Verschiedene Gedankenbrunnen

Einleitung

Verschiedene Gedankenbrunnen – Wegen meines verschiedene Gedankenbrunnens, wenn ich schaue, sehe ich nichts. Der gegenwartige Augenblick ist verloren. Wenn ich esse, esse ich nicht. Die Geschichte meines Lebens. Könnte es eine andere Geschichte sein?

Der Gedankenbrunnen

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, kaufte mein Vater eine kleine Farm im Nordwesten von Indiana (USA), in einer Gegend, die mit einem guten Boden und Klima gesegnet war/ist und ausgezeichnete Früchte, insbesondere Äpfel, hervorbrachte. Mein Vater, obwohl in Ohio geboren, war mit seinen Eltern emigriert, als er noch sehr klein war. Die Familie kehrte zurück nach Polen, aufs Land, zur Landwirtschaft, auch wenn dies bedeutete, dass sie mit sehr wenig auskommen mussten. Sie konnten einfach nicht im industrialisierten Ohio leben. Nun, es gab offenbar noch weniger als erwartet, denn im Alter von fünfzehn Jahren war mein Vater zurück in den USA, arbeitete und schickte das verdiente Geld an seinen Eltern und die Familie, welche in Polen geblieben war.

All dies soll nur zeigen, dass mein Vater mit dieser Sieben­ Hektare­ Farm im nordwestlichen Indiana so nahe an seine Traumheimat herangekommen war, wie dies möglich war. Er beschäftigte sich mit seinem Traum, strich das Haus neu, flickte den Hühnerstall, schnitt Bäume und suchte nach einem gut erhaltenen, gebrauchten Traktor. Er hoffte, sich eines Tages an diesen Ort zurück zu ziehen. Meine Mutter teilte diesen Traum nicht. Sie erfreute sich an der Farm auf ihre Art und Weise, aber sich dort zur Ruhe zu setzten, war nicht Teil ihres Traums.

Rte 6

Jedes freie Sommerwochenende war „auf der Farm“ geplant. Wir, mein Bruder und ich, liebten dies, auch wenn es Stunden dauerte, um dorthin zu gelangen. Der einzige direkte Weg war Rte 6. Rte 6 führt von Provincetown MA an der Ostküste nach Long Beach CA an der Westküste der USA; und an jedem beliebigen Sonntag wurde Rte 6 zu einem zweispurigen Parkplatz: Östler kehrten zurück nach Osten, Westler zurück nach Westen. Für meinen Bruder und mich war dies keineswegs immer schlimm, denn es bedeutete, dass eine gute Chance bestand für einen Halt am Brunnen.

Der Brunnen war ein besonderer Ort. Er lag in einer kleinen Oase an einer Abzweigung von Rte 6. Nicht sehr weit von der Autobahn entfernt, befand sich ein Fleck mit saftig grünem Gras, halbwegs rund, mit einigem Gebüsch versehen und einem sehr stattlichen Baum, welcher willkommenen Schatten vor der heissen Sommersonne spendete. Es war der einzige Baum weit und breit. In dieser Gegend wurde ausschliesslich Mais angebaut. Das Land war flach und in den Sommermonaten ein einziger See aus grüner Farbe, so weit das Auge reichte.

Der Brunnen

Der Brunnen selbst war ungefähr ein Meter hoch. Er bestand aus einer einzelnen Steinsäule, und einem runden Becken darauf, welches ebenfalls aus Stein war. In der Mitte dieses Beckens stieg eine sieben oder acht Zentimeter dicke schwarze Eisenröhre aus der Steinsäule empor. Durch diese Röhre sprudelte das Wasser an die Oberfläche, aus irgend einem Reservoir, welches sein Wasser aus dem etwas fünfzehn Kilometer entfernten Michigan ­See bezog.

Die Röhre endete etwas unterhalb des Beckenrandes, so dass sich, wenn das Wasser zur Oberfläche stiess, ein kleiner Knopf auf der Wasseroberfläche bildete. Dieser Wasserknopf verteilte sich dann mit sanfthügeligen Wellen nach aussen an den Beckenrand. Dort floss das Wasser über einen Ausguss in einen kleinen Bach nebenan, an dessen Ufer es zeitweise auch Frösche gab.

