Die Selbstreinigung des Geistes – Meditationswoche 2024, 5.Tag
Die Halbzeit unseres Retreats ist überschritten. Zeit, uns wiederum zu fragen: Wo stehen wir? Was haben wir bisher erfahren und was möchten wir vertiefen und festigen, bevor wir wieder in unseren Alltag zurückkehren? Lasst mich deshalb einige Tatsachen rekapitulieren:
Tatsachen der Wirklichkeit
Erstens: Wir Menschen sind von Natur aus komplexe Wesen, zusammengesetzt aus materiellen und geistigen Elementen. Die Einheit von Körper, Wahrnehmung, Gefühlen, Erbanlagen und Bewusstsein gestaltet unsere Persönlichkeit. Und die Persönlichkeit gestaltet unsere Wahrnehmungswelt.
Zweitens: Die Natur wurstelt die Elemente nicht zufällig zusammen. Sie folgt der Gesetzmässigkeit von Ursache und Wirkung. Wenn das eine entsteht, dann entsteht das andere. Alles hängt zusammen mit allem. Wir sind also nicht die unabhängigen, von einander getrennten Einzelwesen, für die wir uns halten, sobald wir ein Ich-Bewusstsein haben.
Drittens: Die sogenannte Innenwelt und die sogenannte Aussenwelt sind in uns vereint. Noch betrachten wir sie allerdings als zwei verschiedene Dinge. Deshalb sehen wir uns meist als Opfer und nicht als die Schöpfer unserer eigenen Erfahrungswelt.
Um diesen fundamentalen Irrtum zu überwinden, braucht es sowohl das Studium und die Kontemplation der Tatsachen der ichlosen Welt als auch deren aktuelle Erfahrung durch Meditation.
Meditation ist der Prozess, in dem sich die fragmentierte Sicht der Erscheinungswelt in die einheitliche Sicht des universalen Seins umwandelt. So wie Dogen Zenji es – etwas frei übersetzt – so treffend sagte:
Die Wirklichkeit (das Buddha-Dharma) kennenlernen heisst, das Ich kennenlernen. Das Ich kennenlernen heisst, das Ich vergessen. Das Ich vergessen heisst, eins werden mit dem weiten Raum, dem universalen Geist und den unendlich vielen Dingen.
Wir müssen diesen Weg wirklich gehen, es genügt nicht, sich Vorträge anzuhören, Bücher zu lesen oder einem Guru oder Lehrer zu Füssen zu sitzen. Wir müssen uns immer wieder selber befragen und aufrichtig beobachten: Was spielt sich ab? In welchem Zustand befindet sich mein Gemüt? Wie bin ich in diesen Zustand gekommen? Was ist die Ursache?
Das fundamentale Wissen
Das ist die Arbeit, die der Buddha gemacht hatte in seiner Meditation unter dem Bodhibaum – bis er ans Ende aller Fragen kam und sich selber vergass. Und als er die Augen wieder öffnete, realisierte er sein Einssein mit dem weiten Raum, dem universalen Geist. In wortlosem Staunen spürte er in sich die unumstössliche Gewissheit: Ich bin Buddha.
Dieses Eintauchen in das grenzen- und ich-lose Eins-Sein ist das Wesen der Meditation. Man darf sich dabei nicht mit der blossen Vorstellung von Einheit zufrieden geben; es gilt, wirklich bis zum Ende zu gehen. Auch nützt es nichts, passiv oder fatalistisch auf das Ende oder die Erlösung zu warten. Im Gegenteil, man kann jeden Tag, jedes Erlebnis nutzen, um die Selbsterkenntnis zu erweitern.
Wenn man weiss, was man tut, kann man auch wissen, welche Folgen zu erwarten sind. Doch in dieser Hinsicht sind wir ziemlich unentwickelt und unbewusst. Wir handeln meist unüberlegt auf Grund emotionaler Reaktionen. Und ups! … schon hat man irgendetwas angerichtet, das man eigentlich nicht wollte.
Die ersten Verse im Dhammapada bringen es auf den Punkt:
Wer mit unlauterem Geist denkt und handelt, dem wird das Unglück folgen, so sicher wie der Wagen dem Pferd folgt, das ihn zieht.
