Einleitung
Freiheit – Das Wort „Freiheit“ ist als Abstraktum zum Adjektiv „frei“ gebildet, das sich aus dem indogermanischen Wurzelnomen (ig.) *per(e)i- „nahe, bei“ (= „das, was bei mir ist“, das persönliche Eigentum) entwickelt hat. Etymologischen Vermutungen zufolge hat es seine heutige Bedeutung über das germanische *frī-halsa = „jemand, dem sein Hals selbst gehört“, der also über seine Person selbst verfügen kann, erhalten.[1] Ebenfalls aus der indogermanischen Wurzel lässt sich herleiten, dass jemand, der frei ist, zu einer Gemeinschaft von einander Nahestehenden und Gleichberechtigten gehört,[2] zwischen denen ein friedlicher Zustand herrscht und die diesen inneren Frieden gemeinsam gegen Übergriffe von Dritten verteidigen. Somit wäre „Freiheit“ als Rechtsstatus immer relativ zu einer Gruppe und an die Bereiche, in denen diese normative Herrschaft ausübt, gebunden.[3]
Am grundlegenden Begriff der Freiheit können zahlreiche Aspekte unterschieden und separat behandelt werden. Für philosophische und politische Debatten stellt die Unterscheidung oder Nichtunterscheidung oft ein Problem oder eine bewusst eingesetzte Strategie dar. Die Freiheit, sich für oder gegen eine Handlung entscheiden zu können, und ihre Beschränkung durch Regeln sowie durch Entscheidungen, Ansprüche, Interessen oder Handlungen anderer sind eng mit der Frage der Legitimität des eigenen Handelns und des Beschränkens fremden Handelns verbunden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit
„Stranger than Fiction“
„Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Männer und Frauen sind lediglich Schauspieler: Sie haben ihre Auftritte und Abgänge; und jeder Mensch, in seiner Zeit, spielt viele Rollen.“ W. Shakespeare
Neulich hatte ich die Gelegenheit, den Film „Stranger than Fiction“ von dem Schweizer Regisseur Marc Forster zu sehen. Die Geschichte handelte von einem Mann, der nach und nach realisierte, dass er die Hauptfigur in einem Buch von irgendjemandem war. Er hörte die Stimme der Autorin, während diese seine Geschichte in die Schreibmaschine tippte.
Alles begann damit, dass er eines Morgens beim Zähneputzen eine Stimme hörte, die genau beschrieb, was er tat. Einmal mit der Stimme verbunden, entdeckte er, dass sein ganzes Leben bloss das Skript eines anderen Menschen war und dass er gehorsam dem Ablauf der Geschichte dieses anderen Menschen folgte. Der Film zeigte fortan, wie der Held mit der Entdeckung, dass er bloss eine Figur in einem Roman war, umging.
Nachdem…
Nachdem ich diesen Film gesehen hatte, begann ich darüber nachzudenken, wie viel in meinem Leben entsprechend den Skripts von anderen gelebt wird. Und wie ich nur eine Figur in den Romanen von anderen bin. Meine mentale Bibliothek ist vollgestopft mit alten, muffigen Bänden mit Titeln wie „Tradition“, „Religion“ und einem Haufen anderer, die alle mit „-ismus“ enden. Neben diesen wurmstichigen Wälzern gibt es neuere Bände mit Titeln wie „Anti-Tradition“, „Anti-Religion“ und „Anti-diesen-ismus“ und „Anti-jenen- ismus“. Neben diesen stehen noch neuere Bände, daneben noch neuere und so weiter und so fort. Diese Ansammlung von Titeln betrachtend, erkennt mein geistiges Auge das Muster meines Lebens als eine Bewegung von der verheissenen Freiheit einer Ideengruppe zur verheissenen Freiheit einer anderen Ideengruppe.
