Vimalakirti Sutra 1

Das Reine Buddha-Land

Vimalakirti Sutra 1 – Das erste Kapitel handelt von einer Versammlung, in welcher der Buddha erklärt, wie ein weiser Mensch (Bodhisattva) durch das eigene Denken und Handeln ein Reines Land schaffen kann. Die erste Szene enthält einer Lobrede auf die zahlreichen Bodhisattvas, die ihre Welt bereits in diesem Sinne transformiert haben. 

In der nächsten Szene erscheint ein junger Mann namens Ratnakara in Begleitung von einer grossen Schar Gleichgesinnter. Jeder von ihnen überreicht dem Buddha einen juwelengeschmückten Baldachin als Opfergabe. Der Buddha verwandelt all diese zu einem einzigen unermesslichen Baldachin, der das ganz Universum überdeckt. Dann erklärt er die Merkmale und Auswirkungen von reinen Ländern.

In der dritten Szene äussert Shariputra Zweifel an der Reinheit der Menschenwelt, was den Buddha zu weiteren wertvollen Erläuterungen veranlasst. Am Schluss ist allen Anwesenden klar: Die Schaffung eines reinen Landes soll das höchste Ziel eines jeden Menschen sei, der den Befreiungsweg von Buddha für sich und andere zu verwirklichen wünscht.

In den buddhistischen Schriften ist sehr häufig die Rede vom Reinen Land oder dem Reinen-Buddha-Land. Viel Zeitgenossen Buddhas stellten sich darunter eine Art Paradies vor, in dem man nach dem Tod dank guter Taten oder durch die Hilfe von einem Buddha wiedergeboren wird. Doch im Vimalakirti-Sutra erklärt der Buddha, dass das sogenannte Reine Land keine Welt ausserhalb von Zeit und Raum ist. Es ist der Einflussbereich eines wachen, sich seines Wesens bewussten Menschen. Das heisst, dass jeder Mensch ein reines Land schaffen kann und soll.

Die Versammlung

Das Vimalakirti-Sutra beginnt wie fast alle Sutras mit der Beschreibung der Ausgangslage:

So habe ich gehört: Einst weilte der Buddha im Amra-Park in Vaisali mit einer Versammlung von achttausend grossen Bhiksus. Sie waren frei von Unreinheiten und Leiden, und alle hatten Selbstbeherrschung erlangt. Mit ihnen waren zweiunddreissigtausend Bodhisattvas, die dafür bekannt waren, alle Vollkommenheiten, die zur grossen Weisheit führen, erreicht zu haben. … Sie hielten die richtige Lehre (Dharma) hoch. Gleich brüllenden Löwen, wurden sie in allen Himmelsrichtungen gehört. … Ihre Taten, Worte und Gedanken waren rein und klar, frei von allen Hindernissen und Bindungen. Sie hatten Gelassenheit des Geistes verwirklicht und grenzenlose Befreiung erreicht. Sie meisterten die sechs Paramitas: Grosszügigkeit, Disziplin, Geduld, Hingabe, Meditation und Weisheit, sowie die zweckmässigen Methoden des Lehrens. Da sie die wahre Natur aller Phänomene sahen, kannten sie die Geisteszustände aller Lebewesen und verwirklichten wahre Furchtlosigkeit. …

Alle ursprünglichen Sutras des Buddhismus beginnen mit dem Satz: «So habe ich gehört». Dies geht zurück auf das erste Konzil, das ungefähr drei Monate nach dem Tod des historischen Buddha von dessen Nachfolger veranstaltet wurde. Sie hatten die Absicht, die Erinnerungen an seine Lehrreden zu sammeln und zu vereinheitlichen, damit sie möglichst unverfälscht an die nächsten Generationen übermittelt würden. Zu diesem Zweck wurde Ananda, der Cousin und ständige Begleiter von Buddha, beauftragt, alle gehörten Reden und Anweisungen zu wiederholen. Ananda konnte dies tun, weil er über ein aussergewöhnliches Gedächtnis verfügte. Auch wenn er die Bedeutung selber oft nicht verstand, so konnte er doch wie ein Tonband die Worte  so lebendig und genau wiedergeben, dass manche Anwesenden glaubten, den Buddha selber sprechen zu hören.   