Wer mit heilsamen Gedanken denkt und handelt, dem wird das Glück folgen, so sicher wie der Schatten, der ihn niemals verlässt.
Auch das Grundgebot des Buddhismus sagt es deutlich und klar:
Tue das Gute, unterlasse das Schlechte.
Dies gilt nicht nur für religiöse Menschen, sondern für die ganze Menschheit. Alle haben wir ein Gewissen, das uns die sogenannte Goldene Regel nahelegt: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Der Grund, warum es keinen Frieden in der Menschenwelt gibt, ist der, dass wir dieses Wissen missachten, sobald es nicht in unsere selbstbezüglichen Wünsche und Absichten passt.
Manche Philosophen der westlichen Welt entschuldigen dies damit, dass man nicht wirklich wissen könne, was gut ist und was schlecht. Dieses Argument kommt aus dem dualistischen Denken. Unser Verstand kennt nur die Position von entweder-oder, weiss oder schwarz, gut oder schlecht. Und da es in der Natur keine derart fixierten Werte gibt, sind mentale Konflikte unvermeidbar.
Doch das «Gute» und «Schlechte», von dem der Buddha sprach, ist von ganz anderer Qualität. Es entstammt dem intuitiv fühlenden Herz/Geist und bezieht seine Gültigkeit immer im gegenwärtigen Augenblick.
Denn das Gewissen entscheidet immer jetzt, ob etwas gut ist oder nicht. Da gibt es keine Zeit für intellektuelle und moralische Haarspalterei. Die kommt erst dann ins Spiel, wenn sich das Ich einmischt. Man kann das Gewissen unterdrücken, verdrängen oder verleugnen, aber ganz zum Schweigen bringen kann man es nicht.
Eigenverantwortung
Wir tragen unser Glück und inneres Wohlergehen also weitgehend in unseren eigenen Händen. An der Vergangenheit kann man nichts ändern, aber man kann die Zukunft mitgestalten. Ich sage mitgestalten – nicht diktieren, nicht kontrollieren. Es ist keine Sache des Ichs.
Auch ist unser Schicksal als Einzelwesen ist nicht prädestiniert. Es gibt keine Wesen, keinen Gott im Universum, der vor unserer Geburt entscheidet: Du wirst das und das … als Belohnung oder als Strafe für deine Sünden gegen mich. Die Idee der Bestrafung dieser Art ist Mensch-gemacht; eine Frucht des falschen Denkens. Das wahre Leben kennt keine Rache, es folgt lediglich dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
Drum noch einmal: Wir Menschen wissen intuitiv um den Zusammenhang zwischen unserem Handeln und den möglichen Folgen. Man kennt ja den Spruch: Wie man in den Wald ruft, so tönt es heraus. Dafür brauchen wir keinen Buddha. Der Bumerang kommt immer zu einem zurück – im «Positiven», wie im «Negativen».
Diese Basis der buddhistischen Weltanschauung und Meditationspraxis haben wir uns nun in den letzten Tagen erarbeitet, gefestigt oder wieder ins Gedächtnis gerufen. Doch nun frage ich: Was nützt uns das?
Übermorgen kehren wir wieder nach Hause zurück. Wir verlassen den Kokon, der uns vorübergehend umhüllt hat – diesen wunderschönen Ort der Stille. Und finden dort das gleiche Haus, die gleiche Wohnung, die gleichen Mitbewohner, die gleiche Arbeit, die gleiche Umgebung, das gleiche Gestürm und Gewusel auf den Strassen wie vor einer Woche wieder. Alles wie gehabt!
Und doch wird es nicht dasselbe sein. Wir sind nicht im gleichen Zustand wie vor einer Woche. Wir werden mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit wie «neu gewaschen» sein.
Geistige Reinigung
Eine Meditationswoche in der Stille ist gewissermassen eine grosse Gemütswäsche – mit Vorwäsche, Hauptwäsche, Spülen und diversen Schleudergängen. Aber im Schnelldurchgang mit 95 Grad.
