Vimalakirti Sutra 7.1

Betrachtung der Lebewesen

Vimalakirti Sutra 7.1– Im Kapitel 7.1. geht es um Liebe, Mitgefühl und Güte. Mitgefühl ist eine Veranlagung, die uns Menschen genau so gegeben ist, wie die Tendenzen zu Hass, Egoismus und Missgunst. Im Buddhismus gelten sie als die prägenden Eigenschaften von Menschen (Bodhisattvas), die, wie Vimalakirti, im Frieden sind und den Wunsch haben, ihren Mitlebewesen auch zum Frieden zu verhelfen. Darauf nimmt Manjushri im nächsten Dialog mit Vimalakirti Bezug. Er öffnet damit den Vorhang für den nächsten Akt des Lehrstücks, an dem wir seit geraumer Zeit teilhaben.

Die Grundlegende Einstellung

Manjushri fragte Vimalakirti: «Mit welcher inneren Einstellung betrachtet ein Bodhisattva die Lebewesen?»

Vimalakirti antwortete: «Manjushri, ein Bodhisattva betrachtet alle Lebewesen so wie ein Weiser die Spiegelung des Mondes im Wasser betrachtet oder ein Magier seine geschaffenen Illusionen. Er betrachtet sie wie ein Gesicht in einem Spiegel, eine Fata Morgana bei grosser Hitze, den Klang eines Echos, die Flamme eines Feuers, das Echo einer Stimme, den Schaum in einer Flüssigkeit, einen Blitzschlag, Wolken am Himmel…»

Mit anderen Worten: Ein weiser Mensch, der die Welt mit Unvoreingenommenheit studiert, beobachtet und mit seiner Erkenntniskraft beleuchtet, weiss, dass es auf der ganzen Welt nichts Festes und Bleibendes gibt. Egal, ob man die Dinge mit einem Mikroskop, Teleskop oder mit dem inneren Auge der Weisheit betrachtet, man findet immer nur temporäre Konstellationen von Formen – materiellen wie geistigen. Man mag einige Naturgesetze erkennen, die zum Entstehen und Vergehen führen, aber über die letztendliche Ursache der immerwährenden Schöpfung können wir nur spekulieren.

Es ist nur unserer Unwissenheit und oberflächlichen Sichtweise zuzuschreiben, dass wir diese Tatsache nicht erkennen oder nicht wahrhaben wollen. Indem wir die Dinge, die wir sehen, hören, fühlen usw. für stabil, dauernd und definitiv existierend halten, schreiben wir ihnen eine eigene Identität zu und verbinden uns mit ihnen durch die Gefühle von Sympathie oder Antipathie. Dieser mentale Mechanismus ist die Quelle von egozentrierter Liebe, Hass und allem Leid, das daraus folgt.

Die meisten von euch haben dies schon oft gehört und gelesen. Aber bis es zur eigenen Erkenntnis und Wirklichkeit wird, müssen wir offenbar zuerst an den Folgen unserer Selbsttäuschungen wirklich leiden und x-mal zum richtigen Hinschauen und Erwachen motiviert werden. Dieses Kapitel vom Vimalakirti-Sutra ist eine weitere Möglichkeit dafür.

Tanz der Elemente

So wie sich der Flug von Vogelschwärmen am Himmel für unser Auge zu wechselnden Formen gestaltet, so sind alle Dinge ein Tanz von unzähligen Elementen, die sich im leeren Kosmos formieren, bewegen, auflösen und wieder neu ordnen. Da gibt es keinen Kern, keinen dauerhaften Bestand und keine Substanz.

Du und ich und alles, was in, unter oder über der Erde und dem Himmel existiert, ist nichts anderes, als geformte Energie im leeren kosmischen Raum. Und diese Energie ist von geistiger Natur. Dank der Intelligenz dieser Natur haben wir das Glück, erkennen zu können, dass wir gleichzeitig Tänzer und Zeugen dieses Tanzes sind. Die kosmische Musik ist immer dieselbe, aber jeder hört und tanzt sie auf seine ureigene Art und Weise.