Bikshus und Bodhisattvas

In der Anhängerschaft von Buddha gab es unterschiedliche Kategorien von Anhängern. Neben den Bikshus und Bodhisattvas werden noch viele andere Gruppen genannt, die an der Versammlung im Amra-Park teilnahmen. Für den Moment genügt es, uns auf die Bedeutung der erwähnten Hauptgruppen zu beschränken. Einige der anderen werden wir im Laufe des Geschehens kennenlernen. 

Bhikshu (weibl. Bhikshuni) bedeutet wörtlich «Bettler» oder «jemand, der von Almosen lebt». In der Gemeinschaft Buddhas war es die Bezeichnung für die ordinierten Mönche und Nonnen. Sie lebten in der sogenannten Hauslosigkeit, verzichteten auf persönlichen Besitz und persönliche Bindungen und befolgten strikte Regeln. Ihr Ziel war es, ein einfaches und meditatives Leben zu führen und das Nirvana zu erlangen, den Zustand, in dem Leiden und Unwissenheit für immer ausgelöscht sind.

Die zweite grosse Gruppe bildeten die Bodhisattvas. Sie werden definiert als Wesen, die ihr Leben nicht nur dem Streben nach der höchsten Erleuchtung widmen, sondern die geloben, in der Welt der empfindenden Lebewesen zu bleiben und ihre Erkenntnis und Weisheit all diesen zu Gute kommen zu lassen. Ein Bodhisattva ist das buddhistische Ideal eines verwirklichten, wahrhaftig selbstlosen Menschen.

Ausser diesen irdischen Bodhisattvas spricht das Sutra von Tausenden von Bodhisattvas, die verschiedene Funktionen der reinen Geistesnatur verkörpern. Rund fünfzig werden mit Namen genannt wie zum Beispiel: der Bodhisattva, der die Einheit aller Dinge sieht; der Bodhisattva, der die Verschiedenheit aller Dinge sieht; der Bodhisattva, der alle Dinge als gleich und ungleich sieht; der Bodhisattva der königlichen Gelassenheit; der Bodhisattva der wundervollen Erkenntnis usw.

Es ist ein typisches Charakteristikum der überlieferten Sutras, dass immer die Rede ist von Tausenden von Anwesenden der verschiedenen Kategorien. Dies ist nicht unbedingt wörtlich zu verstehen, sondern als Hinweis dafür, dass der eine Geist in allen Lebensformen spürbar ist. Eine Tatsache, die den limitierten menschlichen Verstand weit übersteigt.

Das Bodhisattva-Ideal

Das sogenannte Bodhisattva-Ideal basiert auf der Idee, dass sich der menschlichen Geistes vom Zustand der Unwissenheit in den Zustand der erwachten Weisheit, d.h. in den vollkommen erleuchteten Buddha-Zustand wandeln kann. Oder anders gesagt: Es ist das Ideal, die Buddhaschaft in der Menschenwelt zu verwirklichen. 

Der Kern des Bodhisattva-Ideals ist die Meisterschaft der Sechs Paramitas, übersetzt als «Vervollkommnung der sechs Tugenden», die der Buddha im Edlen Achtfachen Pfad dargelegt hat: Freigebigkeit (Dāna), Ethisches Verhalten (Śila), geduldige Ausdauer (Ksānti), ernsthaftes Bemühen (Vīrya), Meditation (Dhyāna) und Weisheit (Prajñā). Diesen Tugenden fügt das Vimalakirti-Sutra auch noch die Beherrschung der zweckmässigen Methoden (Upāya) des Lehrens hinzu.

In der Gemeinschaft von Buddha gab es etliche hochangesehene Jünger, die diesen Status eines Bodhisattvas bereits erlangt hatten. 

Laientum versus Mönchtum

Unter den Anhängern Buddhas herrschte allgemein die Meinung, man könne die Buddhaschaft nur erlangen, wenn man die Ordinationsgelübde abgelegt habe. Doch die Geschichte von Vimalakirti zeigt, dass dem nicht zwangsläufig so ist. Denn Vimalakirti war beides: ein Laie und ein Bodhisattva.

Im Buddhismus, heute wie damals, ist es im allgemeinen die Aufgabe der Laien, Mönche und Nonnen materiell zu unterstützen, während die Mönche und Nonnen für die geistigen Belange im Leben der Laien zuständig sind. Sie begleiten die Menschen durch die diversen Lebensabschnitte mit Zeremonien und gelegentlichen Unterweisungen. Vimalakirti jedoch war ein Haushälter. Er besass eine Familie und war ein tüchtiger Geschäftsmann. Er legte nie ein Gelübde ab, wurde von Buddha aber als seinesgleichen anerkannt. Dieser Tatbestand führte in Buddhas Gemeinde zu heftigen Auseinandersetzungen. 