Der erste und vielleicht auch der zweite Tag dienen der Vorwäsche: Man kommt innerlich langsam an. Der Alltag tritt in den Hintergrund. Spätestens am dritten Tag beginnt die Hauptwäsche. Die Konzentration nimmt zu, der Spielraum für Ablenkungen nimmt ab. Dazwischen liegt der 1. Schleudergang: Man hat vielleicht nicht gut geschlafen im fremden Bett, oder Verdauungsstörungen oder das Gefühl, nichts zu verstehen und kämpft gegen verhaltene Wut, Unsicherheit oder Heimweh. Manche überlegen sich, ob sie nach Hause fahren oder einfach draussen spazieren gehen sollen.
Wie im täglichen Leben ist die Hauptwäsche am intensivsten und nimmt die meiste Zeit in Anspruch. Das Gewebe aus Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen wird so richtig durchgeschüttelt. Der ganze angesammelte Schmutz soll weg!
Im Spülgang, der aus mehreren Durchgängen besteht, wird das schmutzige Wasser aus dem Gewebe herausgepresst, wobei die Wäschetrommel immer wieder mit neuem, klarem Wasser gefüllt wird.
Ich glaube, heute sind wir beim Spülen angekommen. – Noch haben wir Zeit, alles, was in uns vor sich geht, in Ruhe zu betrachten und unseren Geist vom Wasser der Weisheit durchspülen zu lassen.
Nach dem Spülgang kommt der finale Schleudergang. Am Ende macht es «klack» und die Türe springt auf.– Die letzte Sitzperiode ist vorbei, es wird aufgeräumt, zusammengepackt und wieder miteinander geredet. Es geht aus der noch warmen Wäschetrommel hinaus an die frische Luft!
Aber die Sache ist noch nicht fertig, die Wäsche ist noch nass.
Fallgruben
Das Gemüt ist durchdrungen von der Stille und der Konzentration dieser Woche. In diesem Zustand ist man doch recht verletzlich oder dünnhäutig. Deshalb gibt es einiges zu beachten, wenn die Rückkehr in den Alltag bevorsteht und man wieder «aussteigt».
Fast alle Teilnehmenden erleben in einer intensiven Meditation ein oder mehrere Momente des Glücks, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Momente mögen noch so kurz sein, sie wecken den Wunsch und das Verlangen, das Glück nie mehr zu verlieren.
Um das, was man im Retreat erlebt/erkannt hat, festzuhalten und in den Alltag hinüberzuretten, fasst man in der Regel alle möglichen guten Vorsätze. Man nimmt sich vielleicht vor: Von jetzt an werde ich wieder immer achtsam sein. Von jetzt an werde ich wieder jeden Tag 30 Minuten lang meditieren. Von jetzt an, werde ich nicht mehr wütend werden, von jetzt an …
Und statt den Heimweg mit frisch gewaschenem Gemüt anzutreten, schleppt man einen ganzen Koffer voller schon getragener Gedankenkleider mit nach Hause. Das ist eine grosse Fallgrube, vor der man sich hüten sollte.
Das Ich aus dem Spiel lassen
Denn wer solche Entscheidungen trifft, ist das Ich, das eine Idee hat, wie es sein sollte und sein könnte. Doch das Ich ist kein guter Berater, wenn es um die Realität geht. Wie der Volksmund schon lange weiss: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Wenn man «heilig» und «erleuchtet» aus einer Meditationswoche kommt und denkt, nun sei alles anders als vorher, programmiert man sich für grosse Frustration und wundert sich vielleicht, wenn jemand sagt: Du warst in einem Retreat? Davon merkt man aber nichts.
Wenn man gute Vorsätze nicht erfüllen kann, sucht man natürlich nach einem Schuldigen. Und da man nicht die «Welt» anklagen kann, weil sie sich nicht unseren Wünschen anpasst, sucht man die Schuld bei sich selbst. Man bekommt eine Wut auf die vermeintlich eigenen Schwächen oder versteift sich in der Opferrolle – ich meine es ja so gut, aber … Man haut diesem schlechten, bösen, ungenügenden Ego dauernd auf den Kopf. Und schon sitzt man wieder in der Falle von Hass und Wut gegen sich selbst. Das ist Schattenboxen in Reinkultur. Wir sind alle sehr gut in dieser Disziplin.
