Vimalakirti Sutra 7.2

Der Auftritt der Göttin

Vimalakirti Sutra 7.2 – Das Kapitel 7.2. enthält einen Dialog zwischen Shariputra und einer Göttin. Ihre Rolle besteht darin, das Verständnis von Buddhas Jünger zu testen und zu vertiefen. Hier geht es um Vorstellungen und tiefsitzenden Überzeugungen, die der Verwirklichung von geistiger Freiheit und des Gleichmut im Weg stehen. Ich denke, dass auch wir von dieser Auseinandersetzung profitieren können.

Eine Göttin, die in Vimalakirtis Haus lebte, hatte den Darlegungen zum Dharma gelauscht und war darob sehr erfreut. Sie nahm eine körperliche Form an und überschüttete die anwesenden Bodhisattvas und Hauptschüler Buddhas vor lauter Freude mit Blumen.
Bei den Bodhisattvas fielen die Blumen zu Boden, aber an den Körpern der Hauptschüler klebten sie fest. Obgleich diese ihre magischen Kräfte einsetzten, liessen sich die Blumen nicht abschütteln.
Die Göttin fragte Shariputra, warum er versuchte, die Blumen abzuschütteln.
Shariputra antwortete: «Solche Blumen sind für Dharma-Schüler unpassend, also möchte ich sie los werden.»

In Indien ist es seit altersher und auch heute noch Brauch, verehrte Objekte, wie z.B. Heilige und hochrangige Politiker oder Götterbilder und Statuen mit Blumen zu überhäufen und zu schmücken.

Die Göttin sagte: «Sag nicht, diese Blumen seien im Widerspruch zum Dharma. Warum? Weil Blumen nicht unterscheiden. Wer hier Unterscheidungen macht, bist du. Unpassend ist es, wenn einer sein Zuhause für das Dharma verlassen hat und an diskriminierenden Ideen festhält. Wenn er frei von Unterscheidungen ist, dann ist er in Übereinstimmung mit dem Dharma. So haften die Blumen den Bodhisattvas, die allen unterscheidenden Gedanken ein Ende gesetzt haben, nicht an.»

«Dharma» bedeutet hier sowohl «Lehre des Buddha», «Wirklichkeit» als auch «Naturgesetz». Die Natur der Blumen ist weder gut noch schlecht, weder passend noch unpassend. Alles, was existiert und geschieht, ist Teil des universalen Lebens. Wenn man die Geschehnisse nimmt, wie sie sind, ohne sie festhalten zu wollen oder abzulehnen, dann bleibt überhaupt nichts an einem haften. Man ist frei davon.

Die Rolle der Göttin

Es könnte wohl der Eindruck entstanden sein, die aus dem Nichts aufgetauchte Frau habe den armen Shariputra – einen der höchst geachteten Schüler Buddhas – vor aller Augen abgekanzelt und blossgestellt.

Doch ein solches Urteil wäre voreilig und käme einer persönlichen Parteinahme? Es würde wohl nur die eigene Angst vor Kritik oder Zurechtweisung widerspiegeln. Ausserdem bestünde die Gefahr, dass die heimlichen Wut oder das Mitleid den Geist für die weitere Lektüre des Sutras verschliessen würden.

Denn wenn man sich mit einem Idol identifiziert ärgert man sich, wenn dessen Glanz einen Kratzer abbekommt, nicht wahr? Und hat man einmal Partei ergriffen für einen Menschen oder eine Sache, hält man daran fest und lehnt alles ab, was die entsprechende Überzeugung ins Wanken bringen könnte.

Um dieses Hindernis zu umgehen, sollten bedenken, dass wir uns bei dieser Lektüre in der Gegenwart von Vimalakirti und Manjushri befinden. Die Inszenierung ihrer Weisheit ist ja auch für uns gedacht.

So gesehen tritt die Göttin als Assistentin oder Sprachrohr von Vimalakirti auf die Bühne. Ihr kommt die Rolle zu, der Theorie die Praxis folgen zu lassen.

Und wie oft in buddhistischen Sutras bekommt Shariputra die Rolle des Prügelknaben. In Wahrheit fungiert er jedoch als Stellvertreter für uns. Wir sollten ihm dafür dankbar sein. Denn damit ermöglicht er es uns, tiefer in die Materie einzudringen und uns selbst realistischer zu sehen.

