Wochenretreat 2025, 2. Tag
Ein Curriculum umfasst in der Regel die Ziele, Inhalte, Methoden, die für die Ausbildung von Schülern oder Studenten festgelegt sind. Heute möchte ich etwas dazu sagen in Bezug auf die geistige Schule es Zen-Buddhismus.
Grundverständnis und Grundvertrauen
Gestern wurde davon gesprochen, dass es für eine nachhaltige und wirksame Zen-Praxis ein Grundverständnis für die Lehre des Dharma und ein Grundvertrauen in den eigenen Geist braucht.
«Dharma» bedeutet hier die fundamentale Wahrheit über die Natur der Realität – das unumstößliche Gesetz von Ursache und Wirkung (Karma). Der Begriff steht aber auch für die Lehren des historischen Buddha Siddhartha Gautama, die den Weg zur Befreiung vom Leiden aufzeigen.
Im buddhistischen Sinn ist Vertrauen oder Glauben in den eigenen Geist kein blinder Glaube, sondern eine Gewissheit.
Gewöhnlich beruht das, was man unter Selbstvertrauen versteht, auf den eigenen Talenten, beruflichen Erfolgen oder auf sozialer Anerkennung. Das buddhistische Vertrauen in den Geist jedoch hat nichts mit den äußeren Umständen der Person zu tun. Es ist das Vertrauen in die grundlegende Weisheit des reinen Bewusstseins.
Unter «reinem Bewusstsein» versteht man den Zustand des klaren, unverfälschten Gewahrseins. Gewöhnlich ist dieses zwar durch die gewohnten subjektiven Bewertungen, Vorurteile oder emotionale Verzerrungen getrübt, doch es kann weder zerstört werden noch sterben. Diese Gewissheit, dieses Vertrauen ist die Grundlage der buddhistischen Praxis.
In unserer Kultur werden uns weder das Wissen um das Dharma noch das Vertrauen in den eigenen Geist in die Wiege gelegt oder in der Schule beigebracht. Wir müssen beides selber entdecken und entwickeln. Das ist ein langer Weg.
Auf diesem Weg ist jeder auf sich selbst gestellt. Wir haben zwar Landkarten und Wegbeschreibungen aus früheren Zeiten zur Verfügung, aber wissen nicht, wie lange die Reise dauern wird und wohin sie letztendlich führen wird. Aus diesem Grund bedarf es einer starken Motivation, einer unerschütterlichen Lernbereitschaft und einer Praxis ohne Unterlass. Lasst mich diese Aspekte etwas vertiefen.
Motivation
Wir Menschen fangen in der Regel erst an, über das Leben nachzudenken, wenn wir in Schwierigkeiten sind, nicht wahr? Vielleicht ist jemand gestorben, der einem nahestand, vielleicht ist man plötzlich krank oder hat Hab und Gut verloren. In einigen Fällen ist die Sinnfrage eines Tages einfach da, ohne einen bestimmten Grund.
Wie dem auch sei. Wir alle sind irgendwann auf die Lehre und Praxis des Zen-Buddhismus gestoßen. Und nun stehen wir da in diesem grossen weiten Geistesraum und wissen oft nicht, wie weiter. Es ist, wie der Weise J. Krishnamurti sagte: Der Weg (der Erkenntnis) ist ohne Weg!
Gemäß Buddhas «Lehre des bedingten Entstehens» bringt jedes Lebewesen außer dem artspezifischen Körper mit den artspezifischen Sinnen und dem grundlegenden Bewusstsein auch individuelle Veranlagungen und Neigungen mit in die Geburt.
Diese sogenannten Geistesformationen (Samskāra) steuern die positiven oder negativen Reaktionen auf die angenehmen und unangenehmen Sinneseindrücke. Auf diese Weise bildet sich in jedem menschlichen Gemüt ein individuelles Konglomerat aus Sehnsüchten,Neigungen und Abneigungen, die das konkrete Handeln motivieren. Heutzutage nennt man dies «genetische Veranlagung», im Buddhismus spricht man von Karma.
Es wäre jedoch absolut falsch, die Veranlagungen als Vorbestimmung zu definieren oder als Zwangsschicksal, dem man nicht entkommen kann.