Aber das hat nichts mit Meditation zu tun und schon gar nichts mit Selbsterkenntnis.
Deshalb sage ich: Lasst ab von jeder Form von Ego-Bashing – mein Ego ist falsch; mein Ego ist so schwach; ich weiss es ja, aber mein Ego nicht; ich bin halt nicht vollkommen, usw.
Ebenso dumm und sinnlos ist es, das Denken und die Gedanken zu verteufeln. Statt die Gedanken, die spontan auftauchen, einfach wie Wolken ziehen zu lassen, aktiviert man das urteilende Ich, das sich ja vorgenommen hat, nun immer gelassen zu sein und ärgert sich über die Gedanken oder über sich selbst. Auch das ist absolute Schaumschlägerei.
Denn weder das Ego noch die Emotionen noch die Gedanken sind von fremden Mächten erzeugt. Wir selber sind die Magier, die Schöpfer unserer Welt. Denn solange unser Gehirn gesund ist, empfängt es Impulse von der Innen- und Aussenwelt. Es «verarbeitet» diese und «schwitzt» sie gewissermassen als illusionäre Vorstellungen wieder aus. Das heisst, Konzepte, Gedanken und Emotionen entstehen unter bestimmten Umständen wie Nebel an kühlen Herbsttagen oder wie eine Fata Morgana im glühend heissen Wüstensand. Sie sind kein bisschen wirklicher oder solider als diese.
Weil wir dies nicht verstehen, verstehen wir es auch nicht, die wunderbare Fähigkeit unseres Geistes zu schätzen und weise zu nutzen, – was wäre denn, wenn es kein Denken und kein Empfinden gäbe? Wir sind ständig im Konflikt mit uns selbst. Einerseits wollen wir das Denken «loswerden», andererseits fürchten wir nichts so sehr wie den Verlust der Denkfähigkeit wegen einer Krankheit oder des Alterungsprozesses.
Wäsche wird gewaschen, damit man sie wieder tragen kann; und wenn sie getragen ist, wird sie wieder gewaschen. Das Wasser, das dazu benutzt wird, hat keine Absicht und erwartet kein Lob dafür; es beklagt sich auch nicht darüber, immer wieder dasselbe zu tun. Es ist unabhängig von der Wäsche und dem Schmutz.
Vertraut auf die Kraft und Freude, die euch durch diese Woche begleitet haben. Vertraut auf die Reinigungskraft eures Geistes. Macht den Alltag zur Meditation und umgekehrt. Dann werdet ihr schon merken, wo es langgeht und was es zu tun gibt.
Der Buddha auf der Lotusblume
Die freudvolle Kraft, die sich in der Stille der Meditation oder auch in der Stille der Natur in uns regt, ist das Leben selbst. Der Drang hin zur Klarsicht und Freude liegt in unserer eigenen Natur.
Wie ihr wisst, werden der Buddha und auch erleuchtete Jogis in Indien oft auf einer Lotusblume sitzend dargestellt. Damit wird das Wesen der Buddha-Natur, bzw. die uns Menschen angeborene Geisteskraft dargestellt.
Zu unserem Glück gibt es im Garten dieses Seminarhauses einen Teich, in dem wir das Wirken dieser Kraft dauernd beobachten können. Am gestrigen regnerischen Morgen zum Bespiel hat sich mir folgendes gezeigt:
Jeder Regentropfen, der ins Wasser fiel, erzeugte eine kleine Welle und eine Lichtreflexion. Es war als tanzten tausend funkelnde Pünktchen auf dem grauen Wasser. Von jedem Tropfen ging ein Signal an mein Sehvermögen und bezauberte mein Gemüt.
Auch wenn ein Goldfisch seinen Mund auf und zu machte oder wenn ein Frosch ein Bein bewegte, gab es jedesmal eine Welle.