Das Vimalakirti-Sutra kreist um diese Auseinandersetzung zwischen Mönchstum und Laientum. Es illustriert die buddhistische Lehre und Lebenshaltung, die, wenn sie richtig angewendet wird, auch Laien zur geistigen Befreiuung führt, aber umgekehrt, den Mönchen und Nonnen nicht hilft, wenn sie sie nicht richtig anzuwenden wissen. 

Es scheint, dass in unserer westlichen Welt, in welcher der Buddhismus hauptsächlich von Laien praktiziert wird, dieses Sutra eine wichtige Bedeutung haben könnte. Die meisten von uns, stehen mitten im gesellschaftlichen Leben; wir sind nicht in der Lage oder wünschen es nicht, von der Welt abgeschieden in einem Kloster zu leben.  

Es wäre jedoch ein Irrtum, die Bedeutung des Vimalakirti-Sutra auf diesen Umstand zu beschränken. Seine wahre Botschaft geht weit darüber hinaus.

Das Eintreffen von Ratnakara

Nach der Nennung aller anwesenden Gruppen von Zuhörern fährt das Sutra fort:

Umgeben und verehrt von diesen Scharen von Lebewesen, sass der Buddha wie der Berg Sumeru strahlend und leuchtend auf dem Löwenthron, bereit, das Dharma zu erläutern.

In diesem Augenblick traf Ratnakara, der Sohn eines Stammesältesten ein, begleitet von fünfhundert Söhnen von Stammesältesten. Sie kamen, um dem Buddha Respekt zu erweisen. Sie alle trugen einen mit sieben Arten von Edelsteinen geschmückten Baldachin mit sich. Einzeln näherte sie sich dem Buddha, verbeugten sich zu seinen Füssen, umrundeten ihn siebenmal im Uhrzeigersinn, legten ihren Baldachin als Opfergabe nieder und zogen sich zur Seite zurück.

Was meinst du, bist du in diesem Augenblick noch an irgend etwas anderem interessiert, als an dem, was du gerade jetzt vor deinen Augen siehst? Gibt es da noch einen Gedanken an gestern oder morgen oder eine Erinnerung?

Spürst du die erwartungsvolle, durchdringende Stille, die über der Versammlung liegt? Möchtest du in diesem Augenblick irgendwo anders sein?

Wenn du alle diese Fragen mit «nein» beantworten kannst, dann kennst du den Zustand ungeteilter Sammlung und Achtsamkeit. Das ist die unverzichtbare Voraussetzung ist, damit man einem Buddha begegnen, ihm zuhören und seine Botschaft in sich aufnehmen kann. Wenn es noch irgendeinen Raum gibt für etwas anderes – und mag er noch so winzig klein sein – dann wird man die wahre Gestalt Buddhas weder sehen noch erkennen; geschweige denn seine Botschaft hören. 

Sei es in der täglichen Meditation oder beim Hören des Dharma, wenn diese ungeteilte, leere Offenheit des Geistes nicht vorhanden ist, dann ist alles Bemühen umsonst. So wie ein winziger Tropfen Tinte das klare Wasser in einem Glas blau färbt, so trübt auch ein einziger selbstzentrierter Gedanke den klaren Geist. Das war nicht nur damals so, das gilt auch heute.  

Vom Vielen zum Einen

Das Sutra fährt fort:

Sobald all diese kostbaren Baldachine niedergelegt worden waren, verwandelte der Buddha sie mit seiner übernatürlichen Kraft in einen einzigen Baldachin. Dieser war so gross, dass er die Milliarden-Welt-Galaxien umfing – der Berg Sumeru in der Mitte, in allen Himmelsrichtungen umgeben von Landschaften mit Flüssen und Strömen, Bergen und Tälern, darüber Sonne und Mond, Planeten und Sterne sowie die Bereiche der Geisteswesen, Drachen und Dämonen.

Ganz abgesehen davon, dass diese Schilderung der farbenfrohen, imaginären, mythologischen Mentalität Indiens entspricht, enthält sie weit mehr als die Beschreibung eines von Buddha vollbrachten Wunders.

