Ist alles bloss Zufall? – Meditationswoche 2024, 2. Tag
Gestern haben wir uns die Frage gestellt, was uns hierher gebracht hat. Es ging nicht so sehr um das «Warum», sondern vielmehr um das Zusammenspiel von Umständen, die uns im Laufe unseres Lebens auf diesen Weg gebracht haben.
Ausnahmslos jede und jeder von euch fand in sich eine Erinnerung, meistens eine sehr lebendige Erinnerung, dass einmal oder öfters im Leben etwas Entscheidendes geschah, wodurch ein mysteriöses Wundern oder eine drängende Frage im Gemüt geweckt wurde.
Vielleicht war es in der frühen Kindheit, in der Pubertät oder im Erwachsenenalter – plötzlich hatte man etwas gespürt, gesehen oder gehört, das sich einem einprägte und keine Ruhe mehr liess. In der Regel behielt man dies für sich, ohne sich nach aussen etwas anmerken zu lassen. Man ahnte intuitiv, dass es keine Worte dafür gibt und dass man alleine war damit. Man wusste ja selber nicht, wie einem geschah, nicht wahr?
Solche Erlebnisse treten oft in einer Lebenskrise auf – ausgelöst durch eine verlorene Liebesbeziehung, eine lebensbedrohende Krankheit oder einen Stillstand im beruflichen Umfeld, – wenn «nichts mehr stimmt». Manchmal geschieht es auch ohne erkennbaren Grund – einfach so!
So werden Menschen auf ganz unterschiedliche Weisen sozusagen vom Leben selbst auf den Weg geschubst.
Der blinde Zufall
Wir denken ja immer, alles sei Zufall! Zufällig bin ich auf ein Buch gestossen, zufällig habe ich etwas gehört, zufällig habe ich jemanden getroffen …
Aber was ist Zufall? Ist Zufall etwas anderes als ein Wort, ein Konzept für ein Geschehen, dessen Ursprung wir nicht kennen und das nicht in unsere logische Ordnung passt?
Man kann auch fragen: Wenn es nicht Zufall ist, was mit uns geschieht, was ist es dann? Was ist es, das unser Leben bestimmt?
Wie finden alle Lebewesen ihr Essen? Wie heilen körperliche und seelische Wunden? Was ist es, das dieses ganze Leben unterstützt und schützt?
Das menschliche Denken ist viel zu limitiert, um das Mysterium des universalen Lebens zu durchdringen. Aber es wäre eigentlich klug genug, um festzustellen, dass da eine grosse Intelligenz, eine wirkungsvolle Weisheit am Werk ist.
Sie zeigt sich tagtäglich in allem, was wir tun. Angefangen beim In-die-Windeln-Machen, Trinken, Essen, Schuhe-Binden, Niesen und Lachen – überall ist sie am Werk, diese Intelligenz. Alles wird von ihr gesteuert. Nicht nur bei uns Menschen.
Wir spüren ihr Wirken, haben aber keine Worte dafür. Es gibt überhaupt keine Definitionen dafür. Und deswegen sagen wir: Die Wirklichkeit ist leer. Leer von irgendetwas Festem, Messbarem, leer von Objekt und Subjekt.
Obwohl die natürliche Lebensenergie völlig unpersönlich ist, erleben wir Menschen ihr Wirken ganz persönlich und individuell. Jeder kommt auf seine Weise in Kontakt mit ihr.
Lasst uns dies etwas tiefer erforschen.
Direktes und indirektes Licht
Es gibt da allerdings eine Schwierigkeit: Wir können das, was unser Leben ausmacht, nicht mit unseren sterblichen Augen sehen.
Wir können ja auch nicht direkt in die Sonne schauen – wenn, dann nur ganz flüchtig. Andernfalls würden wir erblinden, weil das Sonnenfeuer die Zellen der Augen verbrennen würde.
Und doch sehen wir die Sonne; wir wissen um die Sonne; wir leben von der Sonne.