Ideen mögen Freiheit versprechen, aber Ideen können Freiheit genau so wenig liefern, wie die Idee „wie-ein Schokoladekuchen-schmecken-sollte“ den wahrhaftigen Geschmack eines Schokoladenkuchens liefern kann. Freiheit besteht im Kosten des Kuchens und nicht im Gedankenprozess, der mir alles über Schokoladenkuchen sagt, wenn ich gerade im Begriff bin, in ein Stück davon zu beissen. Freiheit besteht im Kosten und nicht im Gedankenprozess, der versucht, dieses Stück Schokoladenkuchen mit dem zu vergleichen, welches ich gestern ass, oder letzte Woche oder wann auch immer. Der einzige Weg, frei zu sein, den Schokoladenkuchen zu schmecken, besteht darin, ohne jegliche Vorstellung zu sein, wie ein Schokoladenkuchen schmecken sollte.
Könnte man auch sagen: „Der einzige Weg, frei zu sein, das Leben zu schmecken, besteht darin, ohne jegliche Vorstellung zu sein, wie das Leben schmecken sollte“?
„Freedom is just another word for nothing left to lose.“
Janis Joplin
Kahlil Gibran über Freiheit
Und ein Redner sagte: Sprich uns von der Freiheit. Und er antwortete:
Am Stadttor und an eurem Herd habe ich euch unterwürfig und in Anbetung eurer Freiheit gesehen.
Wie Sklaven sich vor einem Tyrannen erniedrigen und ihn preisen, obwohl er sie tötet.
Ja, im Hain des Tempels und im Schatten der Zitadelle habe ich die Freiesten unter euch ihre Freiheit als Joch und Handschellen tragen sehen.
Und das Herz blutete mir; denn ihr könnt nur frei sein, wenn selbst der Wunsch, die Freiheit zu suchen, euch zum Zügel wird und wenn ihr aufhört, von Freiheit als Ziel und Erfüllung zu reden.
Wirklich frei werdet ihr nicht sein, wenn eure Tage ohne Sorge sind und eure Nächte ohne jeden Wunsch und Kummer, sondern erst dann, wenn sie euer Leben umfassen und ihr euch dennoch nackt und ungebunden über sie erhebt.
Und wie wollt ihr euch über eure Tage und Nächte erheben, wenn ihr nicht die Ketten brecht, die ihr im Morgengrauen eures Verstehens eurer Mittagsstunde angelegt habt?
In Wahrheit
In Wahrheit ist das, was ihr Freiheit nennt, die stärkste dieser Ketten, wenn auch ihre Glieder in der Sonne glitzern und eure Augen blenden.
Und was sind es anders als Teile eures eigenen Ichs, die ihr ablegen wollt, um frei zu werden?
Wenn es ungerechtes Gesetz ist, das ihr abschaffen wollt, dann habt ihr es mit eigener Hand auf eure Stirn geschrieben.
Ihr könnt es nicht auslöschen, indem ihr eure Gesetzes bücher verbrennt, oder die Stirn eurer Richter wascht, und wenn ihr das Meer darauf giesst.
Und wenn es ein Despot ist, den ihr vom Thron stürzen wollt, seht zu, dass sein Thron zerstört wird, den ihr in euch errichtet habt.
Denn wie kann ein Tyrann die Freien und Stolzen regieren, ausser durch eine Tyrannei ihrer eigenen Freiheit und eine Scham über ihren eigenen Stolz?
Und wenn es eine Sorge ist, die ihr ablegen wollt, ist sie eher von euch gewählt als euch auferlegt.
Und wenn es eine Angst ist, die ihr verjagen wollt, ist der Sitz dieser Furcht in eurem Herzen und nicht in der Hand des Gefürchteten.
Wahrhaftig, all das umarmt sich ständig in euch, das Ersehnte und das Gefürchtete, das Abstossende und das Geschätzte, das Erstrebte und das, dem ihr ausweichen wollt.
All das bewegt sich paarweise in euch wie Licht und Schatten, die einander verhaftet sind.
Und wenn der Schatten verblasst und nicht mehr da ist, wird das Licht, das verweilt, zum Schatten eines anderen Lichts.
Und so wird eure Freiheit, wenn sie ihre Fesseln ablegt, selbst zur Fessel einer grösseren Freiheit.