Ein Sutra ist eine in Worte gefasste Übermittlung der Wirklichkeit aus der Sicht eines vollendeten, sich seiner wahren Natur bewussten Menschen, dessen Heimat nicht mehr unsere gewöhnliche Welt ist, sondern die allumfassende, wahre Natur des ganzen Universums. Oder anders ausgedrückt: Es ist Ausdruck der transzendenten Sicht, die das Wirken des ungeteilten, absoluten, universalen Geistes sieht, immer, in allem, überall. Ob man diesen Geist «Buddha-Natur» nennt oder «Gott» oder «Shiva» oder sonst bei einem Namen: Es ist die Wirklichkeit, die Realität, die keinen Namen hat und unsere Gedankenwelt transzendiert.  

Vom Sinnbild zum Verstehen

Was könnten die juwelengeschmückten Baldachine bedeuten, die dem Buddha zu Füssen gelegt und von ihm zu einem einzigen Baldachin vereint wurden? Sind sie nicht  ein anschauliches  Sinnbild für den hingebungsvollen Geisteszustand der Jünglinge, in welchem diese dem Buddha begegneten? 

Und: Ist es nicht so, dass jeder Mensch, auch du und ich, diesen mit den sechs wunderbaren Sinnen und der höchsten Erkenntniskraft geschmückten Geist in sich tragen?  

Ist es nicht dieser Geist, den man dem Buddha darbringt, wenn man ihn um Unterweisung bittet? 

Und ist es nicht so, dass alle scheinbar individuellen, verschiedenen Geistesfunken in Wirklichkeit ein einziger Geist sind? 

Und: Ist es nicht so, dass dieser eine Geist sämtliche sichtbaren und unsichtbaren Welten, die physischen und metaphysischen Geisteszustände, erzeugt?

Dies jedenfalls ist die Sicht, zu der Buddha nach langer Zeit der Askese und der Meditation unter dem Bodhibaum erwachte und in allen Lebewesen zu erwecken suchte.  Auch wir sind eingeladen, dies zu tun.

°°°

Der Berg Sumeru gilt in der hinduistischen und buddhistischen Kosmologie als das Zentrum aller physischen, metaphysischen und spirituellen Universen. Einerseits wird der Buddha selbst als Berg Sumeru gesehen, andererseits lässt der Buddha den kosmischen Berg Sumeru vor der Versammlung erscheinen.

Auch wir haben einen mit Edelsteinen geschmückten Baldachin, den wir unserem innewohnenden Buddha darbringen können. Hingabe an das Dharma ist ein Juwel, rechte Meditation ist ein Juwel, Ausdauer ist ein Juwel, Mitgefühl ist ein Juwel, Vertrauen ist ein Juwel, Lebensmut ist ein Juwel und nicht zuletzt: Auch Humor ist ein Juwel.

All die zahllosen kleinen Baldachine füllen sämtliche Galaxien. Nichts geht darin verloren und nichts ist umsonst. Das Vimalakirti-Sutra ist einer der vielen Schlüssel, der das scheinbar verschlossene Tor zur Unermesslichkeit unseres Geistes öffnen kann, wobei es in Wirklichkeit gar kein Tor gibt. Der unermessliche Geist ist der einzige Geist. Es gibt keinen anderen. Das Leben ist allgegenwärtige, ungeteilte Präsenz! Jetzt, hier!

Bitte um Unterweisung

Das Sutra fährt fort:

Alle Anwesenden, die Zeuge der übernatürlichen Kräfte des Buddha wurden, waren völlig überwältigt. Nie zuvor hatten sie so etwas gesehen. Sie verbeugten sich mit zusammengelegten Händen und blickten den Buddha voller Ehrfurcht und Freude an. Daraufhin verfasste Ratnakara spontan ein Loblied auf die wunderbare Kraft des Buddha. …

Danach wandte er sich erneut an den Buddha und sprach: «Von aller Welt Verehrter, diese Söhne der Ältesten haben ihren Geist auf die Suche nach der höchsten Erleuchtung gerichtet; sie alle wollen wissen, wie man das reine und makellose Land des Buddha erlangen kann. Wir bitten den Ehrwürdigen, uns zu erklären, was ein Bodhisattva tun muss, um das reine Buddha-Land zu realisieren.»

Der Buddha sagte: ‹Ausgezeichnet, Ratnakara, es ist gut, dass du im Namen dieser Bodhisattvas nach Unterweisung zur Verwirklichung des reinen Landes bittest. Ich werde euch nun die Reinigung des Buddha-Landes erklären. Hört aufmerksam zu und denkt über alles nach, was ich jetzt sage.

