Vimalakirti Sutra 2.3

Die geschickte Anwendung von Hilfsmitteln (Teil 3)

Vimalakirti Sutra 2.3 – In diesem Kapitel wenden wir uns dem eigentlichen Drehpunkt des Vimalakirti-Sutras zu. In den vorangegangenen Vorträgen wurden wir mit Vimalakirtis Person und seiner grossen Reputation bekannt gemacht. Nämlich dem Fakt, dass Vimalakirti sich krank meldete und der Versammlung im Amra-Park in Vaisali deshalb fernblieb. Da er ein langjähriger hoch angesehener Schüler Buddhas war, fiel seine Abwesenheit natürlich auf. Genau das wollte Vimalakirti bezwecken. Denn seine Krankheit war eine seiner«geschickten Anwendungen von Hilfsmitteln», um anderen Menschen auf dem Buddha-Weg behilflich zu sein. Aber wie konnte er durch Krankheit anderen Menschen helfen? Diese Frage wird im Laufe des Sutras beantwortet werden. Zuerst aber sollten wir die Art der Krankheit von Vimalakirti genauer verstehen. 

Der menschliche Körper

Das Sutra berichtet, dass Tausende von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu Vimalakirti kamen, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Dies ermöglichte es Vimalakirti, möglichst vielen Menschen das Dharma am Beispiel eines gewöhnlichen Menschen im weltlichen Leben zu erläutern. Er sagte (Zitat gekürzt): 

Liebe Freunde, dieser Körper ist unbeständig, zerbrechlich und schwach. Er verursacht Ängste und Leiden und ist anfällig für alle Arten von Krankheiten. 

Er ist entstanden aus dem Durst der Leidenschaften. Man kann sich nicht auf ihn verlassen. Wie eine Luftblase vergeht er schnell. Wie ein Bananenbaum ist er hohl und ohne festen Kern. 

Ach, dieser Körper ist wie eine Maschine, zusammengesetzt aus Knochen und Sehnen. Gleich einem Traum hat er keine Wirklichkeit, gleich einem Spiegel reflektiert er bloss die Folgen früherer Taten. 

Er ist nichts anderes als ein Echo, abhängig von den Umständen. Wie eine Wolke ist er Stürmen unterworfen und löst sich schliesslich auf. Wie ein Lichtblitz leuchtet er kurz auf und stirbt im nächsten Augenblick. 

Der Körper ist ichlos. Ohne einen Besitzer entsteht er durch das Zusammenwirken verschiedener Bedingungen. 

Er ist ohne Wissen wie Gras, Bäume und Lehm; unbeständig wie der Wind und substanzlos wie der Raum. und ohne eine eigene Existenz und ein Selbst, das ihn besitzt. 

Er ist eine Kombination aus Materie, Sinnesempfindungen und Bewusstseinselementen, kann nichts in Bewegung setzen, sondern wird selbst angetrieben wie eine Windmühle. Er ist eine eklige Ansammlung von Schleim und Exkrementen. 

Dieser Körper ist unwirklich. Selbst wenn man ihn badet, massiert und ölt, in Kleider steckt und ernährt, ist er doch dem Untergang gewidmet. Seine Anfälligkeit auf alle möglichen Krankheiten ist enorm. Seine Lebensdauer ist ungewiss, sicher ist nur sein Tod. An einem solchen Körper sollte man nicht hängen. 

Der Geist

Nun, was glaubt ihr, hat Vimalakirti wirklich all dies gesagt? Hat er in seinem Krankenbett gelegen oder auf einem Stuhl gesessen und so viele Worte gemacht? 

Wohl kaum. Als bodenständiger Geschäftsmann hat er wohl eher ganz natürlich zu den Leuten gesprochen: «Schaut her, ich lebe, wie jeder von euch in einem vergänglichen, hinfälligen Körper, der alles andere ist, als das, was er zu sein scheint!» Und weil er wusste, wie sehr sie Menschen an ihre Körperlichkeit glauben, wählte er verständliche Vergleiche und Sinnbilder aus dem indischen Alltag.  