Der Brunnen war besonders, weil das Wasser so gut schmeckte, jedenfalls dann, wenn man sich an seinen starken Eisengeschmack gewöhnt hatte. Es schmeckte besonders ausgezeichnet, wenn man lange Stunden im erstickend heissen Auto gesessen hatte, darauf wartend, dass sich der Sonntagsparkplatz einige Meter weiter nach vorne verschob. Aber es gab noch einen anderen Grund, weshalb der Brunnen für uns so besonders war: Beugte man sich weit vornüber, die Händen im eiskalten Wasser, konnte man man direkt in die schwarze Eisenröhre gucken, aus welcher das Wasser sprudelte. Dieses Wasser war voller winziger, tief golden leuchtender Schuppen von irgend einer Eisenverbindung.

Diese winzigen Schuppen

Diese winzigen Schuppen verliehen dem Wasser seinen speziellen Geschmack und veranstalteten ausserdem einen manchmal verträumten, manchmal heftigen Tanz auf dem Weg zur Oberfläche. Uns gegenseitig abwechselnd, schauten mein Bruder und ich tief in die Eisenröhre hinein, so tief, wie es uns möglich schien, und verfolgten die winzigen Schuppen mit unserem Blick von der Tiefe bis an die Oberfläche, die Augen weit aufgesperrt, mit verzückter Aufmerksamkeit, völlig verzaubert.

Das Brunnenbecken war mit einer tiefen Schicht dieser Schuppen bedeckt, welche mit der Zeit an den Boden gesunken waren und dem Stein jetzt eine dunkle Haut verliehen, äusserst schlüpfrig und zäh. Jede Schuppe hatten ihren eigenen Platz, nicht nur im Becken lagerten sie, sondern auch im Bach nebenan und auf den Steinen um den Brunnen herum. Mein Bruder und ich hatten jeder ein gutes Mass an aufgeschürften Ellbogen und Knien, wenn wir auf diesen mit Eisenschleim bedeckten Steinen ausgeglitten waren. Erinnerungen, Erinnerungen, Erinnerungen, wer wäre ich ohne sie?

Wenn ich schaue, schaue ich

Aus dem Fenster schauend in die Schönheit des Sonnenuntergangs sehe ich die Schönheit des Sonnenuntergangs. Ich schaue dem gold­orangenen Ball zu, wie er hinter den Horizont rutscht. Erinnerungen an andere Sonnenuntergänge, andere Länder, andere Kameraden, sprudeln aus meinem Gedankenbrunnen herauf.

Habe ich diesen Sonnenuntergang wirklich gesehen? Oder war ich damit beschäftigt, die Vergangenheit zu geniessen, die Geschichte von anderen Sonnenuntergängen? Oder verbrachte ich die Zeit damit, diesen gegenwärtigen Sonnenuntergang mit einer Erinnerung an einen „wirklich ausserordentlichen Sonnenuntergang“ zu vergleichen, den ich irgendwann in der Vergangenheit gesehen hatte? Habe ich diesen Sonnenuntergang gesehen? Habe ich überhaupt schon einmal einen Sonnenuntergang gesehen?

Ich erzähle mir immer irgendwelche Geschichten. Nicht reine Fantasie, ohne Fakten, aber Geschichten basierend auf einer Mixtur aus Fakten, Gefühlen, Vorurteilen, Kultur, Rasse, Religion, Beruf, Familie und einer Menge anderer Worte, welche den Inhalt des Gedächtnisses zu beschreiben versuchen. Wir leben in dieser Welt der Erinnerungen und wir re­agieren aus ihnen heraus in unserer Beziehung auf das, was ist, auf das Sosein dessen, auf die Realität.