Die Blätter der mit dem Lotus verwandten Seerosen indes, lagen ganz ruhig auf der Wasseroberfläche. Kein einziger Regentropfen blieb an ihnen kleben. Lotusblätter und Lotusblumen sind vollständig wasserabweisend. Sie können nicht nass werden. Selbst bei starkem Regen kann kein Wasser in sie eindringen.
Dieses Naturphänomen wurde den Indern zum Symbol für die absolute Reinheit des ursprünglichen Geistes. Deshalb wird der aus der Unwissenheit erwachte und erleuchtete Buddha auf einer Lotusblume sitzend dargestellt.
Von der Dunkelheit zum Licht
Das Rhizom der Seerose liegt tief unter der Wasseroberfläche im Dreck. Wir sprechen von Dreck, weil der Schlamm für uns braun und schmutzig aussieht. Alles, was von oben herunterfällt – Exkremente der Fische und Frösche, Blumensamen, Insektenleichen, zerfetzte Blätter und vieles mehr, setzt sich hier ab und bildet eine feuchte, dunkle Masse.
Aus diesem Schlamm, aus diesem Urgrund, empfängt die Lotuspflanze ihre Nahrung. Und von oben, von der Sonne, empfängt sie Licht und Wärme. So wird ihr Gedeihen von Erde und Himmel unterstützt.
Das Symbol der Geburt der reinen Blüte aus dem Schlamm hat einen Zwilling im Symbol vom tief in der Erde verborgenen Gold. Beide, die Lotusblume und das Gold, entstehen in der Dunkelheit und bergen in sich einen potentiellen, vollkommen reinen Glanz.
Während die Lotusblüte ihre Reinheit ganz aus sich selbst heraus entfaltet, erhält das Gold seinen Glanz erst durch einen enormen menschlichen Effort. Dasselbe gilt auch für Diamanten.
Viele östliche Geisteswissenschaftler benutzen Lotuspflanze, Gold oder Diamanten als Symbole für den menschlichen Geist: Uns allen ist die Reinheit und der Glanz der natürlichen Weisheit angeboren. Aber sie sind im Schlamm oder im Gestein uralter Sedimente vergraben – den Ablagerungen von überlieferten Vorstellungen, Meinungen, Glaubenssätzen und Geboten der gesamten Menschheit.
Dank der angeborenen Erkenntniskraft (Prajnaparamita) können wir den verborgenen Glanz unseres eigenen Geistes erahnen und mit den Werkzeugen von Kontemplation und Meditation ans Licht fördern.
Zuerst spürt man vielleicht das Vorhandensein des verborgenen Schatzes intuitiv. Dann findet man Werkzeuge – Studium von Texten und Methoden – mit denen man zu graben anfängt. Zuerst ist dies meist mit Anstrengung und Willen verbunden, doch nach und nach findet die Schaufel ihren Weg wie von selbst. Achtsamkeit und Gewahrsein nehmen den Platz ein, der ihnen gebührt.
Der verborgene Schatz «will» sozusagen gehoben werden, denn das ist seine Natur. Also klopft er gegen die harte Schale unserer Unwissenheit wie das ungeborene Küken, gegen die harte Eierschale pickt, bis diese bricht. Dem Küken hat die Natur dafür den Eizahn als Werkzeug gegeben., uns gibt sie Erkenntniskraft und Weisheit.
Entscheidungsfreiheit
Die Natur gibt allerdings keine Befehle, wie wir Menschen ihre Früchte zu nutzen haben. Sie ist einfach da und folgt ihren eigenen Schöpfungsgesetzen. Wir Menschen sind denn auch vollkommen frei, was wir mit unseren Gaben machen.
Bodenschätze wie Gold haben in der Menschenwelt seit altersher einen grossen materiellen Wert. Man will sie haben und behalten, aber man will sie nicht selber aus dem Berg holen. Das sollen andere für uns tun.
Bodenschätze werden zu Objekten der Begierde und führen zu Ausbeutung und Krieg.
Man kann Gold aber auch benutzen, um Figuren von Heiligen oder Altäre zu schmücken.
Oder man kann es in Form von Münzen verschenken und damit finanzielle Not lindern oder einfach jemandem eine Freude damit machen.