Man könnte also sagen, dass Vimalakirti zeigen wollte, wie «krank» es ist, an einem hinfälligen, stets veränderlichen Körper zu haften; ihn zu hegen und zu pflegen im Glauben, dass der Körper selbst das Leben ist, im Sinne von: Mein Körper bin ich; ich bin mein Körper. 

Aber bei dieser Krankheit geht es um mehr, als den materiellen Körper. Vimalakirti weist vor allem auf die allgemeine geistige Krankheit hin. Nämlich auf die fundamentale Unwissenheit und das illusorische Denken der Menschheit. Wir alle kranken an der Neigung, die Dinge in gut und schlecht einzuteilen; das eine zu lieben, das andere zu hassen; uns an das, was wir lieben, zu klammern, und das, was wir hassen, zu töten oder zu verbannen. Wir kranken an der Gewohnheit, uns selbst ins Zentrum allen Geschehens zu stellen. Krank ist auch unsere Gier nach Vergnügen, Reichtum, Erfolg, egal ob materieller oder spiritueller Art; unser Bedürfnis nach Liebe, Anerkennung und Bestätigung seitens anderer Menschen. All dies basiert auf der eingefleischten Identifikation mit dem vergänglichen Körper. Aber die Wurzel der Krankheit liegt in der Unkenntnis des wahren Wesens allen Lebens.

Das Heilmittel

Das einzige Heilmittel gegen die menschliche Krankheit des Geistes ist das Erwachen, das bewusste Sehen der Realität. Und der Arzt, der in unserer Zeit, in unserer Welt, die Krankheit vollumgänglich diagnostiziert hat, war Shakyamuni Buddha. Der Buddha hat das Heilmittel gegen das Leiden der Unwissenheit in sich selbst entdeckt, ausprobiert und daraus eine Medizin zusammen gestellt, die jeder Mensch seinen Umständen entsprechen dosieren und einnehmen kann, um sich damit selbst zu heilen. Deshalb wird der Buddha in den asiatischen Ländern nicht nur als der Weltlehrer, sondern auch als der grosse Heiler der Welt anerkannt und verehrt. 

Das Vimalakirti-Sutra kann nur verstanden werden, wenn man diesen Hintergrund kennt und weiss, dass Vimalakirti selbst ein Erwachter war und sein ganzes Leben in den Dienst der geistigen Heilung aller Lebewesen stellte.  

Nachdem er die Vergänglichkeit des Körpers ausführlich geschildert hatte, fuhr er fort:

Freunde, man sollte sich vom zerbrechlichen Körper abwenden und den Buddhakörper zu erlangen suchen. Der Körper des Buddha ist der Dharmakāya. Er wird aus Weisheit geboren.

Damit sagt Vimalakirti: Auf den physischen Körper ist kein Verlass; man sollte das wahre Wesen, den wahren Körper der Existenz finden. Aber das ist keine Form, keine Gottheit, kein Körper irgendwo ausserhalb von der Welt oder ausserhalb von uns selbst. Der Buddhakörper ist der Körper des reinen Gewahrseins und der höchsten Weisheit, unabhängig von der sichtbaren Gestalt, Hautfarbe oder dem Zeitalter, in der die verkörperten Wesen leben.  

Natürliche Weisheit

Wenn wir in der Lage wären, das Leben vor unseren Augen genau zu beobachten, ohne die geringste Meinung dazu, mit reinem, passiven Gewahrsein, dann würden wir den Buddhakörper ganz natürlich und unmittelbar sehen. Und zwar in allem, was kreucht und fleucht: In der Spinne, die gerade ihr Netz webt, und in der Fliege, die ins Netz fliegt; in den Wolken, die sich am Himmel bilden und wieder auflösen; im Wasser, das unendlich viele Formen und Farben annehmen kann, ohne Form und Farbe zu sein, kurz: in allem, was einfach so ist, wie es ist. 

Das, was erkennt, was so ist, wie es ist, das ist der Geist, der aus sich selbst existiert und sich durch eben dieses Erkennen offenbart. Das ist die Weisheit, von der Vimalakirti  spricht. Aus dieser Quelle wird der wahre Körper, das unsterbliche Leben geboren. 