J. Krishnamurti über Freiheit
Weder die Qualen der Unterdrückung noch die gewaltsame Disziplin der Anpassung an ein Vorbild haben zur Wahrheit geführt. Um die Wahrheit zu finden, muss der Mensch vollkommen frei sein, ohne die geringste Verzerrung oder Verkrampfung.
Aber zunächst wollen wir uns fragen, ob wir wirklich frei sein möchten. Wenn wir über Freiheit sprechen, meinen wir dann die totale Freiheit oder nur die Freiheit von etwas, das uns unbequem oder unangenehm oder unerwünscht ist? Wir würden gerne von schmerzlichen und hässlichen Erinnerungen und traurigen Erfahrungen frei sein; aber unsere angenehmen, befriedigenden Ideologien, Formeln und Beziehungen möchten wir behalten. Es ist aber unmöglich, die einen ohne die anderen zu bewahren, denn die Freude ist vom Leid nicht zu trennen.
So muss sich jeder von uns entscheiden, ob er vollkommen frei zu sein wünscht oder nicht. Wenn wir sagen, dass wir frei sein wollen, dann müssen wir das Wesen und die Struktur der Freiheit verstehen.
Ist es Freiheit…
Ist es Freiheit, wenn Sie von etwas frei sind – frei von Leid, frei von irgendeiner Angst? Oder ist Freiheit etwas völlig anderes? Sie können frei von Eifersucht sein, wollen wir einmal annehmen; aber ist diese Freiheit nicht eine Reaktion und daher überhaupt keine Freiheit? Sie können sich sehr leicht von einem Dogma lösen, indem Sie es analysieren, indem Sie es abstossen; aber diese Loslösung ist die Auswirkung eines Motivs, das darin bestehen mag, vom Dogma frei sein zu wollen, weil es nicht mehr modern oder zweckdienlich ist.
Oder Sie können vom Nationalismus frei sein, weil Sie an den Internationalismus glauben oder weil Sie empfinden, dass es wirtschaftlich nicht länger notwendig ist, an diesem törichten nationalistischen Dogma mit seiner Flagge und dem ganzen Unsinn zu hängen. Davon können Sie sich leicht trennen. Oder Sie mögen sich gegen einen spirituellen oder politischen Führer entscheiden, der Ihnen Freiheit als Ergebnis von Disziplin oder Revolte versprochen hat. Hat aber eine solche vernünftige Überlegung, solche logische Schlussfolgerung irgend etwas mit Freiheit zu tun?
Es ist keine Freiheit
Wenn Sie sagen, dass Sie von etwas frei sind, ist das eine Reaktion, aus der dann eine andere Reaktion folgt, mit einer anderen Anpassung, einer anderen Form der Hörigkeit. In dieser Art können Sie eine Kette von Reaktionen haben und jede Reaktion für Freiheit halten. Aber es ist keine Freiheit, es ist nur die Fortsetzung einer modifizierten Vergangenheit, an der der Verstand festhält.
Die Jugend von heute empört sich wie jede Jugend gegen die Gesellschaft. Das ist an sich etwas Gutes, aber Aufruhr ist keine Freiheit, denn wenn Sie revoltieren, ist das eine Reaktion, und diese Reaktion stellt ihr eigenes Modell auf, in dem Sie hängen bleiben. Sie glauben, dass es etwas Neues sei. Es ist aber nichts Neues; es ist das Alte in einer anderen äusseren Form. Jeder soziale oder politische Aufstand wird unvermeidlich in die gute alte Denkungsart bürgerlicher Gesinnung zurückfallen.
Freiheit kommt nur…
Freiheit kommt nur, wenn Sie sehen und handeln – niemals durch Revolte. Das Sehen ist Handeln, und eine solche Handlung ist so unmittelbar, wie wenn Sie eine Gefahr wahrnehmen. Dann wird nicht das Gehirn eingeschaltet, und es gibt keine Diskussion, kein Zögern; die Gefahr erzwingt die Handlung, und dann ist Sehen, Handeln und Freiheit eines.