Reaktion

Unsere Re­aktion verursacht eine Re­aktion vom Gegenüber, was oder wer es auch sein mag, und diese Verknüpfung von Re­aktionen ist das, was „ich“ als Realität bezeichne. Ich nehme den Hausschlüssel aus meiner Tasche, stecke ihn ins Schlüsselloch und er dreht sich nicht. Ich kann die Türe nicht öffnen. „Das verflixte Schloss muss kaputt sein.“ Ich habe nicht Unrecht, ich benutze den richtigen Schlüssel, das Schlüsselloch hat Unrecht (lies: ist kaputt ).

Dieser innere Dialog, den wir Denken nennen, kann eine ganze Weile dauern. Es kommt nur darauf an, wie wichtig es für mich ist, Recht zu haben. Die Einstellung „Ich mache keine Fehler, aber wenn ich es tue, dann wegen _____“nennen wir Realität. Die leere Stelle nach „wegen“ enthält gewöhnlich den Namen einer Sache oder einer Person, der sicher nicht mein eigener ist. Diese oder eine ähnliche Lebenshaltung bestimmt meine tägliche Existenz.

Was das Öffnen der Türe anbetrifft, vermuten wir alle, dass es bloss darum gegangen wäre, meine Hand nochmals in die Tasche zu stecken und den richtigen Schlüssel herauszuziehen. Wenn Sie neben mir gestanden hätten in diesem Augenblick der Frustration über ein nicht kaputtes kaputtes Schloss, hätten Sie vermutlich genau dies vorgeschlagen, vorausgesetzt, Sie hätten nicht befürchtet, ich würde Sie in meiner Frustration anbellen. Sie hätten die Angelegenheit sachlich gesehen, logisch. Aber ich sah sie durch die Brille von „ich“. Und dieses „ich“ macht keine Fehler. Dies ist es, was meinem sachlichen Denken und dem Öffnen der Türe im Wege stand.

Fehler

Nun, wenn ich einen Fehler mache, was geschieht mit diesem Ich, das nie einen Fehler macht, dieser Schöpfung meiner Fantasie? Sieht es sich nicht in Frage gestellt? Bedroht? Hat es nicht Angst? Angst, es könnte vielleicht nicht existieren? Ist das der Grund, warum ich meine Fehler jemand anderem oder etwas anderem aufbürde, um „meine“ Existenz sicher zu stellen?

Fehler passieren nur, wenn ich nicht in Übereinstimmung mit der Realität handle, mit dem, was ist, mit dem Sosein des Augenblicks. Bin ich in Übereinstimmung mit der Realität, wenn die Realität durch meine Ich­-mache-­niemals-­Fehler-Brille gefiltert wird? Wäre ich achtsam gewesen, als meine Hand in die Hosentasche griff, um den Schlüssel heraus zu ziehen, hätte ich dann wohl den falschen Schlüssel gezogen?

Oder wenn ich nicht sicher gewesen wäre, welches der richtige Schlüssel ist, hätte ich nicht beide in die Hand nehmen können? Ja! – wenn ich in diesem Augenblick bei der Sache gewesen wäre, wenn sich meine Gedanken nicht damit beschäftigt hätten, was an der anderen Seite der Türe ist. Ich befand mich bereits auf der anderen Seite der Türe, allerdings ohne meinen Körper.

Oder nehmen wir an, ich wäre unbewusst geblieben bis zum Zeitpunkt, als ich den falschen Schlüssel im Schloss zu drehen versuchte, hätte da nicht doch eine Möglichkeit bestanden, diesen inneren Konflikt, der entstand, weil mein „Ich“ im Wege stand, zu vermeiden, indem ich einfach ganz sachlich nochmals in die Tasche gefasst und den anderen Schlüssel genommen hätte? Natürlich lautet die Antwort „Ja“. Diese Möglichkeit besteht von Augenblick zu Augenblick. Dies bedeutet, mit der Realität im Einklang zu sein.

Ein alter Zen ­Meister wurde von einem Schüler gefragt:

„Meister, wie setzt man Erleuchtung (Gewahrsein) in die Tat um? Wie wendet man sie im täglichen Leben an?“
„Indem man isst und schläft“, antwortete der Meister.