In diesem Fall geht es um Widersprüche, die allem dogmatischen und regelkonformen Denken anhaften. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Dogma religiös, philosophisch oder politisch Dogma untermauert ist. Die Konflikte werden erst aufgelöst, wenn man sich von jedem übernommenen Wissen und Glauben losgesagt hat.

Das Erlangen von Eigenständigkeit im Denken und Handeln war ja eine der Hauptbotschaften von Buddha., wenn er sagte: «Klammert Euch nicht an meine Worte, erforscht deren Wahrheit selbst. Nutzt euer eigenes Licht, um die Wahrheit zu sehen.» (Atta Dipa)

Blumen

Shariputra ärgerte sich offenbar, dass die Blumen der Göttin an ihm, nicht aber an den Bodhisattvas haften blieben. Dieser Unterschied irritierte ihn. War er etwa weniger «gut», weniger «heilig» als die Bodhisattvas?

In der buddhistischen Literatur gibt es mehrere Beispiele, in denen Götter Blumen vom Himmel auf Meditierende fallen lassen. Dies galt oft als eine Form von Test um zu prüfen, wie die betreffende Person auf Verehrung bzw. Lob reagiert.

Eben noch war im Dialog zwischen Vimalakirti und Manjushri die Rede gewesen von Gleichmut und Unparteilichkeit. (Kap. 7.1) Doch kaum geschieht etwas, das nicht in die eigene Vorstellung passt, regt sich Unmut. Wie steht es jetzt mit Shariputras Gleichmut und Unparteilichkeit?

Die magischen Kräfte, die Shariputra und seinesgleichen ins Spiel brachen, um die Blumen abzuschütteln, waren vermutlich die Gewohnheit, alles mit Hilfe der Gedankenkraft und dem Eigenwillen zu kontrollieren. Dieser Versuch blieb ohne Erfolg. – Die Wahrheit lässt sich nicht manipulieren.

In Shariputras Vorstellung gab es offenbar ziemlich rigide Vorstellungen von seiner erhabenen Stellung und Bedeutung innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft. Er fühlte sich in seinem Stolz verletzt.

Auf die Frage, warum er sich so verhalte, verteidigte er sich durch Angriff. Er beschuldigte die Göttin, mit ihrer Geste der Verehrung das Dharma zu entwürdigen, da es unpassend, Blumen auf die ehrwürdigen Häupter der Dharmaschüler regnen zu lassen.

Doch die Göttin erwiderte, die Blumen seien völlig unschuldig an seinem Unmut. Der Widerspruch liege nicht in ihrem Tun, sondern in seinem Denken. – Hat sie recht damit?

Stolz und Scham

Wie wir wissen, basiert Buddhas Lehre auf der wesenhaften Gleichheit und Ebenbürtigkeit aller Menschen. Er erklärte, dass das wertende Unterscheiden und Vergleichen des illusorischen Ichs die Samen von Hass, Neid, Eifersucht, Streit, Spaltung und Einsamkeit in sich trägt.

In der Tat, kann es Seelenfrieden und Unvoreingenommenheit geben zwischen uns, wenn ich offen oder heimlich signalisiere, dass ich «besser» bin, als du? Oder wenn ich mich schäme oder verachtet fühle, weil ich schlechter bin als du? Statt «besser» können wir sagen: reicher, intelligenter, weiser, schöner, erfolgreicher usw. Und «schlechter» können wir ersetzen mit weniger wert, weniger reich, weniger schön usw.

Stolz und Scham sind wie siamesische Zwillinge. Sie werden gleichzeitig geboren und sind untrennbar. Sie stehen im Dienst von einem Ich, das sich mit andern Ichs vergleicht. Man richtet über sich selbst, indem man Lob und Tadel auf je eine Waagschale legt und ein entsprechendes Urteil fällt:Daumen nach oben, oder Daumen nach unten. Dasselbe macht man mit Freunden, Bekannten und anderen Mitmenschen. Dies steht in krassem Widerspruch zu einem weisen und liebevollen Miteinander unter uns Menschen.

Klassenbewusstsein

Wie wir wissen, gab es auch in Buddhas Anhängerschaft (Sangha) verschiedene Gruppen. Es gab z.B. der Gruppe der Älteren, welche aus der Gruppe der Bodhisattvas und der Gruppe der Hörer oder Schüler bestand. Weitere gab es die Gruppen der Mönche und Nonnen sowie die Gruppe der Laien. Diese wiederum wurde in Frauen und Männer unterteilt.