Unsere ganze Welt – mit all ihren sichtbaren und unsichtbaren Dingen – ist eine Reflektion von Licht und Wärme dieses einen, gewaltigen Feuers, das im weiten Universum brennt und unseren Planeten bestrahlt. Ohne diese Bestrahlung gäbe es uns nicht.
Die Tatsache, dass wir dies wissen und solche Aussagen machen können, ist ebenfalls die Auswirkung von einer Art Licht. In diesem Fall ist es das Licht der Erkenntnis oder das geistige Licht. Wir alle tragen in uns ein Bewusstsein, ein Wissen, das uns die Welt erhellt. Ohne Bewusstsein wüssten wir nichts von unserer Existenz. Und ohne dieses geistige Licht, wären wir jetzt nicht hier.
Kann man das äussere Licht und das innere Licht voneinander trennen? – Nein! Wir sind allesamt Geschöpfe aus Körper und Geist. Wir sind Körper-Geist!
Es ist ganz wichtig, dass man dies versteht: So, wie es kein Leben gibt ohne Sonnenlicht, so gibt es kein Leben ohne Geist. Nur dank dieses geistigen Lichts, dieser innewohnenden Intelligenz und Weisheit bekommt jedes Lebewesen die Informationen, wie es für sein Leben sorgen kann und muss.
Das ist die Wahrheit hinter den Worten: Alles ist Buddha-Natur; alles ist Gott; Gott ist in allem; Buddha-Natur ist in allem. Die Chinesen nennen diese schöpferische Allmacht Tao.
Grenzüberschreitung
Die Naturwissenschaft kennt unzählige Techniken und Methoden, um die sinnlichen Grenzen zu überschreiten. Aber es ist ihr bisher nicht gelungen, dem Wunder des Daseins auf den Grund zu kommen.
Ebenso gibt es diverse «Techniken» zum Überqueren der geistigen Grenzen. Eine davon ist die Meditation. Es gab zum Beispiel schon lange vor Shakyamuni Buddha in Indien Menschen, die das Wesen des Lebens mittels Introspektion und Kontemplation erforschten. Dabei «entdeckten» sie den klaren, stillen Geist im Meditationszustand. Da ihre Erfahrungen die Grenzen des gewöhnlichen Denkens und der Umgangssprache überschritten, entwickelten sie eine besondere Sprache dafür, Sanskrit genannt.
Im Laufe von Generationen wurde diese Wissenschaft mit viel Geduld, Ausdauer und Weisheit weiter entwickelt und vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft zugänglich gemacht.
Leben im leeren Raum
Es braucht Mut, Vertrauen und einen immer neuen Effort, die gewohnten Gedanken und Überzeugungen zu verlassen und in das unermessliche Sein einzutreten. So wie es Mut braucht, mit einem Schiff vom Ufer abzustossen und in den weiten Ozean hinaus zu segeln oder mit einem Flugzeug vom Boden abzuheben und sich dem weiten Raum anzuvertrauen.
Ob in der Schifffahrt oder bei der Fliegerei: Der Kapitän und der Pilot brauchen eine fundierte Kenntnis der Gesetzmässigkeiten von Wasser, Luft, Wetter und vielem mehr. Und sie müssen ihr Fahrzeug genau kennen – die Funktionen und das Zusammenwirken aller Teile. Ausserdem müssen sie viele Stunden, Tage und oft Jahre lang üben.
Doch mit der Zeit gewinnen sie Vertrauen in sich selbst und in ihr Verstehen der Natur. Dann können sie sich im offenen Raum weise und geschickt bewegen. Selbst unerwartete Wetterumschläge, Stürme oder technische Probleme können dann weitgehend gemeistert werden.
Genau das soll auch unser Ziel sein: Unser geistiges Potential so einzusetzen, dass wir den Turbulenzen des Alltages nicht nur standhalten, sondern sie sogar für die Stärkung unserer Lebenskraft nutzen können. Auch wir können uns durch das Studium der überlieferten Erkenntnisse, durch Meditation und durch regelmässiges Üben im Alltag ein fundiertes Wissen um die Gesetzmässigkeiten des inneren und äusseren Lebens aneignen.