„Aber Meister, alle essen und alle schlafen“, antwortete der Jünger. „Aber nicht alle essen, wenn sie essen, und nicht alle schlafen, wenn sie schlafen“, sagte der Meister.

Essen, wenn essen, schlafen, wenn schlafen, das ist alles! Warum machen wir es uns so kompliziert?

Der gegenwärtige Augenblick

Das Studium der Erdkrustenbewegung basiert auf der Theorie der Tektonischen Platten. Die Bewegung zeigt sich uns in Phänomenen wie Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Einfach ausgedrückt besagt die Theorie, dass sich die Platten, welche die Landmasse tragen, in ständiger Bewegung befinden. Die relativ dünne Landmasse der Platten, fliessen auf einer zähflüssigen Magmaschicht, Mantel genannt. Temperatur schwankungen im Mantel werden für die Bewegungen der Platten verantwortlich gemacht.

Man unterscheidet drei Arten von Bewegungen:

  1. Spreizung: Zwei Platten bewegen sich in entgegengesetzter Richtung wie z.B. in ozeanischen Tiefseegräben.
  2. Subduktion: In den Tiefsee gräben sinkt die Kruste wieder in den Mantel ab und wird vernichtet. Die eigentlichen Kontinentalblöcke aus vorwiegend granitischem Material werden, zusammen mit den umgebenden Ozeanböden, wie auf einem Fliessband auf die Subduktionszonen zu geschoben; z.B. San ­Andreas­ Graben in Kalifornien.
  3. Kollision: Zwei Platten stossen zusammen und bilden Bergzüge.
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Subduktion

Eine Art von Subduktion findet statt, wenn die ozeanische Lithosphäre mit der kontinentalen Lithosphäre kollidiert und unter diese versinkt. Man kann sich die dabei wirkende Ansammlung von Kräften zwischen den Platten kaum vorstellen. Die leichtere ozeanische Lithosphäre wird langsam und methodisch von der dichteren kontinentalen Lithosphäre konsumiert. Es kommt zu Vulkan ausbrüchen im Inland und in einer Linie, die parallel zur Subduktionzone verläuft, was die Vollendung der Subduktion bezeugt. Die ozeanische Platte existiert nicht mehr. Sie wurde von der Kontinentalplatte quasi verschluckt und ist nun Teil von dieser.

Vielleicht fangen Sie jetzt an sich zu wundern, was Tektonische Platten mit diesem Artikel zu tun haben. Dahinter steckt die Idee, die Plattenverschiebungen als Sinnbild zu benutzen für das, was gemeint ist mit dem Begriff „der gegenwärtige Augenblick“, wobei dieser vielleicht besser beschrieben werden könnte als „Leben in der Subduktionszone“. Muss man, wenn man über den gegenwärtigen Augenblick spricht, nicht auch über den nicht­-gegenwärtigen Augenblick sprechen? Der eine existiert nicht ohne den anderen, genau so wenig, wie schwarz ohne weiss existiert. Ist es nicht so?

Wenn ein Augenblick nicht gegenwärtig ist, aber einmal gegenwärtig war, dann existiert er in der Vergangenheit. Er befindet sich im Gedächtnis, nicht wahr? Alle vergangenen gegenwärtigen Augenblicke sind im Gedächtnis gespeichert. Wo könnten sie sonst sein? Die Zukunft existiert für uns, weil für uns die Vergangenheit existiert. Das eine ist durch das andere definiert, wobei das Konzept der Zeit als Brücke dient. Die Vergangenheit ist bekannt. Alle Fakten, Bilder, Erfahrungen, Symbole, Empfindungen und Emotionen, die im Gedächtnis gespeichert sind, bilden unser „Wissen“.

Alles ausserhalb der Sphäre dessen „was wir wissen“ ist das Unbekannte.