Die Unterteilung der Gemeinschaft in Klassen – die sogenannten Kasten – gehört quasi zum Erbgut der indischen Tradition. Jede Kaste wird definiert durch die familiäre Herkunft und geht einher mit unterschiedlichen Pflichten und Rechten.

Ursprünglich brachte die Klassifizierung eine sinnvolle Ordnung und Struktur in das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen Indiens. Jeder Mensch hatte seinen gleichwertigen Platz und seine Funktion innerhalb der Gemeinschaft.

Doch schon zu Buddhas Zeiten gab es zwischen den Kasten keine Gleichwertigkeit mehr. Es bestand eine Art Hackordnung von oben nach unten. Die Priester- und Kriegerkasten, zum Beispiel, besassen viel mehr Macht, Privilegien und Rechte als die anderen. Auf der untersten Stufe standen die mittel- und rechtlosen «Unberührbaren»..

Natürlich finden wir Kasten und unterschiedliche Wertschätzung nicht nur in Indien, sondern in allen Gesellschaften. Auch bei uns. Die Hierarchie der Kleriker, Militärs, Finanziers, Adeligen, CEOS, lohnabhängigen Sklaven (sprich Arbeitnehmer) und «Ausländer» sind nur einige Beispiele davon. Und auch die katholische Kirche hält an der Überzeugung einer männlichen Überlegenheit fest.

Einheit in der Vielfalt

Statt zu sehen und zu verstehen, dass jeder einzelne Mensch – auch du und ich –, jedes Tier, jede Pflanze zum Leben gehört und einen ganz bestimmten Beitrag zum Ganzen beiträgt, ja beitragen muss, machen wir Unterschiede zwischen der Wertigkeit der einen und der anderen und spielen sie gegeneinander aus. Sogar die Tierwelt wird in Nutz- und Haustiere unterteilt. Die einen wollen wir so billig wie möglich haben, für die anderen geben wir viel Geld aus!

Dieses unterscheidende egozentrierte Denken ist nicht im Stand, die Vielfalt, die durch Veranlagungen, Kultur, Neigungen und Traditionen der Einzelwesen bedingt ist, wertfrei – d.h. ohne Neid und Zwietracht – zu akzeptieren und zu achten.

Sich selbst für etwas Besonderes zu halten, Lob und Bewunderung – egal welcher Natur – zu erwarten oder mit Stolz entgegenzunehmen, ist ein Akt der Unwissenheit. Shariputra «wusste» dies. Was er aber nicht wusste, ist der Fakt, dass seine Ablehnung der Blumen derselben Unwissenheit entspringt.

Die schöpferische Vielfältigkeit des geistigen und materiellen Lebens zu schätzen und zu würdigen, ist ein Akt der Selbsterkenntnis im wahren Sinne des Wortes. Dann versteht man, dass es im ganzen Leben keine einzige geistige oder materielle Errungenschaft gibt, auf die man stolz sein könnte. Wir sind alle aus denselben Elementen zusammengesetzt und jeder Gedanke, jedes Tun entspringt dem Ganzen und wirkt auf das Ganze. Es gibt kein Einzelwesen namens Ich.

Lob und Tadel

Nicht nur Blumen, auch unsere natürliche Geistesnatur hat nichts zu tun mit richtig und falsch, passend und unpassend. Solche Vorstellungen haben nur wir Menschen. Wir missbrauchen unser Ichbewusstsein, um uns voneinander abzusetzen.

Unser moralisches Gewissen redet zwar bei jeder Gelegenheit von Gleichheit und Brüderlichkeit und «den allgemeinen Menschenrechten». Da wir jedoch nicht bereit sind, unseren eigenen tiefsitzenden Wertvorstellungen auf den Grund zu gehen, bleibt dies ein völlig wirkungsloses Lippenbekenntnis.

Wir halten an den Unterscheidungen auf allen Ebenen des täglichen Lebens fest. Dabei strengen wir uns uns an oder bilden uns ein, zu den «Guten» zu gehören und zeigen mit dem Finger stets auf andere als die «Bösen». Oder wir jammern und klagen, weil wir es nicht schaffen, zu den «Guten» zu gehören und geben die Schuld dafür den «Bösen».