In Buddhas Verstehen beruhen alle karmischen Taten der Menschheit in der fundamentalen Unwissenheit über das wahre Wesen der Wirklichkeit. Dementsprechend zielte seine ganze Lehre darauf hin, das Bewusstsein seiner Schüler vom Unwissen zum Wissen zu führen. Er wies unermüdlich darauf hin, dass jeder einzelne Mensch für das Glück und Leid aller Lebewesen in dieser Welt mitverantwortlich ist.
Indem man sich der eigenen Denkgewohnheiten, Motivationen und Handlungen bewusst wird und deren heilsamen oder unheilsamen Folgen bedenkt, kann man sein Schicksal in jedem Augenblick des Lebens zum Guten oder Schlechten wenden. Natürlich kann niemand mit Sicherheit wissen, ob eine Handlung gute oder schlechte Fürchten trägt. Manchmal entpuppt sich das, was man für gut hält, als schlecht und umgekehrt. Das, was zählt, ist die Motivation, die Absicht, der Wille, mit der man eine Tat vollzieht.
Heilsame Motivationen:
Als förderliche und zielführende «gute» Motivationen gelten:
- Innere Dringlichkeit: Das Vorhandensein einer nicht intellektuellen, radikalen Notwendigkeit. Man wird sozusagen von innen angetrieben, Antworten auf die Frage: «Was ist die wahre Natur meines Selbst?» zu suchen.
- Zweifel: Die radikale Bereitschaft, alle konzeptuellen Ideen im Feuer der Erkenntnis zu verbrennen. Dies betrifft vor allem das zähe Haften an den Vorstellungen von einem Ich, von Lebenszeit oder von Sterben und Tod.
- Mitgefühl: Die «Erlösung» wird nicht nur für sich selbst, sondern zum Wohle aller fühlenden Wesen angestrebt. Das „Ich“ steht im Dienst der Allgemeinheit.
Von der Dunkelheit zum Licht
Der Wandlungsprozess von der Dunkelheit der Unwissenheit zum Licht der natürlichen Weisheit wird oft am Beispiel einer Lotuspflanze versinnbildlicht:
Die Wurzeln des Lotus sind im dicken Schlamm verankert; der Stängel wächst durch das trübe Wasser dem Himmel entgegen. Über der Wasseroberfläche entfalten sich grüne Blätter, die zusammen mit den Wurzeln den ganzen Organismus der Pflanze nähren und zahlreichen kleinen und kleinsten Lebewesen Schutz und Unterkunft bieten. Über den Blättern öffnen sich die Blüten, die wegen ihrer Reinheit und Strahlkraft als Symbol der vollkommenen Erleuchtung gelten.Denn an den Blütenblättern eines Lotus bleibt keine Verunreinigung haften. Selbst sauerer Regen kann ihnen nichts anhaben.
In Bezug auf den Menschen wird die Entfaltung des Bewusstseins vom trüben zum klaren Zustand oft auch mit einer Schule verglichen – einer geistigen Schule des Lebens, in der jeder Mensch verschiedene Stufen und Stadien durchläuft.
Dieser Vergleich ist natürlich nur teilweise zutreffend. Im Gegensatz zur weltlichen Schule gibt es in der Geistesschule weder Noten noch Zeugnisse noch die Autorität von Lehrpersonen, die das Erreichen eines gegebenen Klassenziels vorgeben und vorantreiben.
Trotzdem lassen sich einige Parallelen ziehen. Denn auch im Buddhismus gibt es ein gewisses Curriculum, das die Leitplanken für den geistigen Entwicklungsprozess absteckt.
Das Curriculum der zen-buddhistischen Geistesschule
Wie schon oft betont, sind Meditationsretreats und Dharma-Vorträge nicht dafür da, uns selbst zu optimieren oder das unsichere Ego zu trösten. Auch ist es nicht Ziel und Zweck der Zen-Schulung, ständig am Ich herumzuflicken. Außerdem gibt es keine Hierarchie, keine Unterteilung in Anfänger und Fortgeschrittene. Bachelor, Master, Doktoranden oder Professoren sucht man hier vergebens.