Daraufhin vernahmen Ratnakara und die fünfhundert Söhne der Ältesten Buddhas Unterweisung und hörten aufmerksam zu.

Wie in allen Sutras wird der Buddha auch hier höflich um eine Unterweisung gebeten, zum Wohle aller Zuhörer. Es ist das Merkmal eines echten Weisen, dass er nur redet, wenn er darum gebeten wird. Für die Anhänger von Buddha war jede Unterweisung ein wertvolles Geschenk. Dies soll uns noch einmal vor Augen führen, in welcher Einstellung man sich auf eine Dharma-Unterweisung einlassen soll. Egal ob man sie liest oder hört. Statt die Texte halbherzig zu konsumieren und zum nächsten Thema überzugehen, sollten wir sie mit Achtsamkeit und Offenheit annehmen und sorgfältig «kauen». Nur so können sie ihren nährenden Gehalt entfalten. Denn auch im heutigen Zeitalter der digitalen und medialen Reizüberflutung ist es ein Glück und ein Geschenk, wenn man mit Worten der Wahrheit in Berührungen kommt. 

Wie schafft man ein reines Land?

Ein reines Land ist also kein geographisches Land auf unserer Erde oder auf irgendeinem Planeten im Universum. Es ist auch kein Himmel, in dem man nach dem Tod für immer und ewig aufgehoben ist. Das Land oder die Länder, von denen der Buddha sprach, sind von geistiger Natur. Sie entstehen aus dem Denken und Handeln von Menschen, die ihr ganzes Leben und Wirken darauf ausrichten, Klarsicht und Mitgefühl zu vervollkommnen, damit sie allen unwissenden und leidenden Wesen behilflich sein können, den befreienden Ausweg aus Unwissenheit und Leiden selber auch zu finden. Daher auch die Bezeichnung «Buddha-Land». 

Es ist also rein gar nichts Mysteriöses oder Esoterisches am buddhistischen Konzept vom Reinen Land. Im Gegenteil, es bezieht sich direkt auf das Denken und Handeln jedes einzelnen Menschen wie du und ich, im konkreten Leben auf der konkreten Erde. 

Auf das Denken kommt es an…

Das ist das A und O von Buddhas Lehre. Unser eigenes Glück und das Glück der ganzen Menschheit hängt allein von unserem Denken und den daraus resultierenden Taten ab.  Schon im Dhammapada, der weltberühmten Sammlung von Buddas Aussagen, steht gleich zu Beginn: 

Alles geschieht unter der Führung des Geistes, wird vom Geist geprägt, ist vom Geist gemacht. Wer mit unlauterem Geist spricht oder handelt, dem folgt das Leid auf Schritt und Tritt so, wie ein Wagenrad der Spur des Zugochsen folgt. Alles geschieht unter der Führung des Geistes, wird vom Geist geprägt, ist vom Geist gemacht. Wer mit lauterem Geist spricht oder handelt, dem folgt von das Glück, wie der eigene Schatten, der nicht schwinden kann.»(Übers.Thomas Cleary)

Manche von euch haben diesen Vers wohl schon gelesen oder gehört, wenn möglich mehr als einmal. Aber hat man ihn schon einmal wirklich durchdacht, nicht nur oberflächlich gelesen – und vielleicht sogar zustimmend genickt? Sind wir uns seiner Wahrheit und Implikationen bewusst? 

Sind wir nicht allesamt die Schöpfer unserer Welt? Oder bilden wir uns noch ein, irgendjemand anders oder ein mysteriöses Schicksal oder eine Gottheit bestimme über Glück und Unglück der Menschheit und der von der Menschheit gebeutelten Natur?

… und auf das Handeln kommt es an.

Wissen wir, dass wir es jeden Tag von neuem in der Hand haben, wie wir uns zu unseren Lebensumständen und Mitlebewesen stellen? Wissen wir, dass unser Handeln immer von Gedanken motiviert ist? Sind wir uns unserer Motive bewusst? Bestehen diese nicht meistens, wenn nicht immer, aus irgendeinem Wunsch? Dem Wunsch, etwas zu sein oder zu werden – ein guter dies oder das; ein geliebter dies oder das, oder dem Wunsch, etwas nicht zu sein oder nicht zu werden – ein ungeliebter dies oder das, ein schlechter oder erfolgloser dies oder das, oder dem Wunsch etwas zu haben oder nicht zu haben, zu bewahren oder loszuwerden?