Aber sobald uns jemand lobt, wachsen wir innerlich um einige Zentimeter. Und dann, wenn uns jemand tadelt, werden wir winzig klein. Wir sind dermassen unsicher, dass wir ununterbrochen nach Hinweisen schielen, die uns sagen «wer ich bin».

Wer seines wahren Wesens gewahr und sicher ist, der weiss um diese Zwiespältigkeit des menschlichen Denkens. Er braucht sie weder zu leugnen noch sich ihr zu unterwerfen. Er ist frei und muss keine Blumen abschütteln. Denn sie haften nicht an ihm.

Wie ein fester Felsen
nicht erschüttert wird vom Wind,
so wird auch der Weise
nicht bewegt von Lob und Tadel 
- Dhammapada, Der Weise
Gleichmut

Unerschütterlichkeit bzw. Gleichmut ist ein fester Bestandteil eines in sich selbst ruhenden Menschen. Ebenso ist Widersprüchlichkeit Bestandteil des menschlichen Denkens. Weil dem so ist, wäre es absurd, sich vorzunehmen, nicht mehr dualistisch zu denken oder zu meditieren, um Gleichmut zu erlangen. Ein solches Unterfangen ist zum Scheitern verurteilt. Basiert es doch selbst auf Ja und Nein.

Das, was es es braucht, ist stete Wachsamkeit in Bezug auf die reflexartigen Impulse von Zustimmung und Ablehnung im eigenen Gemüt. Und es braucht die Weisheit und Entschlossenheit, sich von den Widersprüchen im eigenen Denken nicht beherrschen zu lassen. Man lasse die Dinge sein, was sie sind – ohne Ja und ohne Nein. Dann finden sie nichts an dem sie kleben könnten.

Das hat die Göttin mit ihren Blumen gezeigt. Doch sie hatte noch mehr zu sagen.

Die Macht der Geister

Die Göttin fuhr fort:

«So nehmen zum Beispiel böse Geister Besitz von Menschen, die sich fürchten. Über Furchtlose aber haben sie keine Macht. Diejenigen, die sich vor der Welt und vor dem Tod fürchten, unterliegen dem Bann der Sinneswahrnehmungen wie Klang, Geruch, Geschmack und Berührung. Denen, die sich von dieser Furcht befreit haben, können die Sinneseindrücke nichts mehr anhaben. Die Blumen kleben nur an deinem Körper, weil die Kraft der Gewohnheit noch in dir wirksam ist. Wenn diese Gewohnheiten wie bei den Bodhisattvas aufgelöst sind, werden sie auch an dir nicht mehr haften.»

Wir alle wissen: Wenn Sorgen oder Angst unser Gemüt beherrschen, können wir nicht klar denken. Die furchtsamen Gedanken jagen uns wie böse Geister vor sich her. Wir fühlen uns von allen Seiten bedroht und finden weder Ruhe noch Rast.

Im Englischen gibt es eine wunderbares Merkwort, das uns helfen soll, in solchen Geisteszuständen weise zu handeln. Es lautet «HALT», zusammengesetzt aus hungry (Hunger), angry (wütend), lonly (einsam) und tired (müde). Seine Botschaft lautet:

Wenn du hungrig, wütend, einsam oder müde bist, halte an! Treffe keine Entscheidungen! Dies gilt auch für andere aufgewühlte Gemütszustände.

Statt vor unangenehmen Zuständen wegzurennen, sie zu leugnen oder impulsiv zu reagieren, halte inne. Schaue genau hin, was in dir vorgeht. Sei vollkommen ehrlich mit dir selbst. Füge dem, was ist keine Meinung, Kritik oder Wertung bei.

Natürlich widerstrebt dies unserem ungeduldigen Ich. Wir wollen nur eins: das Unwohlsein loswerden, und zwar sofort. Wir suchen nach Ablenkung und Trost in äusseren Aktivitäten. Dazu gehört oft auch übermässiges Essen oder Trinken. Deshalb bedarf es einer gewissen Weisheit und Selbstbeherrschung, um der Meditation, der Innenschau treu zu bleiben.

Selbstermächtigung

Wenn man es tut, verlieren selbst traumatische Erlebnisse allmählich ihre Macht. Man erkennt, dass die Wurzeln eines sich wiederholenden oder in der Zukunft erwarteten Schmerzes immer in der kürzeren oder längeren Vergangenheit verankert sind, – sei es in einer emotionalen Verletzung oder in einer Unsicherheit.