Das allgemeine Leitmotiv der Zen-Schule ist für alle gleich, egal auf welcher Stufe und in welchem Erkenntnisstadium man sich gerade befindet. Wenn man den inneren Kompass danach ausrichtet, wird selbst ein scheinbar unspektakulärer Alltag zu einer Abenteuerreise der Nonstop-Praxis.
- Jeden Augenblick, jede Situation des gegenwärtigen Lebens als Gelegenheit zum Erwachen annehmen.
- Alle geistigen Fähigkeiten benutzen, um an den unsterblichen Urgrund des Seins zu gelangen und zu erkennen, wer «ich» bin.
- Den Wert des Lebens hochschätzend als «gewöhnlicher» Mensch unter Menschen leben, frei von Eigendünkel oder Wehleidigkeit.
Auch die fundamentalen Lernziele und «Aufgaben» sind für alle dieselben.
- Entwickeln von rechter Sicht: Sich selbst und alle Dinge so sehen, wie sie sind und nicht, wie man denkt, dass sie sein sollten.
- Entwickeln von Weisheit und Güte: Wenn das Wissen um die Unsterblichkeit des wahren Wesens erwacht, erwachen auch Mitgefühl und Wohlwollen mit allen Wesen ganz von selbst.
- Rechtes Tun: In Übereinstimmung mit den Erkenntnissen handeln und der Wahrheit nicht widersprechen.
Wie wäre es, wenn man es sich zur Gewohnheit machen würde, jeden Abend vor dem Zubettgehen, kurz innezuhalten und Rückschau zu halten in Bezug auf diese drei Aspekte der Nonstop-Praxis?
Die Lernschritte der Zen-Schule umfassen folgende Übungsfelder:
- Hören/studieren/kontemplieren/meditieren
- Praxis: Alle diese Aktivitäten machen nur dann einen Sinn, wenn sie im Alltag zur Anwendung kommen.
Als Lehrmittel für die zen-buddhistische Geistesschulung stehen uns unzählige überlieferte Sutras, Abhandlungen, Erfahrungsberichte und Expertisen zur Verfügung. Die Interessen und Vorlieben für deren Nutzung mögen sich bei den einzelnen Schülern unterscheiden. Das hängt von den persönlichen Veranlagungen und/oder von der jeweiligen Tiefe der Erkenntnis ab.
Grundtext
Es gibt jedoch einen Schlüsseltext, der allen Zen-Adepten den Weg weist, egal ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende ihres Übungsweges stehen. Das sogenannte Herz-Sutra ist eine Zusammenfassung des tiefgründigen und sehr umfangreichen Prajñāpāramitā-Sutra. Es enthält die in Worte gefasste Quintessenz der höchsten Erkenntnis des Buddhismus.
Lasst uns nun die erwähnten Lernschritte am Beispiel dieses Sutras kurz erproben.
Das Herz-Sutra der großen Weisheit (jap. Maka Hannya paramita shingyo
Hören
Wie fast alle Sutras beginnt auch dieses mit der Beschreibung der Ausgangslage und mit einer Frage:
«So habe ich gehört: Einmal weilte der Erhabene im Geierberg bei Rajagriha zusammen mit einer großen Mönchsgemeinde und mit vielen Bodhisattvas.
Zu dieser Zeit wandte sich der ehrwürdige Shariputra an den erhabenen Bodhisattva Avalokiteshvara und fragte ihn: „Wie soll ein Bodhisattva üben, der die vollkommene Weisheit verwirklichen will?»
Avalokiteshvaras Antwort kam spontan aus der Stille der ich- und gedankenfreien Nonstop-Meditation. In der uns bekannten Kurzfassung heißt es (frei formuliert):
«Der Bodhisattva Avalokiteshvara, der tief in Prajnaparamita versenkt gewesen war und die Wirklichkeit gesehen hatte, antwortete: «O Shariputra, wer höchste Weisheit erfahren und verwirklichen will, soll wissen: Alle geformten Dinge sind in Wahrheit leer. Form ist Leere, Leere ist Form. Form und Lehre sind identisch. In der Leere gibt es keine Form, kein Empfinden, kein Denken.»