Wir nennen es die Zukunft. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft, dem Unbekannten. Diese Vorstellung basiert auf dem, was man weiss, und spiegelt sich in Aussagen wie: „Wenn ich ______ gemacht habe, werde ich ______ sein“, oder „Wenn ich _____ gefunden habe, wird mein Leben _______ sein“, oder „Wenn ______ nicht wäre, würde mein Leben _____ sein“. Woher kommen alle diese Ideen von „wenn­ dann“? Aus dem Gedächtnis? Aus der Vergangenheit? Was wir wissen, befindet sich im Gedächtnis. Was wir wissen, ist bedingt durch Hautfarbe, Nationalität, Kultur, Familie, Freunde, Feinde, Erziehung, und von dem, was sich im eben vergangenen Augenblick abgespielt hat. All dieses Wissen bestimmt unsere Beziehung zu dieser Welt, unsere Sicht der Realität, zu dem was ist, zur Soheit davon.

Der gegenwärtige Moment

Sehe ich jemals Soheit wenn ich Soheit immer aus dem Blickwinkel meines Wissens interpretiere? Sehe ich einen Baum, wenn ich jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue, entscheide, ob ich ihn mag oder nicht? Sehe ich einen Baum, wenn ich ihm ein Etikett verpasse, ihm einen Namen gebe?

Sehe ich einen Baum, wenn ich jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue, an die Schmerzen denke, die ich als Kind erlitt, als ich von einem Baum fiel? Sehe ich einen Baum oder wiederhole ich bloss die Vergangenheit, spule meine Erinnerungen ab, die mit der Wahrnehmung von „Baum“ verbunden sind? Überstülpe ich nicht dem gegenwärtigen Augenblick meine Erinnerungen an einen anderen gegenwärtigen Augenblick und ersetzte damit diesen gegenwärtigen Augenblick?

Ist der gegenwärtige Augenblick nicht die Kontaktstelle zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten? Die Vergangenheit, als Erinnerung gespeichert, überlagert die Zukunft, verschluckt sie gewissermassen. Und dies geschieht im gegenwärtigen Augenblick. Der vorherige gegenwärtige Augenblick, die Vergangenheit, trifft auf das Unbekannte. Je grösser die Dichte der Vergangenheit ist, d.h. je mehr ich darauf bestehe, das, was ist im Vergleich zu was war oder was sein sollte zu sehen, umso grösser sind die Vulkanausbrüche und Erdbeben in meinem Leben. Meine Erinnerungen, die Vergangenheit, zwängt die Zukunft, das Unbekannte, das, was ist unaufhörlich in seine eigenen Vorstellungen, in das was meiner Ansicht gemäss sein sollte.

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Was-sein-sollte

Das Was­-sein­-sollte ist konstruiert aus Gedanken, aus dem Gedächtnis, aus der Vergangenheit. Entsprechend ist das, was wir „sehen“ nicht der gegenwärtige Augenblick, nicht das, was ist, nicht die Soheit dessen. Was wir sehen, sind die Vulkane und Erdbeben der Kollision zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und unserer Vergangenheit, der Konflikt zwischen meinen Vorstellungen, wie die Dinge sein sollten, und wie sie wirklich sind. Können Sie den Konflikt sehen? Können Sie sehen, was den Konflikt auslöst? Können Sie die Subduktionszone sehen?

Ich bin mit jemandem verheiratet. Ich nenne diesen jemanden „mein Ehemann“. Was meine ich mit diesen Worten „mein Ehemann“? Wo wurzelt die Bedeutung dieser Worte? Etwa wo anders als in meinem Gedächtnis? Was geschieht, wenn meine Idee, wie ein Ehemann sein sollte mit dem in Kontakt kommt, was ist, mit der Realität eines anderen in meinem Leben? Wird nicht der Kontakt von Moment zu Moment, der gegenwärtigen Augenblick überlagert von meinen Vorstellungen, was ein „Ehemann“ ist?

Nun hat aber derjenige, den ich „Ehemann“ nenne, seine eigenen Vorstellungen davon, was ein „Ehemann“ ist. Nicht nur das, er hat auch seine eigenen Vorstellungen davon, was eine „Ehefrau“ ist. Von diesen Ideen ausgehend, die erzeugt sind von Gedanken, welche erzeugt sind vom Gedächtnis, zwängt er die Realität des Zusammenlebens mit jemand anders in seine Version von dem, was seiner Ansicht nach sein sollte.