Mit diesem Verstehen kann man Wege und Mittel finden, um die unverdauten Erlebnisse zu verarbeiten und sich davon zu lösen. So gewinnt man die Freiheit, den Umständen angemessen zu handeln, statt impulsiv zu reagieren. Dies ist der Schlüssel zu echtem Gleichmut und der grösstmöglichen Befreiung von Hass und Ablehnung von sich selbst und anderen.

Lasst uns glücklich leben, frei von Hass. Inmitten hassender Menschen lasst uns von Hass frei bleiben.
Lasst uns glücklich leben, frei von Krankheit. Inmitten kranker Menschen lasst uns von Krankheit frei bleiben.
Lasst uns glücklich leben, frei von Ruhelosigkeit. Inmitten unruhiger Menschen lasst uns von Unruhe frei bleiben.

– Dhammapada
Die Freiheit von Worten

Im nächsten Abschnitt wollte Shariputra wissen, wie lange die Göttin schon in Vimalakirtis Haus lebe. Sie antwortete mit einer Gegenfrage:

«Wie lange lebst du schon im Zustand eines befreiten Dharmaschülers».

Darauf konnte Shariputra nicht antworten.

Da sagte die Göttin: «Du bist einer der gelehrtesten und weisen Schüler Buddhas, warum antwortest du jetzt nicht?» Er sagte: «Einer der Befreiung erlangt hat, spricht nicht darüber. Deshalb weiss ich nicht, was ich sagen soll.»

Der nun folgende Einwand der Göttin, sollten auch wir uns zu Herzen nehmen. Sie sagte:

«Wessen Geist wirklich frei ist, der ist auch frei von den Konzepten von Zeit und Wort. Er kann sich in jeder Lebenslage frei ausdrücken.»

Ein wirklich weiser Mensch hat es nicht nötig, seine Weisheit im Aussen anzupreisen; er hat es aber auch nicht nötig, sie wie einen erworbenen Besitz für sich zu behalten und zu schützen. Gerade weil sie nicht sein Eigentum ist, erachtet er es als seine Pflicht, sie zum Wohle aller einzusetzen.

Nur zu schweigen mit dem Vorwand, es gebe nichts zu sagen, kann Zeichen von Unsicherheit und Befangenheit sein. Man hat «gelernt», dass die Wirklichkeit nicht in Worte zu fassen sei und macht Nicht-Reden zu einem Dogma. Wenn dazu dann noch der Anschein vermittelt wird, dass Schweigen prinzipiell ein Zeichen von Weisheit sei, dann grenzt dies an geistigen Betrug.

Denn frei zu sein von den sinnlichen Eindrücken und und der Todes- oder Zukunftsangst ist unser Urzustand. Das heisst nicht, dass man die Körperlichkeit in dieser materielle Welt leugnet oder sich isoliert davon. Im Gegenteil

Das Unsagbare sagen

Wenn man nichts mehr fürchtet und nichts zu verlieren hat, kann man sich am Leben in seiner Ganzheit beteiligen. Und wenn man nicht mehr an Gesetze, Regeln und Überzeugungen gebunden ist, kann man in direkten Kontakt sein mit dem, was ist. Dann wird man auch spüren, wann, wo und wie Reden oder Schweigen angebracht sind. Manchmal sagen Worte alles, manchmal nichts. Und manchmal sagt Schweigen alles, manchmal nichts.

Die Fähigkeit der überpersönlichen Weisheit mit dem persönlichen Körper und Geist spontan Ausdruck zu geben, ist eine Kunst, die im Zen sehr hohen Stellenwert geniesst. Ihre Beherrschung ist gewissermassen der Lakmustest für die lebendige Zen-Praxis.

Im Sutra geht der Dialog zwischen der Göttin und Shariputra noch eine ganze Weile weiter. Shariputra führt zahlreiche Inhalte seines Glaubens an. Und die Göttin führt sie alle über die Begrenztheit des Glaubens hinaus, indem sie immer wieder darauf hinweist, dass alles, was wir Menschen sehen, fühlen, denken und für wirklich halten, letztendlich Bewegungen und Gestaltungen unseres eigenen Innenlebens sind.

Zum Schluss kommt auch noch Shariputra Problem mit der Weiblichkeit zur Sprache.

