Allein – AWH Meditationswoche August 2020 (Zeit der Corona-Pandemie)
Allein – Als wir vor einem Jahr hier zusammenkamen, betonte ich einmal mehr, dass wir unsere Zeit hier gut nutzen sollten, denn man könne nie wissen, ob es je wieder einen solchen Retreat geben werde.
Man hat dies damals so hingenommen und natürlich in etwa so interpretiert: “Ja, wenn dann einmal die Agetsu nicht mehr da ist, dann wird es keine Retreats mehr geben. Aber das ist hoffentlich noch lange nicht soweit. Also kümmert mich das nicht weiter.”
Aber plötzlich war es halt dann doch soweit. Wir konnten für mehr als drei Monate nicht gemeinsam sitzen. Ihr habt zuhause gesessen und jeder war auf sich selbst gestellt.
Dieses Auf-sich-selber-gestellt-Sein, auf Sich-selbst-zurückgeworfen-Sein, dieses fundamentale Alleinsein möchte ich in diesem Retreat als Basis, als Grundlage, betrachten, denn es birgt enormes Potential.
Allein sein und bleiben» soll das Motto, der Grundton, dieser Woche sein.
Zu sich selber kommen
Für die meisten von uns bedeutet dies zuerst einmal, zu sich selbst zu kommen. Denn in unserem täglichen Leben sind wir nie allein. O ja, wir sind oft allein – natürlich: Wir wohnen vielleicht allein oder wir verbringen viel Zeit allein, wir schlafen allein, essen allein und vieles mehr, was wir «allein» nennen.
Aber in unserem Gemüt sind wir nicht allein, wir sind gedanklich immer mit irgendetwas beschäftigt. Dieses Irgendetwas hat zu tun mit unserem Beruf, unserem sozialen Umfeld, unserer Vergangenheit und sehr viel mit unserer Zukunft. Entweder denkt man darüber nach, was man gemacht hat oder was man als Nächstes zu tun hat oder über irgendetwas Hypothetisches, das geschehen ist oder geschehen könnte.
Man schaue sich z.B. einmal das Gepäck an, das man von zu Hause mitgebracht hat. Was hat man alles mitgeschleppt? Nicht nur an Kleider-, sondern auch an Gedankenmaterial? Was wartet in eurem Zimmer darauf, eure Aufmerksamkeit zu gewinnen? Aber nicht nur, wenn man allein im Zimmer ist, auch auf dem Sitzkissen wartet so allerlei, womit man sich beschäftigen kann. Nicht wahr?
Diese Woche haben wir die Gelegenheit, uns selbst zu begegnen, uns selbst kennen zu lernen. Beim Sitzen, beim Essen, im Zimmer? Bin ich mit mir allein oder bin ich mit all den Wesen beschäftigt, die meine Gedankenwelt bevölkern?
Die Struktur dieses Retreats ist für einmal so, dass wir nicht wie eine Herde, alles gemeinsam tun, sondern wir sind ein bisschen mehr uns selbst überlassen. Vor allem bei Tisch ist es am auffälligsten. Wir greifen nicht gleichzeitig nach dem Besteck, beenden die Mahlzeit nicht zusammen. Es wir eher so sein, wie wenn man sonst in einem Restaurant isst. Auch andere Aktivitäten werden wir einzeln durchführen. Und doch, sind wir eine Gemeinschaft. O ja! Wir schweigen, sitzen und sind allein – aber in Gemeinschaft.
Beziehung = Stille
Für sich allein, bei sich selbst sein, heisst das nicht das: (Agetsu verschliesst sich die Augen und Ohren). Das kennen wir! Das sind unsere alltäglichen Schutzmechanismen, wenn uns z.B. etwas zu viel wird. Wir schliessen uns ab, schotten uns ab: Ich höre nichts, sehe nichts, will nur noch allein sein! Nur noch «ich».
Das ist nicht das Alleinsein, worum es hier geht. Alleinsein in Gemeinschaft heisst in Beziehung sein, all-eins-sein, eins mit allem!