Sehen wir das Konflikt potential?

Sehen wir, wie wir die Realität des gegenwärtigen Augenblicks manipulieren, um ihn unseren Ideen, wie es sein sollte, anzupassen? Meistens sehen wir es nicht. Meistens sind wir uns unserer Gedankengänge nicht bewusst und leben infolgedessen in dauerndem Konflikt. Konflikt ist das Resultat des Versuchs, die Realität gemäss den eigenen Vorstellungen zu manipulieren. Und diesen Konflikt nennen wir Beziehung. Und dieser Konflikt ist unsere tägliche Existenz: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis.

Im gegenwärtigen Augenblick zu leben hat nichts zu tun mit unseren Vorstellungen gegenwärtiger Augenblick davon, wie der gegenwärtige Augenblick sein sollte. Wenn ich jedem gegenwärtigen Augenblick mit einer Vorstellung begegne, wie er sein sollte, wie kann ich ihn dann als das erleben, was er ist? Ich mache nichts anderes, als meine Vergangenheit re­aktivieren, meine Erinnerungen durchspielen, Vergleiche und Schlüsse ziehend, immer und immer wieder neu. Welch Schlamassel! Gibt es einen Ausweg aus diesem Sumpf? Natürlich gibt es den; er heisst „achtsam sein“. Die Achtsamkeit, die in den Worten liegt: „Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich schlafe, schlafe ich.“

Wenn ich esse, dann esse ich.

Wenn ich esse, dann esse ich, natürlich, aber was mache ich sonst noch, wenn ich Nahrung in meinen Mund stopfe? Das ist die Frage, nicht wahr? Wo sind meine Gedanken, während ich, meistens mechanisch, einen Bissen halb kaue und schlucke? Wo sind meine Gedanken, wenn die Spaghettisauce auf meine neue Krawatte tropft oder mein Ärmel im Kartoffelstock landet? Wo sind meine Gedanken, wenn ich die Strasse entlang haste mit einer Bratwurst in der einen Hand und einem Bürlibrot in der anderen? Bin ich im Kontakt mit der Realität davon, mit dem Akt des Essens?

„Wenn ich esse, dann esse ich“ ist das von Moment zu Moment vorhandene Gewahrsein der Gabel, die vom Teller zum Mund geführt wird, ist das von Moment zu Moment vorhandene Gewahrsein des Kauens und Schluckens, das Gewahrsein der Empfindung, die dieses Tun auslöst. Dann bin ich im Kontakt mit der Realität des Essens. Ich bin nicht in Gedanken über das, was irgendwann in der Zukunft geschehen wird. Ich denke nicht darüber nach, was als Nachspeise kommt. Ich denke nicht darüber nach, war ich auf die Kommentare der Person antworten werde, mit welcher ich das Essen einnehme und die übrigens auch Spagetthisauce auf ihrer Krawatte hat. Wenn ich esse, dann esse ich, bedeutet „hier sein – jetzt“.

Daran ist nicht Esoterisches.

Da gibt es nichts zu lernen. Da ist niemand, der einen dies beibringen wird. Da gibt es nichts zu üben. Da gibt es keine Geheimnisse zu enträtseln. Da gibt es nichts zu tun. Es gilt bloss, im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein, und der erste Schritt in diesem Im­-Augenblick-­präsent-­Sein ist auch der letzte Schritt. Man ist es oder ist es nicht!

Das ist keine Funktion der Zeit. Es ist nichts, das „ich-­sein­-sollte“ und deshalb „versuche­-zu-­sein“. Alle Gedanken von „ich-­sollte-­sein“ basieren auf Ideen aus etwas Vergangenem und sind deshalb von der Zeit abhängig. Denn Zeit ist eine Funktion der Vergangenheit und des Erinnerungsvermögens. Wenn man „versucht­ etwas­-zu­-sein“, nämlich präsent im gegenwärtigen Augenblick, dann verlegt man diesen Augenblick in die Zukunft und dort bleibt er auch.