Vimalakirti findet offenbar nicht genug Worte, um die Unwirklichkeit unserer gängigen Ansichten zu beschreiben. Seine Liste von Sinnbildern für die wahre Sicht ist noch lang. Einige zeugen von seinem teilweise absurden Witz, den ich euch nicht vorenthalten möchte:

(Ein erwachter Mensch betrachtet alle Lebewesen) … wie einen Keim aus einem verfaulten Samen; wie einen Mantel aus Schildkrötenpelz; wie die Spur eines Vogels am Himmel; wie die Schwangerschaft einer unfruchtbaren Frau; wie Traumvisionen im Wachzustand; wie Feuer, das ohne Brennstoff brennt … Genau so, Manjushri, betrachtet ein Bodhisattva alle Wesen.»

Im Diamant-Sutra sagte der Buddha dasselbe in nur vier Zeilen:
Alle zusammengesetzten Dinge sind wie ein Traum,
ein Phantom, ein Tautropfen, ein Blitz,
ein flackerndes Licht, eine Wolke am Himmel.
So meditiere man über sie, so betrachte man sie.

… und fügte hinzu:

«Wer den ursprünglichen, erleuchteten Geist in sich erweckt und der Dharma-Lehre auch nur diese vier Zeilen entnimmt und in die Praxis umsetzt, wird mit Sicherheit grosses Glück erfahren. Warum? Weil so jemand nicht in Worte und Formen verstrickt ist und ohne Aufgeregtheit die Dinge so sieht, wie sie sind.»

Regen, Hagel, Schnee, Eis,
alle verschieden, aber
am Ende schmelzen sie alle zu einem Bach. - chin. Sprichwort
Ich weiss nicht,
ob wir im Herbst unter Sturm oder Flut leiden werden,
ich mache meine Arbeit von heute.
Dauerregen –
Von Mücken und Flöhen bei lebendigem Leib verzehrt,
nun pinkelt mein Pferd neben meinem Kopfkissen. - Basho

Man beachte, dass diese Sicht die Dinge nicht leugnet oder zur reinen Illusion erklärt. Vimalakirtis zahlreiche Worte und Sinnbilder dienen im Grunde genommen der Dramaturgie der von ihm und Manjushri veranstalteten Inszenierung, welche uns die Augen öffnen soll für die wahre Wirklichkeit. Denn das, was illusorisch ist, sind unsere anthropomorphen Interpretationen der Lebenserscheinungen. Dazu gehört vor allem die Idee: Ich bin ich und erwarte, dass mir das Leben gibt, was mir gefällt und mich verschont von dem, was mir nicht gefällt…

Liebe/Mitgefühl

In diesem Abschnitt geht es um die unparteiische Liebe zu allen Lebewesen.

Das Wort Liebe steht hier für die buddhistischen Haupttugenden Güte, Wohlwollen und tätiges Mitgefühl. Die entsprechenden Begriffe Metta (Skrt. Maitri) und Karuna sind mittlerweile auch in der westlichen Welt bekannt. Metta, Maitri, Karuna bilden die Grundlage der Geisteshaltung aller weisen Menschen, die sich dazu berufen fühlen, ihr Leben dem Wohlergehen anderer zu widmen.

Liebe, Mitgefühl und Güte sind jedoch nicht zu verwechseln oder gleichzusetzen mit sentimentalen Liebesgefühlen, Mitleid oder grosszügigem Sponsorentum. Letztere enthalten immer einen Kern von Ego und Eitelkeit, während Erstere natürliche Eigenschaften eines offenen Herzens und unverfälschten Geistes sind.