Wie gesagt, die Natur gibt keine Befehle, ja nicht einmal Anleitungen, wie wir mit ihren Gaben umgehen sollten. Die Lotusblüte sagt nicht zum Regen: Mach mich nicht nass. Sie weist den Frosch nicht ab, der auf ihr sitzt und Fliegen fängt. Der Teich sagt zum Wind nicht: Lass mich in Ruhe, ich mag keine Wellen, sie verunstalten meine glatte Haut.
Lotuspflanzen, Gold und alle anderen Schätze werden durch unsere Wertschätzung oder Missachtung nicht grösser oder kleiner, schöner oder hässlicher. Der Teich wird von den Wellen weder grösser noch kleiner noch bewegt er sich deshalb von der Stelle.
Unser Geist ist auch wie ein Teich. Jeder von uns ist ein Teich. Er ernährt unzählige Wesen, die in ihm leben. Seine Oberfläche ist hochsensibel. Jede Regung, jeder Sinnesreiz bildet Wellen in Form von Erinnerungen, Gedanken, Gefühlen, Worten usw. Manche legen sich sehr schnell, andere kommen nie mehr zu Ruhe, weil sie sich gegenseitig verstärken.
Aber der Teich hat kein Problem damit. Er liegt einfach da. Wenn die Sonne scheint, wird sein Wasser warm und wenn es regnet, kühlt es sich ab. Der Teich sagt nicht: Ich will jetzt warm werden oder ich will jetzt kalt werden; oder umgekehrt: Ich will nicht……
Dieses von allen Umständen losgelöste, lebendige Dasein ist ein Beispiel für das «Ruhen im Ungeborenen», von dem Bankei spricht. Es ist das «Wesen vor Vater-und-Mutter», von dem Hui-neng spricht, und es ist das reine Lotusland, von dem der Buddha spricht.
Und es ist das Wunder, das sich in uns selber offenbart.
Es gibt also keinen Grund, am Dasein oder am Ich-Bewusstsein oder am Schicksal herumzunörgeln. Lasst uns einfach dieser Teich sein und annehmen, was in uns und durch uns lebt und auch wieder vergeht.
Ständige Erneuerung
Einen Aspekt dieses Daseins haben wir noch nicht beleuchtet, nämlich die dauernde Erneuerung des Wassers im Teich.
Der Teich „weiss“ nichts davon und wir bemerken es auch kaum: Das Wasser, das den Teich ausmacht, ist selbst in ständigem Wandel begriffen. Für die Betrachter ist es immer dasselbe Wasser. Denn wir bemerken in der Regel nicht, wie das flüssige Element verdunstet. Wir realisieren meistens nicht, dass der Nebel oder die Wolken oder der Regen nichts anderes sind als die verwandelten Teiche, Seen und Meere unserer Welt.
Dasselbe gilt für unseren Geist. Er ist in ständigem Wandel begriffen, nimmt viele Formen, Färbungen und Schattierungen an, ist und bleibt aber immer derselbe Geist.
Und noch etwas gibt es zu bedenken, nämlich die Pflege und Gesunderhaltung des Teichs.
Es kann geschehen, dass es in einem Teich eine Stauung gibt, wenn zum Beispiel das Wasser zu wenig durchlüftet wird. Dann kann das am Boden abgelagerte organische Material nicht vollständig sterben, d.h. es kann sich nicht vollkommen auflösen. Es wird faul und stinkig und färbt das Wasser trüb. In künstlich angelegten Teichen und Biotopen braucht es deshalb eine Vorkehrung für die mechanische Durchlüftung.
Auch unser Geist muss gut durchlüftet sein. Andernfalls bleiben zu viele Restbestände von Gedanken und Emotionen im Gemüt liegen. Geist und Herz werden trüb, das Denken stumpf und die Lebensfreude friert ein. Wir alle kennen solche Zustände.
Regelmässiges Innehalten und Ausatmen bzw. das Freigeben aller belastenden Gedanken und Emotionen ist daher für einen gesunden, flexiblen Geist unerlässlich. So gesehen ist Meditation zweifellos eine ernstzunehmende Komponente der geistigen Hygiene. Auch oder ganz besonders im alltäglichen Leben.