Wissen versus Verstehen

Wissen versus Verstehen, AWH – Meditationswoche August 2021

Der Unterschied zwischen Wissen und Verstehen spielt im Zen-Buddhismus eine zentrale Rolle. Für diejenigen unter euch, die nicht vertraut sind mit unseren Praxis, aber andere buddhistische Wege kennen, möchte ich eine kleine Erklärung dazu geben. 

Ach für diejenigen, die schon lange dabei sind, ist es wichtig, sich immer wieder bewusst zu werden, dass die Zen-Praxis zwar auf einer fundierten buddhistischen Grundlage des Wissens basiert, aber in keinem buddhistischen Dogma oder einer religiösen Schulrichtung gefangen ist. Das was zählt, ist das Verstehen, das aus der eigenen Erfahrung geboren wird.

Verstehen = Erfahren

Der Buddha hat seinen eigenen Geist so lange gründlich durchleuchtet, bis es nichts mehr zu unterscheiden gab. Da war nichts mehr, kein Ich, kein Objekt, kein dies, kein das. Und als er seine Augen wieder aufmachte für die Welt, sah er deutlich, dass in der Tat nur das eine, allumfassende Sein existiert und alle menschlichen Verwirrungen und Sorgen auf einem grundsätzlichen, kollektiven Irrtum beruhen. Nämlich auf der Annahme, dass der Mensch ein aus sich selbst heraus existierendes, individuelles Einzelwesen sei. Und er verstand ein für alle Mal, dass sich alles Leiden auflöst, sobald der Geist von dieser Selbsttäuschung befreit ist.

Diese Erkenntnis war so tief und total, dass er sie unmöglich in Worten ausdrücken konnte und wollte. Aber auf die Bitte seiner früheren Weggefährten und aus Mitgefühl mit den leidenden Menschen liess er sich auf den Versuch ein, seine Entdeckung durch Worte und Taten zu übermitteln. Der Legende nach erschien sogar der höchste Gott Brahman persönlich und sagte: Du bist nun zum Buddha geworden und jetzt, – bitte, bitte, – hilf uns allen. Wir sind so im Dunkeln gefangen, hilf uns, das, was Du erfahren hast, auch zu erfahren. 

Und so hat der Buddha unseres Zeitalters für den Rest seines Lebens das Dharma gepredigt. Für gebildeten, sowie für ungebildeten Zuhörer, für die mit langsamer und flinker Aufnahmefähigkeit, für Frauen und Männer, für Götter, Devas und sogenannte Geister, für Kranke und Gesunde – für alle hat er die richtigen Worte gefunden. Dank dieser Gabe haben wir heute einen Riesenschatz an überlieferten Sutren, Texten, Abhandlungen und Praxismethoden. 

Aber wisst ihr was? – All dies nützt uns nichts. 

Und warum nützt es uns nichts? 

Worte allein nützen nichts

Man kann z.B. lange über Wasser reden. Ohne Wasser zu trinken und nass zu werden, kennen wir Wasser nicht.

Wir Menschen werden in langen Schul- und Universitätsjahren aufgeklärt über die Zusammenhänge und Gesetze der Natur, wie zum Beispiel den Wasserkreislauf, die Fotosynthese und die Elemente des Lebens. Die wissenschaftliche Literatur ist ebenso vielsprachig und umfassend wie der buddhistische Wissensschatz. 

In unserer Kultur lernt man in der Schule viel über die Reichhaltigkeit und die Intelligenz in der Tierwelt und in der Pflanzenwelt. Man geht sogar ins Freie und schaut sich diese an.   

Hat uns dies daran gehindert, überall die Luft zu verschmutzen? Das Wasser zu verseuchen? Selbst den Weltraum zu vermüllen? 

Hat es uns daran gehindert, nicht immer engstirniger auf uns selber bezogen zu sein? Uns in ständige persönliche Kleinkriege und grosse Weltkriege zu verwickeln? Hat es uns gelehrt, die Welt als unser gemeinsames Gut zu schätzen und zu schützen? 

Warum nicht? 

Um es noch einmal zu verdeutlichen: Warum haben wir die Erde so weitgehend ruiniert, wenn wir doch seit Jahrzehnten um die schädlichen Einflüsse unseres Tuns wissen?  

Weil alles angelernte Wissen unnütz und manipulierbar ist, solange es nicht als eigene Erfahrung verinnerlicht ist.

Selber nachdenken

Wieviele Weisen – ob in Indien, Tibet, Vietnam oder in China – haben sich seit Buddha schon den Mund fusselig geredet, um zu erklären, was es braucht, um Weisheit und Liebe zu verwirklichen?

Und wir reisen noch immer zu Meistern, Roshis und Gurus, nehmen Initiationen, vollziehen Rituale und lauschen ihren Botschaften von innerem Frieden und Glück?

Warum funktioniert es nicht? 

Warum sind wir nicht alle ebenso glücklich und friedvoll?

