanderjahre
Ein konfuzianischen Gelehrter riet Bankei, es doch einmal bei einem Zen-Meister zu probieren, da man sich in dieser Schule mit derartig verzwickten Problemen befasse. Doch in jener Gegend war kein solcher Meister zu finden. Also besuchte Bankei andere Tempel und Schulungszentren und meditierte selbständig über die «Strahlende Tugend».
Nach fünf Jahren fand er endlich einen Zen-Meister und wurde Mönch. Das Klosterleben gönnte ihm vorübergehend etwas Geistesruhe, da er sich nicht mehr so ganz unverstanden fühlte. Doch wirklich zufrieden war er nicht. Er verliess das Kloster und wanderte weiter von Tempel zu Tempel, von Lehrer zu Lehrer, immer auf der Suche nach jemandem, der ihm die letzten Zweifel nehmen könnte. Dazwischen folgten Perioden extremer Zurückgezogenheit, in denen er sich asketischen Übungen hingab. Die meisten Meister, mit denen er studierte, erkannten den quälenden Durst nach Klarheit und die kompromisslose Suche dieses jungen Mannes und unterstützten ihn, so gut sie konnten. Doch Bankei rieb sich an allen und allem, bis er nach mehr als zehn Jahren endlich erkannte, dass ihm niemand die Zweifel nehmen konnte und er, ganz auf sich gestellt, der Wahrheit in sich selbst vertrauen musste.
Auch vielen von uns geht es so. Wir hören etwas von «Gott», «allumfassender Liebe» von «Transzendenz», von «Buddha», von «absoluter Weisheit», vom «Urwesen», vom «heiligen Geist» und machen uns Vorstellungen davon. Dabei denken wir, es handle sich dabei um etwas Aussergewöhnliches, das «ich sein oder werden muss». Wir rennen von einem Lehrer zum anderen, lesen tonnenweise Ratgeber und sogenannte spirituelle Texte. Aber wir halten nie inne, um einmal einfach zu schauen, was wir eigentlich tun. Wir wollen Antworten von aussen, auf Fragen, die wir womöglich von anderen übernommen haben, die jedoch nur von innen her, durch das ehrliche Befragen seiner selbst, beantwortet werden können.
Das Ungeborene
Als er aufhörte, sich selbst zu kasteien und die Wahrheit in den Worten anderer zu suchen, entdeckte Bankei die ihm eigene innewohnende Weisheit. Er realisierte, dass jeder Mensch alles, was es zu einem freien und erfüllten Leben braucht, von Anbeginn in sich trägt. Erleuchtung, Frieden, Gelassenheit, strahlende Tugend, Klarsicht, Liebe – das alles sind nicht Tugenden, die man sich aneignen kann oder soll. Es sind natürliche Auswirkungen unseres ursprünglichen Wesens. Ein Mensch, der um sein wahres Wesen weiss und mit sich selbst in Ordnung ist, braucht sich nicht um diese Tugenden zu kümmern. Er stellt sich dem Fluss des Lebens nicht mit eigenen Vorstellungen, Zu- und Abneigungen entgegen und vergeudet sein Leben nicht damit, ständig mit sich selbst zu reden und zu hadern. Er ruht still im reinen Gewahrsein und kann seine Sinne und sein Denken ganz natürlich zum Wohle von sich selbst und der Mitwelt nutzen.
Um anzudeuten, dass unser ursprünglicher Geist, der alle Formen und Farben hervorbringt und unsere Welt erschafft, selber weder Form noch Farbe hat und nicht in Worten beschrieben werden kann, münzte Bankei dafür den Begriff «Das Ungeborene». Da die Wirklichkeit keine Form hat, also nicht geboren wird, kann sie auch nicht sterben. Für den Rest seines Lebens predigte Bankei nichts anderes als das Ungeborene und ermunterte seine Mitmenschen, dessen lebendige Wirklichkeit zu entdecken und darauf zu vertrauen.