Wahrhaftig in Beziehung zu sein ist nur möglich, wenn man wahrhaftig bei sich selber ist. Fast alles, was wir gewöhnlich als Beziehung betiteln, trägt in Wirklichkeit den Geruch von Abhängigkeit. In unseren landläufigen «Beziehungen» sind wir immer in Unruhe. Wir sind am Abchecken, Abwägen, Beurteilen der Signale, die von anderen kommen. Unsere «Beziehungen» bestehen gewöhnlich aus Aktion – Reaktion – Aktion – Reaktion, verbunden mit Emotionen, Urteilen, Rechtfertigungen usw. Solche Beziehungen bestehen aus Konflikt und Konfliktvermeidung.
Beziehung, von der wir hier sprechen, hat nichts zu tun mit anpassen, einordnen, sich-nicht-auf-die-Füsse-treten, sich-verteidigen, sich-schützen, sich-einmischen … mit all diesen Mechanismen, die uns dauernd auf Trab halten.
Echte Beziehung bedeutet in Kontakt zu sein mit allem, was ist. Der Zustand des allumfassenden All-Ein-Seins kann unmöglich von einem Ich erlebt werden, das ständig um sich selbst besorgt ist. Wahres Alleinsein bedarf der Stille.
Die Stille des Alleinseins zu erforschen, zu entdecken, kennen zu lernen, zu schmecken, zu spüren und sich darin zu verwurzeln, das soll das einzige Anliegen in dieser Woche sein. Diese Stille kann man nicht machen, nicht herstellen, nicht denken. Sie ist bereits in uns angelegt. Das Einzige, das man machen kann, ist die Hindernisse wegzuräumen, die sie überlagern, die dicke Schutzschicht, die klebrige Patina unserer Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen; kurz unser ganzes lärmiges Innenleben, kann man abkratzen und ablegen.
Margrit
Ich möchte euch eine wahre Geschichte erzählen über das Alleinsein, das nicht Einsamkeit ist. Sie handelt von Margrit, meiner Nachbarin im gegenüberliegenden Wohnhaus. Sie ist eine 92-jährige Witwe. Ihr Mann verstarb vor ungefähr fünf Jahren. Sie lebte schon in der Siedlung, als wir vor gut sechzehn Jahren dort einzogen. Wir kannten sie aber viele Jahre nur vom Sehen.
Was uns allmählich näher brachte, waren unsere Katzen. Vor allem Charlie, ein langhaariger Charmeur, hatte es ihnen angetan. Als er und sein Bruder Romero innerhalb von zehn Tagen starben, trauerten die Nachbarn mit uns. Doch schon bald begann sie uns zu fragen: Wann werdet Ihr wieder Katzen haben? Wir vermissen eure Katzen.
Schliesslich wollte es das Schicksal, dass vier junge schwarze Katzenbrüder zu uns kamen. (Diese Geschichte kennt ihr ja.) Dies gab den Anlass, dass die vier älteren Herrschaften zum ersten Mal in unsere Wohnung kamen. Vor allem Jack, der Ehemann von Margrit, freundete sich sofort mit den jungen Katzen an.
Bald darauf erkrankte Jack an Parkinson und die Zeit kam, als er nur noch wenige Schritte mit dem Rollator gehen konnte. Unser Kater Caruso pflegte ihn, sobald er aus der Haustüre trat, mit erhobenem Schwanz zu begrüssen und ihn bei einigen Runden zwischen den Häuserzeilen zu begleiten. Natürlich färbte diese Freundschaft auch auf uns Erwachsene ab.
Dann ist Jack gestorben und Margrit blieb allein in der Wohnung zurück. Sie hat einen Sohn, der sehr gut für sie sorgt, aber sehr oft in Schweden ist, wo er ein Haus besitzt. Er ruft seine Mutter jeden Tag an, egal, ob er in der Schweiz oder im Ausland ist. Während seiner häufigen Abwesenheiten spielte es sich ein, dass ich zur nächsten Ansprechperson für Margrit wurde.