Wir alle haben das Herz-Sutra irgendwann zum ersten Mal gehört oder gelesen. Wohl kaum jemanden hat es auf Anhieb verstanden. Wenn wir ehrlich sind, sind uns die Worte noch heute schleierhaft, selbst wenn wir sie längst auswendig kennen.
Nur das Hören und Auswendiglernen von weisen Worten nützt also nichts. Man muss sie studieren, darüber nachdenken und in sich zum Leben erwecken.
Studieren
Das Studium beginnt damit, dass man sich mit den Begriffen und dem Kontext der gehörten Aussagen vertraut macht. Hier zwei Beispiele:
Der Bodhisattva Avalokiteshvara
Bodhisattvas sind Menschen, die ihre Lebenskraft bewusst für das geistige Erwachen einzusetzen, um damit sich selbst und andere von den leidvollen Täuschungen des gewöhnlichen Geistes zu befreien.
Avalokiteshvara wird manchmal weiblich, manchmal männlich dargestellt und hat zahlreiche alternative Namen. Für uns am geläufigsten ist der japanische Name Kanzeon. Dieser wird in der Regel übersetzt als «derjenige, der alle Hilferufe der Welt hört».
Weil man nicht realisiert, dass alle Wesen, die guten und die bösen, in einem selbst lebendig sind, sucht man sie außen. Das Herz-Sutra spricht jedoch von der Weisheit und dem Mitgefühl unseres innewohnenden Avalokiteshvara und nicht von einer mysteriösen, außerweltlichen Gestalt.
Shariputra – ein bekannter Hauptschüler Buddhas – verkörpert die Offenheit und Motivation eines ernsthaften Schülers. Er stellt diese Frage stellvertretend für uns selbst.
Die Tatsache, dass Shariputra seine Frage an Avalokiteshvara richtete und nicht an den Buddha selbst, deutet darauf hin, dass er nicht an Theorie oder Philosophie interessiert war, sondern an der Praxis. Er wollte konkret wissen, wie man die «Vollkommene Weisheit» (Prajna) im Leben anwendet, um zur Erleuchtung zu gelangen und alle Lebewesen von ihren Täuschungen und Irrungen zu befreien.
Moderne Hilfsmittel
Traditionelle Zen-Meister erklären bei ihrem Kommentar zu einem überlieferten Text immer zuerst das Wo, Wann und Wer. Doch wir sind in der Regel auf die Texte und Kommentare angewiesen, die in einer fremden Sprache niedergeschrieben wurden.
Als es noch keine Computer und kein Internet gab, erforderte dieses Studium oft das Durchwühlen ganzer Bibliotheken, das Erlernen von Sanskrit und/oder Chinesisch, gefolgt vom Vergleichen diverser Übersetzungen.
Heutzutage stehen uns fast alle Sutras und Erfahrungsberichte der verschiedenen Schulen im Internet zur Verfügung, inklusive ausgezeichneter Übersetzungsprogramme in diverse Sprachen. Selbst KI kann hilfreich sein. Man muss nur eine geeignete Plattform wählen und in der Lage sein, die richtigen Fragen zu formulieren. (Für das Studium buddhistischer Begriffe und Konzepte ist z.B. z.ai empfehlenswert. Man kann die Fragen auch auf Deutsch stellen.).
Das Übersetzen und Einordnen von Begriffen ist jedoch nur der Anfang. Intellektuelles Wissen allein ist noch lange kein wahrhaftiges Verstehen. Dazu braucht es weitere Schritte.
Kontemplieren
Wie wir wissen, basiert der Reichtum der buddhistischen Weisheitslehre auf den Erfahrungen und Erkenntnissen von Menschen, die ihre Fragen ohne technische Hilfsmittel direkt an ihren eigenen Geist gerichtet hatten. Mit offenen Augen, offenen Ohren, offenem Herz und offenem Verstand dachten sie tief über sich selbst und das Wunder des Lebens nach.
Doch die Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten von anderen Menschen – mögen sie noch so weise und tiefgründig sein – nützen uns nichts. Sie haben ihren Wert nur dann, wenn man sie als Wegweiser erkennt und benutzt. Nachdenken muss man selbst.