Habt ihr euch das schon einmal gefragt?

Ich wünsche mir sehr, dass ihr diese Fragen einmal ernsthaft und gründlich reflektiert. Nicht nur mit den Hirnzellen darüber nachdenkt, sondern euch ernsthaft fragt: Was ist los mit mir? Worauf warte ich? Warum kenne ich den Frieden und das Glück nicht, von dem die Weisen sprechen? 

Pauschal «die Welt» dafür verantwortlich zu machen, genügt ja wohl nicht, denn früher waren die Umstände nicht besser. Auch der Buddha und alle anderen kannten Krieg, Armut und gesellschaftliche Ungerechtigkeit.  

Das «Verrückte» ist, dass wir die Antwort auf diese Frage schon «wissen». Denn der Buddha selber hatte sie gegeben; sie ist das A und O seiner ganzen Lehre. Und alle hier haben es schon x-mal gehört oder gelesen, nämlich: 

Die Ursachen des Leidens

Die Ursache unseres Nicht-Glücklich-Seins ist unser eigenes Verhalten. Nicht das eingebildete Verhalten, sondern unser konkretes, tatsächliches, individuelles und kollektives Handeln. Die Basis dieses Handelns ist unser Denken. Und die Basis unseres Denkens ist unsere Selbstsucht – bestehend aus Besitzsucht, Hass, Neid und fehlendem Mitgefühl. Und die Basis unserer Leid-bringenden Selbstsucht ist das Nicht-Wissen um das eigene wahre Wesen. Wir haben keine Ahnung, was wir in Wirklichkeit sind und was Leben eigentlich ist. 

Buddhas Folgerung lautet: Diese Unwissenheit kann nicht durch das intellektuell erworbene Wissen verwandelt werden. Nur das Wissen, das aus der erfahrenen Erkenntnis des eigenen wahren Wesens geboren wird, kann die Unwissenheit ersetzen. 

Wie gesagt, alle, die wir hier sitzen, hören dies nicht zum ersten Mal. Man hat es vielleicht schon so oft gesagt bekommen oder gelesen, dass man es schon gar nicht mehr hören will. Dann sagt man: «Ja, ja, im Kopf weiss ich das, aber …», oder, was noch lustiger ist: «Mein Kopf weiss es, aber …»  

Und schon ist man fein raus, die Sache ist erledigt, man kann weitermachen wie bisher: Denken, urteilen, entschuldigen! 

Selbsttäuschungen

Oder man denkt: «Nein, ich bin nicht mehr so. Ich weiss, dass Gier nicht gut ist und deshalb versuche ich, nicht gierig zu sein.» 

Na, dann schaue man sich selbst ein wenig zu im Laufe dieser Woche. Zum Beispiel beim reichhaltigen Büffet beim Mittagstisch. Ist das Wählen und ist die Menge, die man schöpft, eine Sache des Versuchens? Es mag eine Versuchung sein, aber kann man versuchen, nicht gierig zu sein? Entweder man ist es oder man ist es nicht. 

Oder man bedenke die Beziehungen zu den Menschen, zu den Tieren, den Kindern, den Pflanzen im eigenen Lebensbereich. Welche Rolle spielen die Wörtchen «mein» und «ich» dabei?

Kennen wir diese selbsttäuschenden Tricks? Oder sind wir schon so «spirituell», dass wir uns einreden: «Da stehe ich darüber.»? Oder, was genau so hinderlich ist, ist die Floskel: «Es machen es ja alle so. Da kann ich nichts machen.»

Das ist nicht der Weg! Heiliger werden wollen; zu versuchen, dies oder jenes zu tun oder nicht zu tun, sich mit der Misere abzufinden, all dies beendet kein Unglück.

Es gab einmal einen sogenannten spirituellen Lehrer, der berühmt war für seine Strenge und Kompromisslosigkeit im Umgang mit seinen Anhängern. Ein Bekannter von mir erzählte, dass dieser «Meister» ihm beim ersten Gespräch sagte: «Okay, wenn du mein Schüler sein willst, musst du dir jedes Mal, wenn du ‹ich› denkst, mit einem kleinen Taschenmesser einen kleinen Schnitt in den Oberschenkel ritzen.» Man kann sich leicht vorstellen, wie das Bein nach einer Woche aussah! 

Oh, es gab und gibt immer wieder solche «radikalen Meister», die Unmögliches verlangen. Denen ist vermutlich die Geduld vergangen, so dass sie sich sagen: «Man muss massiv vorgehen bei diesen tumben Schwachköpfen von SchülerInnen.» Aber das ist natürlich nicht der Weg. Das ist Arroganz!

Selbstheilung

Weder Verleugnung noch Ausreden noch Selbstanklage führen aus dem Kreislauf des Leidens. Geschweige denn Selbstverstümmelung. Es gibt nur einen Weg, und das ist wahre Selbsterkenntnis resultierend in Einsicht, Weisheit und Mitgefühl. 