Struktur und Vorsorge
Ich lernte sie als eine im wahrsten Sinne des Wortes «alleinstehende» Frau kennen. Ihre Haltung zum Leben ist durch und durch pragmatisch, ihr Alltag vollkommen strukturiert. Werktags steht sie um 6.45 auf, (am Sonntag später) und geht ins Badezimmer. Zwischen 7.00 Uhr und 7.10 Uhr geht sie ans Fenster, macht den Vorhang auf und winkt mir, wenn möglich, über den Gehweg zwischen den Häusern zu. Sie streckt den Daumen in die Höhe zum Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Dann trinkt sie einen Tee, geht mit dem Rollator zur Migros, wobei sie nur den Lift nehmen und ca. 100 m gehen muss.
Allerdings steht sie immer zehn Minuten vor Türöffnung dort, um einige Worte mit einem Herrn auszutauschen, dessen Frau im Pflegeheim ist. Sie kauft nicht mehr und nicht weniger ein, als was sie an diesem Tag braucht. Dann macht sie ein Nickerchen in ihrem bequemen Stuhl, dann einen kleiner Spaziergang in der Siedlung und um 11.30 Uhr ist es Zeit für das Mittagessen. Der Nachmittag ist der Lektüre eines Arzt-Romans gewidmet; um 17.00 Uhr ruft der Sohn an, dann isst sie ein leichtes Abendbrot, schaut etwas fern und um 21.00 Uhr ist sie wieder im Bett.
Sie weiss immer im voraus, was sie an den einzelnen Wochentagen essen wird und freut sich auf den Sonntag, an dem ihr Sohn eines ihrer zwei Lieblingsgerichte kocht. Ich melde mich für einen vormittäglichen Kaffee-Besuch rechtzeitig an, damit sie dann darauf vorbereitet ist, an diesem Tag das Mittagessen etwas später einzunehmen.
Für den Fall von Krankheit und Tod liegen Patienten- und andere Verfügungen unterschrieben bereit, ihre Möbel und gut gepflegten Haushaltsgeräte sind bereits «verteilt» für «wann es dann soweit ist». Sie hat erklärt, wo ihre Asche ausgestreut werden soll und wo die vier anwesenden Personen dann gemeinsam essen werden.
Liebe
Diese – von aussen gesehen – nüchterne, pragmatische Frau hat eine sehr zarte Seite.
Ich habe dies z.B. bei folgender Gelegenheiten gemerkt: Sie fühlte sich einmal sehr schwach, hatte Schmerzen und blieb im Bett. Als ich nach ihr schaute, sah ich sie schlafend mit einem grossen Plüschbären im Arm.
Oder: Als sie hörte, dass wieder einer unserer Kater verschwunden war, traten Tränen in ihre Augen, was sonst nur ab und zu geschah, wenn sie von ihrem verstorbenen Mann sprach.
Oder: Auf ihrem Küchentisch sass ein grossäugiges liebliches Rentier aus Plüsch, ein Geschenk von ihrem Sohn aus Schweden. Einmal fragte ich sie: «Hat es eigentlich einen Namen?»
«Nein, der hat keinen Namen».
«Sollte er einen Namen haben?»
«Du kannst ihm ja einen geben!»
«Gut … das ist der Fredi», beschloss ich kurzerhand.
Seither sitzt Fredi, wenn ich zum Kaffee komme, meinem Sitzplatz zugedreht und schaut mich aus seinen grossen Augen an. Und Margrit sagt: «Schau Fredi, wir haben Besuch!»
Oft kommt das Gespräch auf ihren Mann, dessen Krankheit und vor allem dessen Tod. Und jedes Mal äussert sie sich, wie glücklich sie mit ihm gewesen sei, wie froh sie sei, dass sie keinen Streit hatten und im Frieden voneinander gegangen seien, ganz im Gegensatz zu anderen Menschen, die sich nach dem Tod ihres Partners in Schuldgefühlen verzehren. Nur selten erwähnt sie, wie schwierig seine letzten Lebensmonate waren und wie erschöpft sie danach war, weil sie ihn fast alleine gepflegt hatte.
Einmal fragte sie mich, was ich nach ihrem Tod aus ihrem Nachlass einst haben möchte. Zuerst sagte ich «nichts», dann fiel mein Blick auf Fredi und ich sagte: «Am liebsten hätte ich den Fredi!» Ihre Antwort war schlicht: «Ja das habe ich meinem Sohn schon lange gesagt, der Fredi geht dann zu dir!»