Eine andere Geschichte

Wegen einer unzeitlich getätigten Liegenschaftsspekulation war meine finanzielle Lage ziemlich prekär. Als Folge davon musste ich eine Arbeit als Küchenchef in einem kleinen, aber gut besuchten Restaurant im italienischen Quartier unserer Stadt annehmen. Es gab viele Bewerbungen für diese Stelle; ich bekam sie, weil ich die Sprache (italienisch) fliessend spreche und weil ich die lokale Küche (Toscana) gut kenne. Indem ich mich einverstanden erklärte, jeden Tag in zwei Schichten zu arbeiten, konnte ich einen Lohn aushandeln, welcher mir erlaubte, meine unmittelbaren Lebenskosten zu decken und einen kleinen Teil an meine Gläubiger zurück zu bezahlen.

Die Arbeit verlangte es, dass ich lange Zeit stehen musste. Diese Tatsache, zusammen mit der zeitweise hohen körperlichen Anstrengung, die nötig war, um die schweren Pastatöpfe zu heben, und der entsprechenden mentalen Anstrengung, die nötig war, um die Arbeitsabläufe effizient zu organisieren und die Sinne wieder zu erwecken für die Geräusche der kochenden Pfannen, pfeifenden Kessel, für die diversen Düfte und ganz besonders für den Geruch des Holfzofens, in welchem einzigartige Pizza-­ähnliche Delikatessen zubereitet wurden, all dies bedeutete, dass ich nach der zweiten Schicht knochenmüde war und einen dicken Brummschädel hatte.

Küchenfertigkeit

Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis ich die „Küchenfertigkeit“ wieder erlangen würde. Die Sinne würden wieder natürlich auf ihre passenden Eindrücke antworten. Das Gehirn würde diese Eindrücke mit Hilfe der passenden Erinnerungen interpretieren, wobei das Gedächtnis als Grundlage für die Vergleiche dient. Ich bemerkte, dass diese Fertigkeit sich umgekehrt proportional zum „Lärm“ in meinem Kopf verhielt. „Lärm“ im Sinne von Gedanken, Bildern, Symbolen, die nichts mit den gegenwärtigen Sinneseindrücken zu tun hatten und deshalb für die Arbeit irrelevant waren. Es war keine Frage der Konzentration. Es war keine Sache von Disziplin, denn Disziplin und Konzentration implizieren Einschränkung bzw. Ausschluss von Sinneseindrücken.

Es war eine Sache des Einbezugs aller Sinne, d.h. ganz offen zu sein für Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen und Riechen, ganz bei den Fakten zu bleiben und auf diesen Fakten andere Fakten aufzubauen. Sobald ich etwas machen wollte, gelang es nicht. Wann immer meine Gedanken abwichen von dem, was gerade geschah, wurde ich mit einem Schnitt in den Finger, einer angebrannten Pfanne oder sonst einem Missgeschick belohnt. Durch diesen Meteorregen von „Lärm“ zu navigieren, war nur möglich im Zustand von höchster Achtsamkeit. Es gab keinen Platz für Gedanken wie: „Oh, das wird eine ausgezeichnete Vorspeise werden.“ oder „Hmm, vielleicht sollte ich ein Kochbuch verfassen, um aller Welt mein Kochtalent kundzutun.“

Reaktionskreis

Im Reaktionskreis zwischen den Sinneseindrücken und meinem Gedächtnis machte das Gehirn Vergleiche und zog blitzschnelle und genaue Schlüsse. Das Gedächtnis tat das, was Gedächtnisse am besten können – es analysierte gegebene Tatsachen. Sobald ich mich auf müssige Gedanken einliess, fiel mein Gehirn in ein Chaos. Es brauchte dann einige Zeit, um sich wieder mit den Sinnen zu verbinden und im Augenblick gegenwärtig zu sein.