Die Wirklichkeit jenseits von Begriffen und Konzepten
Natürlich hat Bankei das «Ungeborene» nicht erfunden. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab es Menschen, die von Erfahrungen berichteten, in denen sie mir einer Wirklichkeit in Kontakt kamen, die nicht definierbar ist und mit der reinen Vernunft nicht erfasst werden kann. In der Weltliteratur und in der Philosophie begegnet man diesem Prinzip in verschiedenen Begriffen, wie zum Beispiel: «das Absolute», «Gott», «der universale Geist», «das Urwesen», «Tao». Aus dem Zen-Buddhismus sind u.a. die Begriffe «Leerheit» oder «Mu» bekannt und in manchen buddhistischen Sutras findet man den Begriff «das Ungeschaffene». Man kann es als Erfahrung der Transzendenz umschreiben. Das sind Momente, in denen sich das Bewusstsein über seinen gewöhnlichen Zustand der Begrenztheit und der Ichbefangenheit hinaus gehoben und mit dem grenzenlosen Universalbewusstseins verbunden fühlt. Die ist ein höchst beglückender Zustand vollkommener Angstfreiheit und tiefer Freude.
Wer dies einmal erlebt hat, weiss um etwas, das ihm niemand wegnehmen kann. Allerdings hält dieser Zustand gewöhnlich nicht lange an. Schon bald setzt das gewohnte Denken und Handeln wieder ein. Die Erfahrung wird zur Erinnerung. Will man die Erinnerung nun festhalten oder das Erlebnis wiederholen, dann ist dieser Versuch prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Denn die direkte, lebendige Erfahrung ist ja eben keine «Sache», nichts, das man festhalten oder machen oder definieren kann. Die Erinnerung ist nur das Echo, der Schatten der Erfahrung. Die Erfahrung selbst ist jenseits der Zeit, jenseits von Sein und Werden – jenseits von allem Formgewordenen. Die Wirklichkeit kann vom reinen Gewahrsein «gesehen», aber niemals vom Verstand erfasst werden. Sie ist im wahren Sinne des Wortes ungeboren. Das Ungeborene wirkt in die Welt des Geborenen hinein, ist aber nicht im Werden und Vergehen des Gewordenen verwickelt.
Praxis:
Jemand sagte zu Bankei: «So oft ich einen Gedanken aus meinem Geist verbanne, erscheint sofort ein neuer. Und so erscheinen endlos weitere Gedanken. Wie soll ich tun?»
Bankei antwortete: «Gedanken aus dem Geist zu verbannen, ist wie das Abwaschen von Blut mit Blut. Vielleicht gelingt es dir, das ursprüngliche Blut fortzuspülen, doch dann bist du immer noch besudelt vom Blut, das du zum Waschen benutztest. … Da du nicht weisst, dass dein Geist ursprünglich ungeboren und unsterblich und ohne Verblendung ist, glaubst du, deine Gedanken besässen Wirklichkeit. So bleibst du an das Rad von Werden (Geburt) und Vergehen (Tod) gebunden. Werde dir klar, dass deine Gedanken flüchtig und unwirklich sind. Ohne an ihnen zu haften und ohne sie von dir zu weisen, lass sie einfach kommen und gehen. Sie sind wie Spiegelbilder. Ein Spiegel ist strahlend klar und spiegelt alles, was vor ihm erscheint. Doch das Bild bleibt nicht im Spiegel. Der universale (Buddha)-Geist ist zehntausendmal klarer als jeder Spiegel und überdies wunderbar erleuchtend. Alle Gedanken verschwinden spurlos in seinem Licht.»
Es gibt immer Menschen, die versuchen, diese Erfahrung philosophisch, theologisch, psychologisch oder künstlerisch zu beschreiben oder gar zu erklären. Wie Bankei erfahren musste, helfen die Worte anderer nichts. Also musste er alles selbstzentrierte Grübeln aufgeben und sein Denken und Handeln im Lichte des unpersönlichen oder besser gesagt des überpersönlichen Gewahrseins betrachten; dem Gewahrsein, das völlig passiv ist, das sich weder gedanklich noch emotional in das, was sich abspielt, einmischt. In diesem Licht wird der ganze illusorische Denkkomplex durchleuchtet und aufgelöst. Die unvoreingenommene Präsenz des Gewahrseins ist das Juwel der Erkenntnis das uns Menschen als Geburtserbe mitgegeben ist. Es liegt an uns, seinen hellen Glanz zum Leuchten zu bringen. Absichtslose und vorstellungslose Meditation ist das geeignete Mittel dazu.