Gelebtes Mitgefühl ist mehr als floskelhafte Moral. Es entspringt der Einsicht in das wahre Wesen des Lebens – nichts existiert aus sich selbst heraus, nichts ist unabhängig vom anderen – und zeugt von wahrhaftiger Selbstlosigkeit. Weisheit und tätiges Mitgefühl gehen Hand in Hand.

Manjushri fragte: «Wenn ein Bodhisattva alle Lebewesen auf diese Weise betrachtet, wie entfaltet er dann die grosse Liebe zu ihnen?»

Wie immer fällt Vimalakirtis Antwort sehr ausführlich aus. Und wie immer gebe ich sie etwas gekürzt wieder, um den Rahmen dieser Dharma-Vorträge nicht allzu weit auszudehnen.

Vimalakirti antwortete: «Manjushri, wenn ein Bodhisattva alle Lebewesen auf diese Weise betrachtet, möchte er in erster Linie das Dharma, das er selber als real erkannt hat, an andere weitergeben. Dadurch entfaltet er die Liebe und das Mitgefühl für alle leidenden Wesen. Diese Liebe ist die einzige Zuflucht für uns alle. Sie stiftet Frieden, weil sie frei ist vom Sympathie und Antipathie. Da sie frei ist von diesen Leidenschaften, ist sie kühl und gleichbleibend. Sie ist realistisch, da sie unabhängig ist von Zeit und Raum. Sie ist nicht dual, weil sie weder mit dem Äusseren noch mit dem Inneren zu tun hat und sie ist unerschütterlich, weil sie vollkommen und immerwährend ist.»

Aus sich selbst heraus existierend

Wahre Liebe, Metta, Karuna – oder wie man es auch nennen mag – ist nichts, das man lernen, sich aneignen oder verdienen kann. Es ist die über- und unpersönliche Wirkungskraft des allen Menschen innewohnenden Herz-Geistes. (In der chinesischen und japanischen Sprache steht für Herz und Geist dasselbe Schriftzeichen.) Ebenso wie Tiere und Pflanzen sind wir von Natur aus darum bemüht, für uns selbst und unsere Nächsten zu sorgen und in Harmonie mit den Mitmenschen und der Umwelt zu leben. Was uns jedoch daran hindert, entsprechend zu handeln, ist die wertende Unterscheidung von «ich» und «du», «mein» und «dein», «unseresgleichen» und «fremd». Fällt diese Unterscheidung einmal weg, offenbart sich der einheitliche Geist ganz von selbst als einheitliche Liebe. Das hat dann nichts mehr mit Religion, Moral, Kultur oder gesellschaftlicher Diktatur zu tun.

Diese Liebe sagt also nicht: Ich liebe dich weil:
du mir sympathisch bist, ich mich von dir angezogen fühle, mir dein Lachen gefällt, du so schön bist…

Sie sagt auch nicht: Ich liebe dich nicht (mehr), weil:
du nicht mehr so bist wie früher, nicht schön, mich enttäuscht hast, mir nicht gefällst …

Diese Liebe sagt überhaupt nichts: Sie ist einfach da!

Vimalakirti sagt:

«Die Liebe eines Bodhisattvas ist wie ein Diamant: fest, unerschrocken und unzerbrechlich. Sie ist die Wesensnatur, die aus sich selbst heraus existiert. Sie zeigt sich im Mitgefühl und Streben von all denen, die ihrer eigentlichen Natur gewahr sind; in der Güte der Heiligen, die ihre (inneren) Feinde besiegt haben; im Wirken der Bodhisattvas, die sich um das Wohl anderer kümmern; in der Gelassenheit der Weisen, welche die Wirklichkeit verstehen; in der Lehre des Buddha, welche die Lebewesen aus ihrem Schlaf erwachen lässt. Diese Liebe ist spontan, weil sie vollständig erleuchtet und eins mit der Wirklichkeit ist. – So, Manjushri, ist die grosse Liebe eines Bodhisattvas.»