Manchmal resultierten diese Absenzen der Achtsamkeit in Rauchschwaden aus dem Holzofen, sehr zum Missfallen der Besitzer. Eine Flasche Chianti auf meine Kosten getrunken, schien deren Zufriedenheit wieder in ihren Normalzustand zurück zu führen, während wir warteten, bis sich der Rauch verzogen hatte. Für „mich“, der gedacht hatte, „ich“ sei ein Meisterkoch, waren solche Momente nicht besonders glücklich. Doch ich merkte, je länger „ich“ über einen vorherigen Faux­pas nachdachte, desto öfters zogen sie einen anderen nach sich. Je mehr „ich“ mir Sorgen machte über das offene Feuer im Holzofen, desto weniger sah ich, was in der restlichen Küche geschah.

Verzaubert

Ich hatte eine Unterkunft gemietet, welche vom Restaurant auf dem kürzesten Weg in zehn Minuten zu Fuss zu erreichen war. Ein weniger direkter Weg führte durch einen schön gepflegten Park. Dieser wurde gut besucht, vor allem von Menschen, welche in Harmonie mit seiner speziellen Stille waren. Man sah sie völlig „verzaubert“ von diesem magischen Ort. Sie redeten nicht, sie hasteten nicht über die Wege. Oft sassen sie einfach auf einer abgeschiedenen Bank und überliessen sich dem Zauber. Das waren die Stillen. Ihr Geist befand sich im Zustand von Nicht­-Benennen, Nicht­-Vergleichen, Nicht­-entscheiden, Nicht -begehren; ein Zustand, in dem keine Erinnerungen gebildet werden.

Küchenfertigkeit

Die Erinnerungsbildner waren jene, welche die Namen aller Blumen, Bäume und Steine kannten und diese dauernd wiederholten, wie Mantras, während sie durch den Garten eilten. Ihre Lippen bewegten sich und ihre Blicke schweiften über den Garten auf der Suche nach anderen Mantras. Es waren jene, welche in stockdunkler Nacht blind ihren Weg durch den Park fanden. Sie besassen Erinnerungsmuster, die durch den gleichen Prozess fein abgestimmt waren, der zur „Küchenfertigkeit“ verhelfen konnte, aber mit den zusätzlichen Elementen von Meinungen und Unterscheidungen – ich mag dieses, ich hasse jenes, dieses ist grösser als jenes etc. Sie fütterten alte Erinnerungen mit neuen Erinnerungen und alles, was sie sahen, war das, was sich schon vorher in ihrem Kopf befand.

Die „Stillen“ hatten „entdeckt“, dass der Verzicht auf das Benennen der Sinnesobjekte, zur Stille von Geist und Körper führte. Dies bedeutete nicht, dass sie die Namen der Dinge im Park nicht kannten, dass sie ihren Weg durch den Park bei mondloser Nacht nicht auch blindlings gefunden hätten; es bedeutete bloss, dass dies für sie nicht zählte. Sie wussten, dass sie den Garten manchmal wirklich sehen konnten. Sie hatten entdeckt, dass das Gehirn, wenn es vom Benennen befreit ist, keine Notwendigkeit hat, Vergleiche zu machen und Schlüsse zu ziehen, sondern einfach still sein konnte. Sie waren öfters in Verbindung mit dem was ist, mit Soheit davon.

Erfahrung der Stille

Die „Stillen“ hatten entdeckt, dass die Erfahrung der Stille nur in der Erinnerung existiert, denn sobald sie dachten: „Dies ist die Erfahrung der Stille“ waren sie weit weg davon. Sie befanden sich bereits in der Erinnerung daran. Sie befanden sich wieder im Bereich des Vergleichens und Schlüsse­-Ziehens. Sie waren gefangen im „Lärm“ der Gedanken, erzeugt durch das Suchen bzw. Finden­-Wollen der Stille.

Nach getaner Arbeit nahm ich immer diesen Weg durch den Park. Nach dem Aufenthalt im zeitlosen Raum dieses Gartens – es handelte sich um ungefähr fünfzehn Minuten gemäss der Zeit der Uhr – war ich völlig erfrischt, geistig und körperlich. Bald wählte ich diesen Weg auch frühmorgens auf dem Weg zum Restaurant, um dem Gesang der Vögel zu lauschen. Ich entdeckte, dass an solchen Tagen die Küchenfertigkeit am höchsten war. Der Gedankenbrunnen war weg.

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