Auszüge aus: Die Zen-Lehre vom Ungeborenen
Was ich «das Ungeborene» nenne, ist der Buddha-Geist. Dieser Buddha-Geist ist ungeboren, voller Weisheit. Im Ungeborenen finden alle Dinge ihren rechten Ort und sind in vollkommenem Einklang.
Ihr seid mit nichts anderem als dem ungeborenen Buddha-Geist in diese Welt gekommen, und doch wollt ihr in eurer Voreingenommenheit, dass die Dinge sich euren Wünschen gemäss fügen. Ihr geratet in Zorn, werdet streitsüchtig, denkt jedoch: «Ich bin nicht in Zorn geraten. Aber So-und-so hat mich zornig gemacht.» Ihr haftet streitsüchtig an seinen Worte und habt den kostbaren Buddha-Geist in einen streitenden Geist verwandelt.
Was auch immer jemand euch sagen mag, was auch geschieht, lasst die Dinge, wie sie sind. Bekümmert euch nicht darum und ergreift nicht Partei für euch selbst. Bleibt nur so, wie ihr seid, nämlich im Buddha-Geist, und macht ihn nicht zu etwas anderem, dann gibt es keine Täuschungen, und ihr lebt beständig im ungeborenen Geist.
Es ist falsch, wenn ihr versucht, das Ungeborene zu werden, und damit dem Geist, den ihr schon habt, einen zweiten aufsetzt. Ihr seid ungeboren von Anbeginn. Viele Menschen sprechen vom «Grundprinzip» des Ungeborenen, aber dergleichen gibt es im Ungeborenen nicht. Hätte das Ungeborene irgendein Prinzip, so wäre es nicht ungeboren. Ihr braucht nicht erst ungeboren zu werden. Das wahre Ungeborene hat mit Grundprinzipien nichts zu schaffen und ist jenseits von Werden und Erlangen. Sein, wie man ist – das ist es und sonst nichts.
Ein Mönch von auswärts trat vor und sagte: «Dies ist nicht Sein, nicht Nicht-Sein, nicht Leere.»
Bankei fragte: «Wo ist ‹dies› eben jetzt?» Verwirrt und wortlos wandte sich der Mönch zum Gehen.
Fragen und Antworten
Frage einer Frau: Ich habe gehört, Frauen hätten es wegen ihres schlechten Karma sehr schwer, Buddhaschaft zu erlangen. Ist das wahr?
Bankei: Wann wirst du eine Frau?
Frage: Wenn jeder Mensch mit einem Buddha-Geist geboren wird, dann sollten sich doch verblendete Gedanken gar nicht erst einstellen?
Bankei: Gerade jetzt, als du das sagtest – welche Verblendung gab es da?
Frage: Ich habe grosse Schwierigkeiten, alle Begierden und irrigen Gedanken in meinem Geist zu bezähmen. Was kann ich tun?
Bankei: Die Vorstellung, irrige Gedanken zu bezähmen, ist selbst ein irriger Gedanke. Keiner dieser Gedanken ist von Anfang an da. Du beschwörst sie selbst aus deinen Unterscheidungen herauf.
Ein Bauer: Da ich von Natur aus reizbar bin, kommen mir sehr leicht zornige Gedanken. Das lenkt mich von meiner Arbeit ab. Es ist für mich äusserst schwierig, im Ungeborenen zu bleiben. Was kann ich tun, damit mein Geist im Einklang mit dem ungeborenen Geist bleibt?
Bankei: Da der ungeborene Buddha-Geist etwas ist, mit dem du – wie jeder andere – geboren wurdest, ist es gar nicht möglich, ihn jetzt neuerdings zu erlangen. Widme dich einfach deiner Landarbeit und denke an nichts anderes. Das ist das Wirken des ungeborenen Geistes. .. . Übrigens kannst du deine Hacke auch schwingen, wenn du zornig bist. Nur wird deine Arbeit dann – da Zorn ein Übel ist, das dich an die Hölle bindet – eine harte und beschwerliche Pflicht. Hackst du aber mit einem Geist, der nicht von Zorn und ähnlichen Dingen umwölkt ist, so ist die Arbeit leicht und angenehm. Sie ist dann einfach Ausübung des Buddha-Geistes, ungeboren und unsterblich.
Frage: Meister, ich habe gehört, dass Ihr den Menschen geradewegs ins Herz schauen könnt. Was denke ich eben jetzt?
Bankei: Du denkst das.