Noch ist es für die meisten von uns nicht möglich, unseren Geist über längere Zeit zu fokussieren und in der Gegenwart präsent zu sein. Denn allzu schnell wird unsere Aufmerksamkeit von den persönlichen Bedürfnissen und Interessen in Beschlag genommen.
Umso wichtiger ist es, sich in einer Woche wie dieser, wo wir uns ganz der Meditation hingeben können, unser Bestes zu tun. In der Praxis bedeutet dies, dass man sich mit Haut und Haar und Knochen der Sache hingibt.
Dafür sind wir hier.
Doch egal wie meisterhaft man sein Metier beherrscht, man ist nie fertig damit. Das gilt auch für die Meditation – es gibt keine Garantie für den Erfolg. Es gibt nur eine Sicherheit: Eines Tages wird diese Reise zu Ende sein. Wo und wie und wann dies geschieht, wissen wir nicht. Umso wichtiger ist es, das Heute voll anzunehmen und zu nutzen.
Auch wenn wir nicht auf dem Meditationskissen sitzen, gibt uns jede Minute die Gelegenheit, durch Achtsamkeit Meisterschaft über unsere vielen unbewussten Regungen und Handlungen zu entwickeln. Zum Beispiel auch bei den Mahlzeiten.
Von Worten zu Taten
Unser Tischspruch beim Beginn der Mahlzeit beginnt mit den Worten:
Jede Speise ist eine Gabe von Himmel und Erde.
Viele Kräfte wirken zusammen, bis Nahrung gewachsen und zubereitet ist.
Lasst uns achtsam sein, damit wir nicht zerstreut, missmutig oder gierig essen …
Ich denke, wir können nun alle zweifelsfrei bezeugen, dass dies nicht nur für die Speisen auf unseren Tellern zutrifft. Auch bei der die Zubereitung unserer geistigen Nahrung wirken viele Kräfte zusammen.
Und während die organische Nahrung aus den Samen in der Dunkelheit der Erde spriesst, entwickelt sich die geistige Nahrung in der Dunkelheit unserer geistigen Blindheit.
Aber zur Nahrung werden alle Speisen erst dann, wenn sie gekaut, geschluckt und verdaut werden. Kauen und schlucken können und müssen wir selber. Das Verdauen hingegen ist alleinige Sache der Natur.
Wir sollten deshalb auch die geistigen Speisen sorgfältig kauen, d.h. studieren, kontemplieren und dann schlucken, d.h. annehmen. Alles Weitere übernimmt die Natur.
Natürlich gibt es auch Speisen, die uns nicht schmecken oder die unverdaulich sind. Es gilt daher sorgfältig darauf zu achten, was wir zu uns nehmen, wer es zubereitet hat und aus welcher Quelle es kommt.
Unser eigenes Tun (Karma) ist entscheidend dafür, welche Art von Samen aus dem wachsen, was uns das Leben an Nahrung gibt. Wann und wie und wo die Samen reifen, liegt nicht mehr in unserer Hand. Gemäss des buddhistischen Verstehens, kann der Prozess vom Säen der Samen – durch Reden, Denken und Tun – bis zu ihrer Reifung viele Jahre oder auch mehrere Lebenszyklen dauern.
Übung für den Alltag
Ich hoffe, ihr habt nun alle gemerkt, dass das, was wir hier tun, eine grosse Bedeutung hat für unser konkretes Leben und das Leben anderer. Bitte nutzt auch den heutigen Tag mit Verstand und Vertrauen. Haltet euch nicht auf bei Vorstellungen und Erwartungen. Lasst ab von der gewöhnlichen Ichheit mit ihrer Kritik und Nörgelei an euch selbst oder an anderen. Bleibt leicht und zuversichtlich.
Bündelt die Strahlen eures geistigen Lichts in eurem Körper und Geist. Sie werden die Samen der Erkenntnis wärmen und nähren. Auf diese Weise kann sich das Dharma-Auge öffnen. Das ist das Auge, das die blosse Oberfläche durchdringt und die Dinge in ihrer Wirklichkeit sieht.
Und wie sind die Dinge in Wirklichkeit?