Vollständig erleuchtet und eins mit der Wirklichkeit

In der Überlieferung des Zens wird die Erkenntnis der Wirklichkeit immer in einem spontanen Vers ausgedrückt. Denn das Unaussprechliche kann nur in Poesie, Musik oder eventuell in der Malerei annähernd zu Ausdruck gebracht werden. Wortreiche Erklärungen haben ausserhalb der Lehrvorträge wenig wert. Hier sind einige Beispiele aus einer Vers-Sammlung, die in der traditionellen Zen-Schulung dazu benutzt wird, eine eigene Erkenntnis in den Aussprüchen anderer Meister zu erkennen und zu verifizieren. (Zen Forest – Sayings of the Master, Hrs. Soiku Shigematsu)

Der Mond nimmt sich nicht vor,
sich im Wasser zu spiegeln;
das Wasser fragt nicht danach,
den Mond zu reflektieren.
Der Wind schüttelt die Weiden,
ihre Samen schiessen weg.
Der Regen peitscht die Apfelblüten,
ein Schmetterling fliegt in die Luft.
Ein weites Meer lässt Fische hüpfen und springen;
ein weiter Himmel erlaubt Vögeln zu flattern und zu fliegen.
Einander begegnen,
ohne zu wissen wer …
Miteinander reden,
ohne Namen zu kennen.
Tätiges Mitgefühl

Wenn ein Mensch zur Erkenntnis seines wahren Wesens gelangt ist, denkt er nicht mehr nur an sich selbst und steht in einer realistischen Beziehung zum gesamten Leben. Seine Taten sind nicht mehr rational, moralisch oder opportunistisch gesteuert, sie entspringen spontan seinem offenen Herzen und offen Geist. Diese aktuelle Präsenz äussert sich im sogenannten «tätiges Mitgefühl». Sie ist gekennzeichnet durch Gebefreudigkeit, Vertrauen in den den ursprünglichen Geist und Gleichmut in allen Lebenslagen.

Gebefreudigkeit

Manjushri (M) fragte: «Was ist das tätige Mitgefühl eines Bodhisattvas?» Vimalakirti (V): «Tätiges Mitgefühl bedeutet, alles Gute, das man durch seinen Lebenswandel erntet, restlos an andere Lebewesen weiterzugeben

Die Weisheit und Erkenntnisse, die durch Kontemplation und Meditation geweckt werden, wird dazu zu «benutzt», die (seelischen) Schmerzen anderer Lebewesen zu lindern; das ist tätiges Mitgefühl. – Ein passendes Wort oder eine liebevolle Geste zur richtigen Zeit können in einem niedergeschlagenen Geist Trost, Erleichterung oder neuen Lebensmut erwecken.

Wie viele Gelegenheiten für tätiges Mitgefühl gibt es wohl im Laufe eines einzigen Tages für uns?

M: «Was ist seine wahre Freude?»
V: «Alle Früchte zu verschenken ohne Reue, das ist wahre Freude.»

Die grösste Frucht ist die Einsicht, dass es in jedem von uns, einen «Ort» gibt, wo Schmerzen, Kummer und Leid nicht sind. Und die grösste Freude ist es, wenn jemand diesen «Ort» in sich auch entdeckt und ohne Bedauern anzunehmen, wenn dies nicht der Fall ist.

M: «Was ist sein Verzicht?»
V: «Zu geben ohne eine Gegenleistung zu erwarten.»

Ohne auf Belohnung, Lob oder Dankbarkeit zu spekulieren.

Vertrauen in den Geist

M: «Worauf sollte sich ein Bodhisattva verlassen, wenn ihn die Welt von Geburt und Tod (Samsara) ängstigt?»
V: «Er sollte sich auf die Kraft und Weisheit des Tathagata verlassen.»

Tathagata ist hier identisch mit dem erleuchteten ursprünglichen Geist, mit der Urnatur oder Buddha-Natur.