Erkenntniskraft, Weisheit und Liebe sind die innewohnenden Gaben unseres Geistes, die nichts mit Eigennutz und Selbsterhaltung zu tun haben. Nur durch sie könnten wir uns selbst und die Welt heilen. Könnten – wenn wir es denn wirklich wollten! Nicht weil es uns «etwas bringt», sondern wollen aus Notwendigkeit. Denn nur wenn die Not so gross ist, dass man nicht mehr ausweichen kann und will, dann hat sie die Kraft, unser Denken und Handeln zu wenden

Wir haben in dieser Woche viele Gelegenheiten, das eingefahrene, automatische Kopfdenken aufzudecken und das gewohnte Wissen in Frage zu stellen. Wir haben die Gelegenheit, dieses Denken zu unterbrechen, nämlich durch Innehalten und Gewahrsein. Dadurch können wir Platz schaffen für den denkfreien Raum, in dessen Stille sich die Wahrheit unseres Seins zeigen kann. Diese Stille, und nur diese Stille, ist es, die den Samen des echten Glücks enthält und nährt. 

Die Wege der Natur studieren

Der Weg der chinesischen Geisteswissenschaftler, die wie der Buddha zur Erfahrung der ichlosen Wirklichkeit gelangten, bestand darin, die ganze Natur zu beobachten; nicht nur die geistige Natur der Menschen. Auch Tiere, Pflanzen, ja der ganze Himmel und die ganze Erde dienten ihnen als Inspiration zur Kontemplation und zum Erwachen. Dieser Totalität der wirkenden Lebenskraft gaben sie den Namen Tao und die entsprechende Lehre bekam den Namen Taoismus. Ich denke, alle, die sich in die Zen-Lehre vertiefen möchten, sollten das kleine Buch Tao Te King von Laotse kennen. Im Buchhandel sind diverse deutsche Übertragungen erhältlich.

Besonders das Wasser hatte es ihnen angetan. Sie beobachteten genau, wie sich Bäche und Flüsse über sämtliche Hindernisse hinweg ihren Weg bahnen und schliesslich zur Ruhe kommen. Sie beobachteten, wie aus der Ruhe neue Bewegung entstand. Im Kommen und Gehen der Wolken erkannten sie die Vergänglichkeit aller Erscheinungen am Himmel und auf der Erde. So lernten sie, in stürmischen und kalten Zeiten gefestigt zu bleiben und zu überleben und sich in angenehmen Zeiten nicht unrealistischen Hoffnungen und Spekulationen zu überlassen. Denn nichts bleibt so, wie es ist. Nur der Himmel ist immer Himmel.

Mein Lehrer, H.Platov hat immer gesagt: Der Buddhismus ist der Vater und der Taoismus ist die Mutter vom Zen. – Das japanische Wort Zen stammt aus dem chinesischen Wort Chan, welches seinerseits auf dem Sanskritwort Dhyāna beruht. Dhyāna steht für den ichlosen, gedankenfreien Meditationszustand, in dem der Geist still und klar in sich selbst ruht. Leider ist diese ursprüngliche Bedeutung von Zen inzwischen weitgehend verloren gegangen, der Begriff Zen wird heutzutage für allerlei Unsinn gebraucht.

Was ist Zen-Praxis? 

Zen ist kein Weg der Spekulation, keine Meditation der Anrufung von irgendwelchen ausserhalb existierenden Wesen: «Lieber Gott, bitte gib mir! … Aber gib es mir sofort, jetzt!»

Die zen-buddhistische Praxis führt von allen Bildern und Vorstellungen weg in die eigene «Mitte». Da wo sich Himmel und Erde treffen, um es mit den Worten der Taoisten zu sagen.  

Wo treffen sich Himmel und Erde in Wirklichkeit? Wo kommen die Zweiheiten von oben-unten, Gott-Teufel, Mutter-Vater, rechts-links, ich-du, weltlich-spirituell usw. zusammen? Wo kommt alles, was man unterscheiden und benennen kann zusammen und damit zu einem Ende? 

Ich wünsche mir sehr, dass möglichst viele von euch dies erfahren und ein für alle mal wissen.

An einem Retreat, in dem wir uns für kurze oder lang aus der Hektik ausklinken, haben wir gute Voraussetzungen dafür. Wir können uns ganz auf diese Frage einlassen. Ob und wann dies wieder möglich sein wird, steht in den Sternen geschrieben. Unser Gewohnheitsdenken sagt: «Ach was, im nächsten Monat oder Jahr gibt es ja wieder ein Retreat, die Daten sind schon festgelegt.» 

Wirklich? Ist das so sicher? Haben wir nicht noch vor ein paar Wochen (Zeit der Corona-Pandemie) erlebt, dass alles ganz anders sein kann ?

Das Heute könnte immer die letzte Gelegenheit sein. 

Also, wacht auf, macht euch an die Sache, vergeudet keine Zeit!

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