Nun, wenn dem so wäre, wenn wir so bewusst wären und entsprechend handeln würden, dann wäre die Arbeit der Buddhas und Bodhisattvas in allen Gestalten und Farben getan. Dann könnten wir das Vimalakirti- und alle anderen Sutras ungelesen zur Seite legen. 

Wir tun also gut daran, unseren Geist aufs Neue zu sammeln und dem Buddha weiter zuzuhören. Denn im folgenden Abschnitt erfahren wir, was das Denken eines Bodhisattvas ausmacht und warum ein von einem Bodhisattva geschaffenes Land ein reines Land ist.  

Ein Bodhisattva ist ein Wesen (Sattva), das allein nach erleuchteter Weisheit (Bodhi) strebt und diese Eigenschaft in seinem Tun manifestiert; es hat alle selbstzentrierten Motive wie Wollen und Haben hinter sich gelassen. Mit anderen Worten: Ein reines Land entsteht durch lauteres, reines Denken, frei von den Verunreinigungen des ich-zentrierten Strebens nach materiellem oder geistigem Profit. Der Buddha erklärt dies im folgenden Abschnitt im Detail.

Reiner Geist = reines Land

Der aufrichtige Geist bildet das reine Buddha-Land eines Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren, die frei von Heuchelei und Betrug sind.

Vertrauen in den Geist bildet das reine Buddha-Land eines Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren, die bereits Wurzeln der Tugenden gebildet haben.

Klare Sicht bildet das reine Buddha-Land eines Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren, die entschlossen sind, die Lehre zu praktizieren.

Freigebigkeit bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren, die ihren Besitz  grosszügig verschenken können.

Sittlichkeit bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren werden, die die ethischen Gebote einhalten.

Ernsthaftes Bemühen bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft erlangt, werden in seinem Buddha-Land Lebewesen wiedergeboren, die konsequent sind in der Ausführung von verdienstvollen Taten.

Meditation bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren, deren Geist diszipliniert und gelassen ist.

Weisheit bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht, werden Lebewesen in seinem Buddha-Land geboren werden, die im Zustand des reinen Gewahrseins (Samadhi) weilen. 

Kenntnis der zweckmässigen Methoden zur Befreiung bildet das reine Land des Bodhisattvas. Wenn er die Buddhaschaft verwirklicht,  werden in seinem Buddha-Land Lebewesen geboren, die die Hilfsmittel geschickt nutzen können.

Gedanken = Lebewesen

In der erleuchteten Sicht Buddhas sind die «Lebewesen», die durch den Geist eines Bodhisattvas ins seinem Land «geboren» werden, von geistiger Natur. Es sind konkrete Auswirkungen seiner Gedanken und Taten: Heilsame Gedanken und Taten zeugen glückliche Lebewesen, unheilsame Gedanken und Taten zeugen unglückliche Lebewesen.

Jeder Gedanke, jede Gefühlsregung entspringt jedoch derselben Quelle, ist Ausdruck der einen, unfassbaren, universalen Geistesaktivität. Im Ursprung sind sie weder gut noch schlecht. 

Das Entscheidende für die Qualität ihrer Wirkung ist die tiefliegende Motivation, die den Gedanken und Taten eines Menschen zugrunde liegt. Seine tiefliegenden Neigungen, auch Willenstendenzen genannt, bestimmen, welche Art von «Welt» ein Mensch schafft, ganz egal ob dieser Mensch weiblich oder männlich, reich oder arm, gebildet oder ungebildet, gläubig oder ungläubig ist. Denn jeder Gedanke hat eine Ursache und zieht eine ganze Kette von weiteren Gedanken und daraus folgenden Taten nach sich. Das ist die karmische Gesetzmässigkeit, die Lehre des bedingten Entstehens, die wie ein roter Faden den Teppich der buddhistischen Befreiungslehre durchzieht. 

Wenn ein Bodhisattva seinen Geist von allen Meinungen, Irrungen und Vorstellungen – von denen die Vorstellung von einem substanziellen Selbst oder einer Ich-Identität die grösste ist – vollkommen gereinigt hat, dann ist er in der Lage, ein reines Buddha-Land zu schaffen. Das ist die Essenz von Buddhas Erklärungen zur Schaffung eines reinen Buddha-Landes.