Angesichts des unaufhörlichen Leidens in der Welt, das nicht zuletzt von der menschlichen Dummheit und Gleichgültigkeit erzeugt und aufrecht erhalten wird, kann auch der offene und tiefgründige Geist eines weisen Menschen von Zweifeln und Angst ergriffen werden. Vimalakirti sagt, in diesem Fall gebe es nur eins: nämlich sich selbst darauf zu besinnen, dass alle unsere Leiden und Nöte aus unseren verzerrten Wahrnehmungen und Interpretationen der Lebenserscheinungen beruhen. So wie die nächtlichen Träume, die wir für wirklich halten beim Erwachen verblassen, haben die Objekte unserer Ängste im klaren, erwachten Geist keinen Bestand.

Sobald die mentalen und emotionalen Verwirrungen und Zweifel beseitigt sind, gibt es keine Angst mehr. Bis es soweit ist, so rät uns Vimalakirti, sollten wir ganz und gar darauf vertrauen, dass der fundamentale Geist eines jeden Menschen nichts anderes ist als der Geist Buddhas.

An dieser Stelle erinnere ich an das wunderbare Lied vom Vertrauen in den Geist. (Shinjinmei) von Chan-Meister Seng-ts’an. Dort heisst es:

«Verliere keine Zeit mit zweifeln und streiten …
Vertrauen in den ursprünglichen Geist ist der Weg der Nicht-Zweiheit.»

Seht ihr die Verwandtschaft von «Zweiheit» und «zweifeln»?

Gleichmut

M: «Mit welcher Haltung soll man sich auf die Unterstützung des Tathagata verlassen?»
V: «Man sollte im Bestreben, allen Lebewesen behilflich zu sein, Gleichmut bewahren.».

Ich denke, Vimalakirti spricht hier nicht in erster Linie von der Befreiung von Lebewesen in der Aussenwelt. Vielmehr deutet er auf die quälenden und verwirrten Geister in unserer eigenen Innenwelt. Solange man an diese glaubt und ihnen gehorcht, ist es unmöglich, gleichmütig und gelassen sein, geschweige denn, Frieden zu finden und zu verbreiten.

Gleichmut (Skrt. Upekkha) ist ebenfalls ein Grundprinzip der buddhistischen Geisteshaltung. Einige Synonyme sind Gelassenheit, innere Ruhe, Gemütsruhe, Gelöstheit. Es ist die Fähigkeit, in allen Umständen – auch in schwierigen – die Fassung nicht zu verlieren. Das ist das Gegenteil von Aufgeregtheit, Nervosität und Panik und das Gegenteil von Anhaften, Parteilichkeit und Wertung.

Durch die Besinnung und Sammlung in der Meditation können wir den zerstörerischen Gedanken und Gefühlen, die dem Gleichmut entgegenstehen, auf die Spur kommen. Dies ermöglicht uns, ihnen aus einer anderen «Perspektive» zu begegnen. Nämlich, mit dem Vertrauen in die Weisheit des eigenen Geistes – und dies in allen Lebensumständen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt – solange wir gesund sind und in dieser Welt leben – durch Meditation/Besinnung mit unserem wahren Wesen in Verbindung treten.

Der Kreis schliesst sich

In den folgenden Sätzen schliesst sich der Kreis: Alles bisher Gesagte kehrt zu uns selbst zurück, unserem eigenen Verstehen und eigenen Tun.

M: «Womit soll man beginnen, um die Lebewesen zu befreien?»
V: Man sollte damit beginnen, die leidbringenden Geisteszustände und ihre Ursachen (Klesha) zu beseitigen.»