Wendezeit
Im Juni erzählte mir Margrit, dass ihr Sohn plane, eine längere Zeit in Schweden zuzubringen mit einem Unterbruch von nur einer Woche. Zum ersten Mal spürte ich einen traurigen Unterton in ihrer Stimme. Auf meine Frage, ob sie traurig sei, sagt sie: «Nein, nein! Aber weisst du, der Sonntag … der Sonntag ist ein bisschen traurig.
Es ist so schön, wenn mein Sohn kocht und dann kann ich auch besser essen.» Als ich sagte: «Okay, dann kommst du am Sonntag bei uns zum Essen», wehrte sie ab: «Nein, nein, ihr müsst mich doch nicht einladen!» Erst als ich ihr klar machen konnte, dass es kein Müssen sei, sondern ein Vergnügen, sie als Gast zu haben, nahm sie die Einladung strahlend an.
Am besagten Sonntag – das ist jetzt drei Wochen her – kam sie mit einem Blumenstrauss in der Hand, festlich gekleidet und voll innerem Glanz zu uns an den Tisch. Zur Feier des Tages trank sie ein Glas Wein, was sie schon jahrelang nicht mehr getan hatte.
Wie ihr Sohn servierten wir Margrit an diesem Tag ein Gericht, das sie sich gewünscht hatte und sie ass, so wie sie es als Allein-Esserin gewohnt war, schweigend, achtsam und zügig. Aber mit gutem Appetit. Nach dem Dessert sagte sie: „So, jetzt gehe ich und mache meinen Mittagsschlaf und ihr macht euren!» Wir alle freuten uns über das gelungene Zusammensein und verabredeten, es zu wiederholen.
Das Schicksal wollte es, dass ihr Sohn am folgenden Sonntag mit seiner Frau zurückkam, zehn Tage früher als erwartet. Danach sah ich Margrit nicht. (Sie ging inzwischen nicht mehr so früh zum Einkaufen, so dass wir uns des öfteren am Fenster verpassten.)
Die Vollendung
Am Mittwochabend fiel mir auf, dass das Fenster ihres Schlafzimmers um halb zehn Uhr noch offen stand, was äusserst ungewöhnlich war. Ich packte den Schlüssel zu ihrer Wohnung, um zu schauen, was los ist. Doch ihr Sohn und seine Frau waren bereits vor Ort. Margrit hatte sie benachrichtigt, sie fühle sich sehr schwach.
Der Sohn meinte, sie habe wohl zu wenig gegessen und getrunken an diesem heissen Tag. Wir verabredeten, dass ich am kommenden Morgen nach ihr schauen werde und es melden würde, falls es ihr nicht gut gehe.
Als ich am Donnerstag morgen früh leise die Wohnung betrat, fand ich Margrit schlafend und schlich wieder hinaus. Ein bisschen später lag sie mit offenen Augen im Bett und sagte, sie habe die ganze Nacht lang starke Schmerzen gehabt. Ihr Sohn sei schon unterwegs zu ihr und habe den Krankenwagen angefordert. Sie nahm meine Hand und ich setzte mich zu ihr.
So Mammeli…
Bald darauf trat der Sohn in Begleitung seiner Frau ein und verkündete: «So Mammeli, jetzt machen wir es genau so, wie wir es immer besprochen haben! Wir nehmen die Patientenverfügung und den Vorsorgevertrag und und gehen ins Spital.» Margrit nickte ergeben, ich wünschte ihr gute Besserung und verliess die Wohnung.
Nach zwanzig Minuten war der Krankenwagen da, Margrit wurde gut verpackt hineingeschoben. Am Abend unterrichtete mich der Sohn, dass sie vermutlich eine starke Gallenblasenentzündung habe. Sie habe ein wenig gegessen und schlafe jetzt. Er plane, am kommenden Morgen mit den Ärzten zu reden, da seine Mutter keine Operation mehr wolle.