Das Dharma ist die Lehre von Buddha über die Gesetzmässigkeit der Wirklichkeit mit deren Hilfe auch wir uns von der fundamentalen Krankheit des illusorischen Denkens heilen können. Lehre und Gesetz sind also beide im Wort Dharma enthalten. 

Das heisst, uns Menschen ist es von Natur aus möglich, dank der angeborenen Weisheit, Bodhi oder Buddhaweisheit genannt, zu erkennen, dass das wahre Wesen, das Sosein, die Buddhanatur, nur mit unserem geistigen Auge gesehen werden kann und nicht durch die Sinne des physischen Körpers.

Was ist das für ein Körper, der aus Weisheit geboren wird? Wie sieht er aus, wie ist er beschaffen? Weisheit befindet sich nicht hier oder dort, sie hat keinen Ort, keine Position, ist jedoch überall. Das ganze Universum ist Weisheit. Universales Wissen hat keine Form, ist aber in allen Formen enthalten. Und wenn eine Form der Weisheit zerfällt, zerfällt die Weisheit selbst nicht. 

Die Lehre der drei Körper der Buddhanatur

Im buddhistischen Denken wird das Wesen des Lebens sehr sorgfältig studiert, analysiert und formuliert. Zu diesem Zweck, das heisst zur Formulierung von geistigen Belangen, haben die indischen Geisteswissenschaftler vor langer Zeit die Sprache Sanskrit erfunden.  

Kāya bedeutet in Sanskrit wörtlich «Körper» und sinngemäss «Aspekt». Die Buddhisten unterscheiden drei Aspekte, drei Körper (Trikāya) der einen Existenz. Sie heissen Dharmakāya, Sambhogakāya, Nirmanakāya, zu deutsch oft übersetzt als Nicht-Sein, Sein, Dasein. 

  • Nicht-Sein, Dharmakāya, ist der Aspekt der Formlosigkeit. Es ist das transzendente, nicht erfassbare Wesen, die Essenz des Lebens. Der Dharmakāya ist in allen Lebewesen ein und dasselbe. Da dieser Körper keine Form hat und weder sinnlich noch mental wahrnehmbar ist, ist er für unser Bewusstsein quasi nicht existent, daher der Begriff «Nicht-Sein». Andere Namen dafür sind Tao, Gott, das Absolute, Urwesen usw. Ein häufiges Symbol dafür ist der leere Kreis.
  • Sein, Sambhogakāya, ist der Aspekt des Existierenden, d.h. alles, was ist, unabhängig von Form, Farbe, Material usw. Was bewusst wahrgenommen werden kann, das existiert. Für uns Menschen manifestiert sich das Sein in gegensätzlichen Bewegungen: Kommen und Gehen, hell und dunkel, Himmel und Erde usw. Bekannte Symbole sind der Kreis von Yin und Yang oder ein einziger Strich.  
  • Dasein, Nirmanakāya, ist der Aspekt der Einzelwesen. Man nennt diesen Körper auch den Verwandlungskörper. Das Sein wandelt sich ständig und zeigt sich im Dasein in endlosen Variationen. In der taoistischen Literatur sind es die «zehntausend Dinge». Wenn Avalokiteshvara, der/die Bodhisattva der Weisheit und des Mitgefühls mit vielen Armen und Gesichtern dargestellt wird, ist das ein Symbol für die Wandlungs- und Anpassungskraft des einen universalen Geistes an die Bedürfnisse der Einzelwesen. 

Der Weg der Weisheit

Wenn Vimalakirti nun sagt, man sollte sich vom zerbrechlichen Körper abwenden und den Körper der Weisheit zu erlangen suchen, dann sagt er damit nichts anderes, als was der Buddha auch sagte, nämlich: Erwache zu deinem wahren Wesen, das weder geboren wird noch stirbt.  Dies ist der Drehpunkt der ganzen Buddha-Lehre.  

Wie ein Mensch den Körper der Weisheit in sich finden und zum Ausdruck bringen kann, erklärt Vimalakirti im nächsten Abschnitt (gekürzt und frei übersetzt):   

Der Körper der Weisheit entsteht aus Liebe, Mitgefühl und Unvoreingenommenheit. Er ist die Folge von Freigebigkeit, Sittlichkeit, Geduld und Liebe. Er wird geboren aus den Wurzeln einer soliden Meditationspraxis und der weisen Nutzung von Hilfsmitteln wie Disziplin, Sammlung, Einsicht, Befreiung und der Verwirklichung der Befreiung im Alltag.