Der Buddha erklärte die destruktiven Geisteszustände (Skrt. Klesha) als die eigentlichen Motoren für das unheilsame, leidbringende Denken und Handeln der Menschen. Dazu gehören zum Beispiel Angst, Furcht, Ärger, Eifersucht, Begierde, Depression, Rachegelüste und vieles mehr. Er definierte die sogenannten drei Gifte – Unwissenheit, Anhaften (Liebe) und Abneigung (Hass) – als ihre gemeinsame Wurzel.

M: «Was sollte man tun, um leidbringende Geisteszustände zu beseitigen?»
V: « Man sollte rechte Achtsamkeit aufrechterhalten.»
M: «Wie hält man rechte Achtsamkeit aufrecht?»
V: «Man bleibt achtsam, indem man des Ungeborenen und Unsterblichen gewahr bleibt.»

Wenn der Geist im gegenwärtigen Augenblick präsent ist – und das ist seine Natur – erleben wir nur diesen Augenblick. Dann gibt es keine Zukunft, keine Vergangenheit; also auch kein Werden und kein Vergehen. Man denkt nicht über das Leben nach – seine Sorgen, Ängste – man lebt direkt und unmittelbar im Hier und Jetzt. Das zeitgebundene Denken ist ausgeschaltet.

Das zeitgebundene Denken trennt von dem was ist, deshalb hinkt es dem direkten Erleben immer hinterher. Leben ist jetzt, Denken nachher.

M: «Was ist das Ungeborene, was das Unsterbliche?»
V: « Das Böse wird nicht geboren und das Gute nicht zerstört.»

Böse und Gut sind Kategorien des Denkens. In Wirklichkeit gibt es nichts dergleichen. Im gegenwärtigen Augenblick, in der Präsenz der Achtsamkeit, ist auch das unterscheidende Denken nicht aktiv.

Rückkehr zu Ursprung

M: «Was ist die Wurzel von Gut und Böse?»
V: «Der Körper ist die Wurzel von Gut und Böse.»

Natürlich trägt der Körper keine Schuld für unsere Probleme und Schwierigkeiten. Als geformte Lebenskraft und Träger der Sinnesorgane bildet er nur die Basis für unser Bewusstsein. Gut und Böse, vorher, nachher, sind wie alle Unterscheidungen Konzepte des menschlichen Bewusstseins. Die fatale Kettenreaktion der Irrtümer beginnt dort.

M: «Was ist die Wurzel des Körpers?»
V: «Das Verlangen ist die Wurzel des Körpers.»
M: «Was ist die Wurzel des Verlangens?»
V: «Widersinniges Unterscheiden ist die Wurzel des Verlangens.»

Wenn die Unterscheidungen wie Gut und Böse einmal etabliert und im Gedankengut verankert sind, dann folgt daraus das Verlangen nach dem Guten und Angenehmen und die Ablehnung des Nicht-Guten, Nicht-Angenehmen. Das ist der eigentliche Nährboden für parteiische Liebe und Hass, die Gifte, die unsere Sinne trübt und Frieden unmöglich macht.

M: «Was ist die Wurzel des widersinnigen Unterscheidens?»
V: «Verkehrtes Denken ist die Wurzel des Unterscheidens.»
M: «Was ist die Wurzel des verkehrten Denkens?»
V: «Die Vergänglichkeit ist die Wurzel des verkehrten Denkens.»
M: «Was ist die Wurzel der Vergänglichkeit?»
V: « Manjushri, kann etwas Vergängliches eine Wurzel haben? Alle Dinge haben ihren Ursprung in dem, was keine Wurzel hat.»

Womit wir wieder beim Ursprung sind. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Um die Wirklichkeit zu erfahren, muss das Denken zu einem Ende kommen. Und dann herrscht Stille. Keine tote Stille, sondern eine vibrierende, lebendige Stille. Sie ist zwar leer, weil sie keine Formen enthält – weder gedankliche noch feste –, aber sie ist voller Gehalt, weil alle Formen in ihrer Potenz vorhanden sind.

Vimalakirti Sutra 7.1
Vimalakirti Sutra 7.1.
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