Freiheit vom Körper

Schliesslich fragte Shariputra die Götting:

«Warum verwandelst du deinen weiblichen Körper nicht in einen Mann?»
Die Göttin (G) sagte: «Ich habe jahrelang vergeblich nach einem Wesensmerkmal vom Frau-Sein gesucht – was sollte ich also ändern? Wenn ein Zauberer eine illusorische Frau erschafft, würdest du diese fragen, warum sie ihren Körper nicht verwandelt?»
S: «Nein, denn die Illusion ist kein wirklicher Körper; in was könnte er dann verändert werden?»
G: «Ebenso haben alle Dinge keine wirkliche Gestalt. Warum also bittest du mich, meinen unwirklichen weiblichen Körper zu verändern?»

Wiederum hakt die Göttin nach, in dem sie den Worten eine Tat folgen liess: Mit Hilfe ihrer magischen Kräfte vertauschte sie Shariputras Körpergestalt mit der ihrigen. Dann fragte sie ihn:

«Warum veränderst du deinen weiblichen Körper nicht?»

Shariputra, nun in der Form der Göttin, antwortete:

«Ich weiss nicht, wie ich in eine Göttin verwandelt wurde.»

Die Göttin sagte: «Shariputra, wenn du deinen weiblichen Körper verändern könntest, könnten alle Frauen auch in der Lage sein, sich in Männer zu verwandeln. So, wie Shariputra keine Frau ist, aber in weiblicher Körperform erscheint, sind alle Frauen im Grunde keine Frauen, sondern erscheinen nur als solche.

Darauf verwandelte sie beide Körper zurück in ihre ursprüngliche Gestalt. Dann fragte sie:

«Wo ist dein weiblicher Körper jetzt?»

Nun hatte Shariputra es begriffen. Er sagte

S: «Die Form einer Frau existiert weder noch existiert sie nicht.»
G: «So ist es mit allen Dingen. Sie existieren und doch existieren sie nicht. und das ist es, was der Buddha lehrt.»

Daraufhin erklärte die Göttin: «So ist es mit allen Dingen. Sie existieren und doch existieren sie nicht. und das ist es, was der Buddha lehrt.»

Unsere Körperform ist wie alle Formen in ständiger Veränderung – von morgens früh bis abends spät. jahrein und jahraus. Wir existieren nur einen ganz kleinen Augenblick in einer bestimmten Form.

Frei zu kommen, frei zu gehen

Sich mit diesen flüchtigen Momentanzuständen zu identifizieren, ist einer der ganz grossen Irrtümer unserer Weltanschauung. Doch wenn wir einmal begriffen haben, dass es nur eine Natur gibt, einen Geist, der sich in wechselnden Formen und Gestaltungen verkörpert, dann können wir unseren diskriminierenden Werturteilen ein für alle Mal ein Ende setzen. Und wenn wir begriffen haben, dass diese eine Geistesnatur sich in allen Bewegungen und Wandlungen weder bewegt noch wandelt, dann kommen wir dem Geheimnis des wahren Lebens langsam auf die Spur.

Jedes Wesen, egal in welcher Welt es lebt, ist Teil des Grossen Ganzen. Wenn es geboren wird, wird dem Ganzen nichts zugefügt und wenn es stirbt, geht nichts verloren. Leben und Tod, Freud und Leid, Zeit und Raum – all dies ist der lebendige Ausdruck der absoluten Stille.

Nun ergriff Vimalakirti das Wort. Mit seinem Schlusswort endet auch dieses Kaptiel. Vimalakirti sagte:

«Verehrter Shariputra, diese Göttin hat bereits zweiundneunzig Millionen Milliarden Buddhas gedient. Sie ist in der Lage, mit den transzendentalen Kräften der Bodhisattvas zu spielen; sie hat alle ihre Gelübde erfüllt. Sie erträgt die Geburtslosigkeit mit Gleichmut und hat die Stufe eines niemals rückfälligen Bodhisattvas erreicht. Auf Grund ihres (Bodhisattva)Gelübdes kann sie sich nach freiem Willen in jeder Gestalt annehmen und die Lebewesen überall lehren

Jedes Erlebnis – freudvoll oder voller Schmerz – besitzt seine eigene Weisheit. Die Möglichkeit, dies zu erkennen ist allgegenwärtig. Diese Göttin spricht im Grunde genommen immer zu uns.

Vimalakirti Sutra 7.2
Vimalakirti Sutra 7.2.
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