Resüme

Der Buddha fasst zusammen:

Also, Ratnakara, aufgrund seines aufrichtigen Geistes kann ein Bodhisattva aufrichtig handeln; dank seiner aufrichtigen Taten verwirklicht er das Vertrauen in den Geist; sein Vertrauen in den Geist hält seine Gedanken unter Kontrolle. Aufgrund seiner kontrollierten Gedanken stimmen seine Handlungen mit dem Dharma überein; aufgrund seiner Taten, die mit dem Dharma übereinstimmen, kann er seine Verdienste zum Nutzen anderer einsetzen.

Wegen seines hingebungsvollen Mitgefühls kann er zweckmässige Methoden anwenden; wegen seiner zweckmässigen Methoden kann er Lebewesen zur Vollkommenheit bringen; weil er sie zur Vollkommenheit bringen kann, ist sein Buddha-Land rein. Dank seines reinen Buddha-Landes ist sein Vermitteln des Dharma rein. Da sein Vermitteln rein ist, ist seine Weisheit rein. Wegen seiner reinen Weisheit ist sein Geist rein, und wegen seines reinen Geistes sind alle seine Verdienste rein. Deshalb, Ratnakara: Wenn ein Bodhisattva das reine Land gewinnen will, sollte er seinen Geist reinigen, und aufgrund seines reinen Geistes ist das Buddha-Land rein.

Shariputras Zweifel

Shariputra war einer der ältesten Schüler des Buddha und genoss grosses Ansehen unter den Jüngern. Er war bekannt für seine gründliche Meditationspraxis und Gewissenhaftigkeit, mit der er Buddhas Belehrungen aufnahm und in die Tat umsetzte. Er hatte richtig verstanden, dass die Beschaffenheit bzw. die Qualität eines Buddha-Landes vom geistigen Zustand seines Schöpfers abhängt. (Das gilt ganz allgemein: Die Art und Weise, wie man die Welt sieht, hängt vom eigenen geistigen und emotionalen Zustand ab.) Daher wunderte er sich, warum die Welt, in der der Buddha und seine Anhänger lebten, nicht anders war als die Welt der gewöhnlichen Menschen, nämlich voller Leid, Streit und Unglück.

Während der ehrwürdige Shariputra Buddhas magischer Darbietung fasziniert zuschaute, kamen ihm folgende Gedanken: Wenn ein Buddha-Land nur in dem Masse rein ist, wie der Geist eines Bodhisattvas, dann muss der Geist von Shakyamuni Buddha unrein gewesen sein, als er noch im Zustand eines Bodhisattvas war, denn wie könnte sein Buddha-Land (d.h. diese Welt) sonst so unrein sein, wie wir sie sehen? 

Der Buddha wusste, was Shariputra dachte, und sagte zu ihm: «Shariputra, was denkst du, sind Sonne und Mond nicht rein, wenn jemand, der blind geboren wurden, sie nicht sehen kann?» 

Shariputra antwortete: «Nein, Ehrwürdiger, dem ist nicht so. Der Mangel liegt beim Blinden nicht bei der Sonne oder dem Mond.»

Der Buddha erwiderte: «Ebenso liegt es an der geistigen Blindheit der Lebewesen, wenn sie das wunderbare reine Land des Tathagata nicht sehen und nicht am Tathagata. Shariputra mein Land ist rein, doch du siehst seine Reinheit nicht.»

Brahman Sikhin schaltet sich ein

Nun wandte sich der Brahman Sikhin an den ehrwürdigen Shariputra und sprach: «Verehrter Shariputra, sage nicht, das Buddha-Land des Tathagata sei unrein. Denn ich sehe, dass das Land von Shakyamuni Buddha rein und leuchtend ist, wie ein himmlischer Palast.»

Der ehrwürdige Shariputra antwortete dem Brahman Sikhin: «Was mich anbetrifft, Brahman, sehe ich diese Welt mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihren Dornen und steilen Abhängen, mit ihren Gipfeln und Abgründen, und sie erscheint mir voller Dreck.» 

Brahman Sikhin erwiderte: «Die Tatsache, dass du, verehrter Shariputra, ein solch unreines Buddha-Land siehst und mit der Buddha-Weisheit nicht einverstanden bist, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass es in deinem eigenen Geist Höhen und Tiefen gibt und dass dein Denken nicht mit der Buddha-Weisheit übereinstimmt. Diejenigen, die allen Lebewesen gegenüber unparteiisch sind und deren Denken mit dem Buddha-Dharma übereinstimmt, sehen das Buddha-Land als vollkommen rein.»