Kontemplieren bedeutet also, mit eigener Kraft tief über eine Sache, ein Thema nachzudenken, es zu kauen und von allen Seiten zu beleuchten. Das geht nur, wenn der Geist in einem vollkommen offenen, nicht-wissenden Zustand ist – ohne Vorurteile, Meinungen oder Dogmatismus. So, wie es ein Zen-Meister treffend ausdrückte, als er sagte: Der Zen-Geist ist ein Anfängergeist. Und zwar IMMER.
Bis ans Ende des Denkens
Obwohl der buddhistische Erkenntnisweg ohne Ende ist, gibt es etwas, das dabei zu Ende kommen muss, nämlich das rationale Denken.
Alles Denken, auch in der Form der Kontemplation, basiert letztendlich auf Erinnerungen an wiederholte Sinneseindrücke und daraus erworbenem Wissen; es ist in Sprache gefasste Vergangenheit. Sprache und Denken bedingen sich gegenseitig. Sie entwickeln sich im Laufe der Kindheit, sind also nicht unsere ursprüngliche Natur.
Außerdem beinhaltet Denken ein Ich als Subjekt und ein Nicht-Ich als Denkobjekt. Damit ist es in der Zweiheit, in der Welt der Gegensätze gefangen. Auch das ist nicht die Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit ist nicht dualistisch. In ihr gibt es nur das Zusammenspiel der elementaren Kräfte. Dieses ist weder zufällig noch chaotisch, es ist der Ausdruck einer Intelligenz oder Weisheit, die die menschliche Denkfähigkeit weit übersteigt. Um mit der Weisheit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, muss das linierte Denken überwunden oder transzendiert werden. Dort beginnt die Meditation.
Meditieren
Ohne Gegenstand und ohne Ich: Im Meditationszustand gibt es keine Worte und kein Ich. Wenn man sagt «ich meditiere» oder «ich mache Zen-Meditation», ist das immer noch eine mentale Aktivität und weit entfernt vom Zustand der Selbstvergessenheit, in dem man selber nicht existiert. So wie man nur im Schlaf nicht sagen kann: «ich schlafe», so kann man im Meditationszustand nicht sagen: «ich meditiere».
Somit ist alles, was man aus der Meditation angeblich «bekommt» oder «gewinnt», nicht die absolute, aktuelle Wirklichkeit.
Ohne Worte: Wenn man den Meditationsweg betritt, weiss man in der Regel (noch) nicht, dass die Wahrheit bereits in einem selbst schlummert. Man hat nur die Worte und Gedanken über «Meditation». Durch die Praxis der Kontemplation und des passiven Gewahrseins erahnt man nach und nach, worauf die Worte deuten. Dieser Ahnung «folgend» entfaltet sich im Geist eine Art Spürsinn, ein «intuitives Verstehen». Anstelle des Denkens tritt das Sehen.
Avalokiteshvara tief in Prajnaparamita versenkt sah deutlich …
Dieses Sehen ist nicht das Sehen mit den zwei gewöhnlichen Augen. Die körperlichen Augen sind zuständig für unsere objektive Erlebniswelt. Die zwei-äugigen Sicht sieht Formen und Farben. Analog dazu «hören» die zwei Ohren Geräusche, «riechen» die zwei Nasenlöcher Düfte, «formt» das zwei-geteilte Gehirn Gedanken.
Kurz gesagt: Die menschlichen Sinne, zu denen im Buddhismus auch das Gehirn gehört, wandeln alle Wahrnehmungen in Formen um. Und was Form hat (skrt. Rūpa), bekommt von unserem Denken auch einen Namen (skrt. Nama). Wir Menschen leben in einer von unseren Sinnen und unserem Bewusstsein gestalteten Erscheinungswelt (skrt. Nāmarupa).
Alle geformten Dinge sind in Wahrheit leer.
In der gegenstandslosen Meditation haben die körperlichen Sinne keine Funktion. An ihre Stelle tritt eine andere Wahrnehmung. Es öffnet sich ein anderes, ein einzelnes Auge. Das sogenannte Auge, das sich in der Meditation öffnet, «sieht deutlich», dass die Zweiheit und Vielheit der Erscheinungswelt eine Täuschung ist. Denn die Wirklichkeit hat keine statische Form. Sie ist –vollkommen leer von geformten und benannten Gegenständen – reine, ständig fließende Energie. Das reine Bewusstsein widerspiegelt die fließenden Bewegungen dieser Energie so, wie sie sind.