Es war Freitagabend, als der nächste Telefonanruf kam. Der Mutter gehe es nicht gut, sie wolle nicht mehr leben. Er werde sich am nächsten Tag nach einem Hospiz oder einem Pflegeplatz umschauen.
Und dann, am frühen Samstag-Nachmittag stand Margrits Sohn an unserer Wohnungstüre mit Fredi in der Hand und Tränen im Gesicht…
Ein wunderbares Vorbild
So schnell hat diese Frau alles losgelassen! Sie ist gestorben, wie sie gelebt hat. Still, ohne Tamtam, ohne Jammern, ohne Klagen, ohne Bedauern, ohne unerledigte Angelegenheiten, ohne Überbleibsel und ohne den Hinterbliebenen ein materielles oder emotionales Chaos zu hinterlassen.
Und sie tat es zum besten aller möglichen Zeitpunkte. Ihr Sohn war unerwartet etwas früher nach Hause gekommen und hatte die Absicht, eine Woche später wieder zu verreisen. Alles war so gut vorbereitet und organisiert, dass er die Räumung und Abgabe der Wohnung in die Wege leiten, die Ämter informieren und sogar die Urne abholen konnte, bevor er dann planmässig wieder abreiste. Die Mutter hatte ihn vollkommen frei gegeben und in der Aussenwelt minimale Spuren hinterlassen.
Warum erzähle ich euch diese ganze Geschichte?
Weil Margrit für mich ein Beispiel ist von einem Menschen, der wirklich allein, aber nicht einsam war. Sie kostete ihr Leben mit Freud und Leid aus, nahm einen Tag nach dem anderen. Sie war nicht immer mit allen Umständen oder Mitmenschen «zufrieden», aber trotzdem in Frieden damit. Versteht man diesen Unterschied?
Im Laufe der Jahre und in der Art und Weise ihres Sterbens hat mir Margrit gezeigt, was wahre Selbstgenügsamkeit, wahre Ichlosigkeit ist. Sie war in meinen Augen ein rundum ganzer Mensch, der sein Leben und Sterben selbstbestimmt und in Würde vollendete. Und dies in Bescheidenheit und grosser Stille!
Selbstgenügsamkeit
Sie stellte keine Ansprüche an andere Menschen, war aber auch kein duldsames Wesen, das anderen eine Macht über sich einräumte. Sie wusste, wer sie ist, sie wusste, was sie will und sie wusste auch, was sie nicht will.
Sie machte ihre Probleme mit sich selbst aus. Sie durchlebte Zeiten der Niedergeschlagenheit und Depression, lernte aber, diese anzunehmen und überwand sie dadurch.
Sie liess andere gelten, wie sie sind. Sie belastete ihren Sohn oder ihre Schwiegertochter nicht mit: «Du sollst und du musst …». Wenn sie mit etwas oder jemandem nicht einverstanden war oder ein Unrecht sah, zog sie schweigend ihre Konsequenzen. Sie zog sich zurück, brach unerfreuliche Kontakte problemlos ab und liess es dabei bewenden.
Sie war hilfsbereit aber nicht aufopfernd. Zum Beispiel lud sie ab und zu den grantigen, immer unzufrieden Nachbarn, der in der Wohnung über ihr hauste, zu einem Mittagessen oder einem Kaffee ein. Bei diesen Gelegenheiten sass sie einfach da und hörte sich zum X-ten Mal die immer gleich lautende Krankengeschichte, die ihren Anfang vor 50 Jahren bei einem Arbeitsunfall genommen hatte, und die damit verbundenen Schimpftiraden über die Blödheit der Ärzte und alle anderen Bewohner dieser Welt an.
Margrit machte mir gegenüber kein Hehl daraus, dass sie jeweils froh war, wenn der Nachbar nach dem Essen nicht lange blieb. So sassen zwei alte Menschen am gleichen Tische – einer unzufrieden mit sich selbst und der Welt, der andere im Frieden mit sich selbst und der Welt.