Freunde, alle Krankheiten der Lebewesen entstammen den verschiedenen Leidenschaften und Täuschungen. Um diese Krankheiten zu besiegen, solltet ihr den Körper der Weisheit kultivieren.

Auf diese Weise verbreitete und erklärte Vimalakirti Buddhas Lehre der Edlen Vierfachen Wahrheit und die Lehre des Edlen Achtfachen Pfades. 

Können wir uns selbst in der Gemeinschaft der Besucher sehen? Können wir verstehen, wie Vimalakirti auch uns konkret und direkt anspricht und auffordert, unsere innewohnende Weisheit zu wecken, um die Realität unserer Körperlichkeit zu verstehen und zu überwinden? 

Befreiung vom Tod

Indem Vimalakirti sich selbst als ein lebendiges Beispieleineskranken, abervon Krankheit befreiten Menschen zeigte, machte er sein Bodhisattva-Gelübde wahr, alle Wesen zur Befreiung von Leiden zu führen.  

Wie dieser Freiheit konkret aussehen kann, durfte ich am Beispiel meines Lehrers H. Platov erleben. In den fünfzehn Jahren, die ich mit ihm verbrachte, war er öfters krank. (Vermutlich war dies den Hungerjahren geschuldet, die er in seiner frühen Jungend im Berlin des 1. Weltkrieges durchlebt hatte.) Wenn er nicht mit starker Geisteskraft gesegnet gewesen wäre, hätte er wohl kaum das Alter von 85 Jahren erreicht. Jedesmal, wenn er krank war, legte er sich einfach hin und wartete, bis er sich wieder besser fühlte. Fühlte er sich gut, war er auf den Beinen und viel beschäftigt. Seine letzte Woche verbrachte er in einem Krankenhaus. 

Im Krankenbett gab es kein Jammern und kein Klagen, kein Bedauern, aber auch kein Leugnen und kein «so tun, als ob nichts wäre». Was die Medizin an schmerzlindernden Medikamenten zu bieten hatte, nahm er dankbar an, doch irgend etwas zur Verlängerung oder Verkürzung seines Lebens zu unternehmen stand gar nicht zur Diskussion.

Er, der immer gerne fernsah, stellt den Fernseher ab und hielt die Augen meist geschlossen. Er sammelte seine ganze Aufmerksamkeit nach innen mit der Begründung: «Ich will nichts mehr dazwischen kommen lassen.»  Öffneten sich die Augen, schauten sie uns gross und glänzend mit versteckter Heiterkeit an!  Angesichts unserer besorgten Gesichter und Fragen, wie es ihm gehe, zitierte er mit Schalk in den Augen Friedrich Schillers Satz: «Der Diener (wörtl. der Mohr) hat seine Schuldigkeit getan, der Diener kann gehen», wobei der Diener sein eigener Körper war. Das war H. Platovs Dharma-Predigt über die Vergänglichkeit des körperlichen Lebens und die Geburt des Weisheitskörpers. 

hier und jetzt

Was nützt es uns, wenn wir zwar wissen und mit Worten bezeugen, dass Alter und Tod zum Leben gehören, dann aber, wenn sich dies uns selbst beweist, völlig aus dem Leim fallen, ganz hilflos sind und nicht wissen, was wir nun tun sollen? Wenn wir in Selbstmitleid verfallen oder so tun, als geschähe uns ein Unrecht? Was nützt es kranken und leidenden Menschen, wenn wir hilflos an ihrem Krankenbett stehen und nur mitleidige Floskeln von uns geben können? Krankheit und Tod als Tabu oder als Feind zu betrachten, ist der fatalste Fehler unserer sogenannten westlichen Zivilisation.

Lasst uns diesen Fehler vermeiden und alle Umstände, gute oder schlechte, dazu nutzen, um Frieden zu finden und zu verbreiten in diesem Leben und darüber hinaus. 

Vimalakirti Sutra 2.3

Vimalakirti Sutra 2.3

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