Auf dem Weg der aktuellen Praxis geht es jedoch nicht darum, das Denken oder das Ich «loszuwerden» oder «abzuschaffen». Im Gegenteil: Man soll alle geistigen Fähigkeiten, die man hat, dazu einsetzen, das verblendete, egozentrische und dualistische Denken in richtiges Denken, richtige Sicht und richtiges Handeln zu transformieren. Wobei «richtig» hier zu verstehen ist als «in Harmonie mit der wahren Natur» oder «im Einklang mit der Realität». – Das ist mit dem «verstehendem Glauben» und dem «Vertrauen in den eigenen Geist» gemeint, von dem wir gestern sprachen.
Ein Beispiel dafür ist das Rezitieren von diversen Texten, wie es in der traditionellen Zen-Schulung üblich ist. Statt «Rezitieren» wäre es besser «Intonieren» zu sagen – Worte zum Klingen bringen. Heutzutage wird meistens das englische Wort «Chanting» gebraucht, obwohl es auch kein gewöhnliches Singen ist. Was genau in der Praxis des Chantings geschieht, kann man nur im eigenen Tun erfahren. Trotzdem wage ich es, dies am Beispiel unserer Retreats und Meditationszusammenkünften zu geben:
Die belebende Kraft von Avalokiteshvara/Kanzeon
Wenn man beim Chanting des Herz-Sutras oder bei der Anrufung von Kanzeon ganz bei der Sache ist, mit Haut und Haar und Knochen, dann wird der Geist hinter den Worten direkt spürbar.
Alle Beteiligten «ziehen am gleichen Strang», jede/r hört auf jede/n. Getragen vom universellen Atem, vereinen sich die verschiedenen Stimmen zu einem Klang. Die Worte verschwinden, es gibt keine Zeit und keinen Raum für kritische Hintergedanken. Man spürt die Freude, Leichtigkeit und die Schönheit des reinen Tuns. Auf diese Weise beweist sich die Praxis selbst.
In diesem Tun ist es nicht nötig, den Verstand einzuschalten; wir müssen und können nicht «intellektuell rezitieren». Aus den anfänglich fremden Worten wird eine intuitive, experimentelle Gewissheit. Im Kanzeln-Chantingz z.B. heißt es:
Die Weisheit und das Mitgefühl (von) Kanzeon/Avalokiteshvara sind die natürlichen Regungen der allgegenwärtigen (Buddha-)Natur. Diese ist unvergänglich, freudig, selbstlos und rein.
Jeder Gedanke entspringt dem reinen Geist von Kanzeon. So vergegenwärtigen wir uns jeden Morgen und jeden Abend unsere eigene (Buddha-) Natur. (Freie Wiedergabe)
Es gäbe noch viel mehr zu sagen über die Weisheit des Herz-Sutras und ihre Anwendung.
Für die heute ist es jedoch genug.
Heutige Praxis
Seid einfach bei allem, was ihr tut, ganz bei der Sache. Erlebt die Aktivitäten des Körpers beim Sitzen, Gehen oder Liegen; spürt die verschiedenen Geschmäcker des Essens; fühlt die kühle Luft auf der Haut am Morgen und die Wärme am Nachmittag; genießt die Stille im Zendo. Und fragt euch immer wieder neu: Wer ist es, der geht, isst, denkt … ?
Und wenn die Gedanken euch wegtragen ins Nirgendwo, bringt die Aufmerksamkeit sanft und freundlich wieder zum Atem zurück. Schaut und lauscht mit offenem Herzen und offenem Gemüt, was sich in euch selbst abspielt. Ohne Druck, ohne Selbstkritik und ohne Ungeduld. Auch nörgelnde Selbstbeispiegelung ist Fehl am Platz.
Es gibt nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren, nichts wegzuweisen, nichts festzuhalten; es gibt nur den Fluss des Daseins im Hier und Jetzt.
Mit offenen Augen, offenen Ohren, offenem Herzen und offenem Verstand denkt tief über euch selbst und das Wunder des Lebens nach.

Das Curriculum der Zen-Schule