Sie wollte niemandem zur Last fallen
Sie wollte niemandem zur Last fallen, sich aber auch von niemandem belasten lassen. Auf die Frage ihres Sohnes, warum sie ihm nichts von den Schmerzen, die sie offenbar schon länger fühlte, gesagt habe, antworte sie: «Du kannst ja auch nichts machen!» Und als sie Probleme in dessen Ehe wahrnahm, konnte sie warten, bis er diese selber ansprach und nahm das Unbehagen und den Schmerz, den ihr das bereitete, schweigend an.
Sie brauchte keinen grossen Bekanntenkreis. Ihr Sohn, seine Frau, ihr Hund, Robert und ich, unseren Katzen und der ältere Herr vor der Migros genügten ihr vollkommen. Auch diese konnte sie ohne Weiteres aufgeben, als die Zeit es erforderte. Nie habe ich sie über mangelnde Sozialkontakte klagen gehört.
Sie trug Sorge zu dem, was sie hatte. Sie war immer sehr gepflegt und tipptopp angezogen. Als ich sie dafür bewunderte, erklärte sie: «Ja weisst du, mein Mann hat mir schöne Kleider gekauft; ich konnte sie gar nie brauchen, weil wir immer einen Hund hatten. Aber jetzt kann ich sie tragen!»
Sie nahm an, was sie von anderen bekam. Wer ihr einen Dienst erwiesen hat, wurde mit einer Flasche Wein oder einem Blumenstrauss beschenkt. Alle die kleinen Mitbringsel und Kostproben, die ich aus unserer Küche mitbrachte, wurden mit Freude gekostet. Nur einmal hat sie gesagt, ihr Sohn habe die letzten Kekse als zu trocken empfunden. 🙂
Sie war sparsam aber nicht geizig. Als zum Beispiel ihre ehemalige Schwiegertochter – eine tief gläubige Frau, die für sie putzte und ihr beim Duschen half – wegen der Epidemie nicht arbeiten durfte, erhielt sie von Margrit trotzdem einen Lohn. Zum Dank bekam sie von ihr eine Bibel. Fortan sass Margrit jeden Morgen eine Stunde lang am Küchentisch und las in diesem Buch, beginnend auf der ersten Seite.
Ein offener Geist
Sie machte sich ihre eigenen Gedanken, ohne sich anderen zu verschliessen. Eines Morgens entspannte sich zum Beispiel folgender Dialog zwischen uns. Ich fragte:
«Liest du die Bibel gerne?»
«Ja, es sind interessante Geschichten.»
«Machen diese Geschichten einen Sinn für dich, bedeuten sie dir etwas?»
«Nein»
«Hast du überhaupt irgendwelche Ideen über Religion?»
«Nein. (Pause) Weisst du, als mein Mann schon sehr schwach war, sagte er, er bete zu Gott, dass er vor mir sterben könne, weil er mich brauche. (Pause) Ja, ja, so ist das … da hat man ein ganzes Leben lang nie von Gott gesprochen und im letzten Moment ist plötzlich einer da!» Sie schaute mich mit einem Lächeln an, das mir leicht verschmitzt, leicht ironisch und wissend zugleich erschien.
Wir haben dann gelacht und ausgerechnet, dass sie, wenn sie jeden Tag eine Stunde lang in diesem dicken Buch mit den vielen dünnen Seiten liest, in drei bis vier Jahren fertig ist damit.
Wie oft haben wir am Küchentisch gesessen und sind auf das Thema Sterben gekommen! Jedes Mal hat sie betont, dass es ihr jetzt gut gehe, sie gesund sei, ja nicht einmal ein graues Haar habe, aber nicht hundert Jahre alt werden wolle. Und jedes Mal endete das Gespräch mit: Ich bin ja gespannt, wie es bei mir dann einmal zu Ende geht.
Bei einer dieser Gelegenheiten fragte sie: «Was denken eigentlich die Buddhisten dazu?»
Nach einer kurzen Erklärung meinerseits, endete dieses Gespräch, wie so viele zwischen uns, in einem Schweigen, das sowohl das letztendliche Nicht-Wissen als auch eine zuversichtliche Offenheit in sich barg. Da war weder Angst noch eine Notwendigkeit, diese Angelegenheit gedanklich zu beherrschen.