Man könnte den Eindruck haben, dass Sikhin dem Shariputra die Leviten las. Doch als Angehöriger der Brahmanen-Kaste lebte er in einer anderen «geistigen Welt» als Shariputra, und so haben wir es hier primär mit zwei Ansichten von zwei verschiedenen Zughörern zu tun.

Was Sikhin einwendet, ist in der Sache durchaus korrekt: Es ist die eigene Geistesverfassung, welche die Sicht der Welt bestimmt, und nur, wenn der Geist vollkommen unparteiisch, ohne Urteil ist, kann man die Welt in all ihren Aspekten sehen, so wie der Buddha sie sah, ohne etwas zu verdammen oder zu verleugnen.

Meister Sokei-an sagte einmal zu seinen Schülern, er sei vor vielen Jahren in die transzendente Welt eingetreten – die Welt jenseits der Gegensätze – und habe sie nie mehr verlassen. Er könne die Schüler in ihrer gewöhnlichen Welt sehen, während die Schüler ihn in seiner Welt nicht sehen könnten.

Die Wirklichkeit

Die Belehrung von Brahman Sikhin nützte dem Shariputra vorläufig nichts. Er war ein sehr ehrlicher Mensch, und wenn er von etwas nicht überzeugt war, dann stand er dazu. Der Buddha sah, was in ihm vor sich ging und versuchte, ihm und allen Anwesenden zu helfen. Das Sutra berichtet:

In diesem Moment drückte der Buddha die grosse Zehe auf die Erde, und sofort erstrahlte das ganzeUniversum mit Tausend und Abertausenden von seltenen und kostbaren Edelsteinen geschmückt. so wunderbar und überwältigend, wie man es bisher nur vom Universum des majestätischen Buddha Ratnavyuha gehört hatte, das mit unzähligen kostbaren Verdiensten geschmückt ist. Alle Anwesenden staunten und waren voller Lob. Ausserdem fand sich ein jeder auf einem kostbaren Lotusthron sitzend.

Der Buddha sagte zu Shariputra: «Sieh dir die majestätische Reinheit dieses meines Buddha-Landes an.»

Shariputra antwortete: «Weltehrenwerter, nie zuvor habe ich dieses glänzende Buddha-Land in seiner majestätischen Reinheit gesehen oder davon gehört.»

Der Buddha sagte: «Mein Buddha-Land ist immer rein, aber ich lasse es zu, dass es unrein erscheint, damit ich Menschen mit minderer Geisteskraft zu ihrer Erlösung führen kann. Es ist wie mit den Speisen der Götter: Sie ernähren sich alle mit demselben Nektar aus dem gleichen kostbaren Gefäss, empfinden diesen aber unterschiedlich in Abhängigkeit ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Ebenso nehmen die Lebewesen, die in ein und demselben Buddha-Land geboren wurden, dessen Glanz und Tugend entsprechend ihrem eigenen Denken wahr.»

Während sich die Pracht und Schönheit von Shakyamunis Buddha-Land offenbarte, begriffen die fünfhundert jungen Männer in Begleitung von Ratnakara, dass nichts wirklich geboren wird oder stirbt, sondern für immer ungeboren ist.

Ende der ersten Lektion

Nun löste der Buddha den Fuss von der Erde und nahm seine Wunderkraft zurück. Sofort erschien die Welt wieder in ihrem gewöhnlichen Zustand. Da erkannten alle, die sich dem Verstehen der Lehre des Buddha verschrieben hatten, dass in der Tat sämtliche Erscheinungen vergänglich sind. Sie öffneten ihr unverdorbenes Dharma-Auge, das die Wahrheit sieht. Die achttausend Bhiksus waren von ihren Täuschungen befreit und erlangten den Zustand des Nicht-Anhaftens, während die zweiunddreissigtausend Bodhisattvas begriffen, dass alle Dinge von Natur aus reine Schöpfungen des Geistes sind und erlebten auf diese Weise das Wesen der unübertrefflichen, vollkommenen Erleuchtung.

Mögen auch wir unser Weisheitsauge öffnen zu diesem Verstehen kommen!

das-reine-land

Vimalakirti Sutra 1

Nach oben scrollen