Grosse Loch – grosser Reichtum
Sie nahm an keinen sozialen Veranstaltungen in der Siedlung oder sonstwo teil, kannte aber viele Nachbarn, diverse Postboten und das Personal in der Migros mit Namen. Wobei sie offen zugab, dass es solche gebe, die sie nicht mochte; warum nicht, wisse sie allerdings nicht. Die Telefonnummern und Geburtstage ihrer Bekannten wusste sie auswendig. Sie nahm vom Fenster aus Teil an unserem Terrassengarten, dem Kommen und Gehen der Katzen und wusste immer, wann bei uns ein Retreat stattfand.
Sie machte sich Sorgen, als diese wegen der Epidemie ausfallen mussten und kam sogar mit einem Vorschlag, wie man das Problem lösen könnte. Sie bemerkte sowohl schwangere Frauen als auch viele der jungen Menschen, die in den diversen Wohnungen ein- und auszogen. Klatsch und Tratsch jedoch waren ihr vollkommen fremd! Als sich die Nachricht von ihrem Tod verbreitete, stellte sich heraus, dass ziemlich alle die «freundliche Frau, die mit dem Rollator in der Migros einkaufen ging und um die Siedlung herum spazierte» kannten.
Der sterbliche Mensch, der als Margrit Teil unseres Lebens war, hinterlässt ein grosses Loch und einen lebendigen, unsterblichen Reichtum. Sie hat uns gezeigt, was echtes Alleinsein, echte Eigenständigkeit sein kann, was es heisst, in sich zu ruhen, mit sich in Frieden zu sein, auch und trotz manchmal trauriger und schwieriger Lebensumstände. Kurz: sie hat uns gezeigt, was echte Beziehung ist.
Wir sterben wie wir leben
Können wir so einfach leben und sterben? Ohne jemanden zu imitieren, nachzuahmen, ohne einer Idee nachzueifern? Sondern so, wie es uns jedem einzelnen entspricht? Können wir vollständig darauf verzichten, von den Erwartungen und Urteilen anderer abhängig zu sein? Können wir unsere Lebensumstände akzeptieren, wie sie sind und das beste daraus machen, ohne zu klagen oder zu vergleichen?
Und, was das Allerwichtigste ist: Können wir allein sein, mit uns selbst? All-eins?
Könnten wir, ohne in Angst und Schrecken zu fallen – «Oh weh, ich muss sterben“ – innerhalb von wenigen Tagen absolut freundlich, selbstverständlich, friedvoll verschwinden?
Natürlich können wir das Wie und Wann unseres Sterbens nicht programmieren. Doch wir können es gestalten. Nicht indem man anfängt zu hirnen, was und wie man in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren sein will oder was man beruflich, sozial oder philosophisch zu erreichen hat.
Man gestaltet das Sterben, indem man es tut. Jetzt, mitten im Leben! Indem man, was vergangen ist, vergangen sein lässt, ohne zu hadern, ohne in den Erinnerungen darüber zu schwelgen, ohne überhaupt einen Gedanken darüber zu verschwenden.
Das Leben fordert und verdient unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir haben keine Zeit zu Verschwenden mit Gedankenspielchen über Leben und Tod!
Bringen wir die Wachheit zu Stande
Bringen wir die Wachheit zu Stande, in dieser Woche auf das schöne Spiel vom Ich zu verzichten? Haben wir den Mut und die Neugier und das Interesse, einmal nichts anderes zu tun, als ganz da sein? Mit Haut und Haar und Knochen – da! sein!
Und schauen, was und wie wir denken und handeln? Was für Gespräche wir führen mit uns selbst? Was vor sich geht in und um uns? Ohne Schlüsse zu ziehen, ohne Urteile zu fällen, ohne Vorsätze zu fassen. Kurz: Können wir in Beziehung sein und bleiben – mit uns allein und in der Gemeinschaft?
Es gibt nichts anderes zu tun in dieser Woche. Es wird für alles gesorgt: Essen, Unterkunft, Tagesablauf; alles steht uns unterstützend zur Seite. Die Bedingungen sind optimal – nutzen wir sie!