Freiheit ist ein Zustand des Geistes – nicht die Freiheit von etwas, sondern das Gefühl der Freiheit, der Freiheit, alles anzuzweifeln und in Frage zu stellen, und zwar so intensiv, aktiv und kraftvoll, dass sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei, Anpassung und Anerkennung von sich wirft. Solche Freiheit bedeutet, völlig allein zu sein. Aber kann der Mensch, der in einer Kultur aufgewachsen ist, die so bedingt ist durch die Umwelt und innere Tendenzen, jemals diese Freiheit finden, in der er vollkommen allein steht und in der es keine Führerschaft, keine Tradition, keine Autorität gibt?
Diese Abgeschiedenheit ist ein innerer Zustand des Geistes, der von keinem Anreiz und keinem Wissen abhängig ist und der nicht das Ergebnis einer Erfahrung oder einer gedanklichen Festlegung ist. Die meisten Menschen sind innerlich niemals allein. Es besteht ein Unterschied zwischen Isolierung, in der man sich selbst absondert, und dem Alleinsein, das eine innere Abgeschiedenheit ist. Wir alle wissen, was es bedeutet, isoliert zu sein, eine Mauer um sich zu errichten, um niemals verletzt zu werden, niemals angreifbar zu sein, oder eine Unabhängigkeit zu züchten, die eine andere Form seelischer Angst ist, oder in dem traumerfüllten Elfenbeinturm einer Ideologie zu leben.
Allein sein ist etwas anderes.
Sie sind niemals allein, weil sie mit Erinnerungen aus der Vergangenheit angefüllt sind, mit den Gestalten und den Einflüsterungen des gestrigen Tages. Ihr Geist ist niemals frei von dem ganzen Plunder, den er angesammelt hat. Um allein zu sein, müssen Sie sich von der Vergangenheit lossagen. Wenn Sie allein sind, vollkommen allein, innerlich zu keiner Familie, keiner Nation, keiner Kultur, keinem bestimmten Kontinent gehören, entsteht das Gefühl, ein Aussenseiter zu sein. Der Mensch, der in dieser Art vollkommen allein ist, ist unschuldig, und diese Unschuld ist es, die ihn vom Leid befreit.
Was unzählige Menschen gesagt haben, tragen wir als Last mit uns herum, und dazu die Erinnerungen an alles Missgeschick. Das alles völlig aufzugeben, heisst allein zu sein, und der Mensch, der innerlich allein ist, ist nicht nur unschuldig, sondern auch jung – nicht in Bezug auf Zeit und Alter, sondern unabhängig von jedem Alter ist er jung, unschuldig, lebendig – , und nur ein solcher Mensch kann die Wahrheit sehen und das, was nicht mit Worten zu ermessen ist.
In dieser Abgeschiedenheit werden Sie anfangen zu verstehen, wie notwendig es ist, dass Sie so leben, wie Sie sind – nicht wie Sie glauben sein zu müssen oder wie Sie gewesen sind. Sehen Sie zu, ob Sie sich ohne jede Erregung betrachten können, ohne falsche Bescheidenheit, ohne jede Furcht, ohne Rechtfertigung oder Verurteilung – leben Sie einfach mit sich, so wie Sie tatsächlich sind.
Nur wenn Sie sich innig mit etwas befassen, beginnen Sie es zu verstehen.
Nur wenn Sie sich innig mit etwas befassen, beginnen Sie es zu verstehen. Aber in dem Augenblick, da Sie sich daran gewöhnen – sich an Ihre Angst oder Ihren Neid oder was es sonst sein mag, gewöhnen – , hat der lebendige Kontakt aufgehört. Wenn Sie an einem Fluss leben, hören Sie nach einigen Tagen nicht mehr das Geräusch des Wassers, oder wenn Sie ein Bild im Zimmer haben, das Sie alle Tage sehen, beachten Sie es nach kurzer Zeit nicht mehr. Es ist das Gleiche mit den Bergen, den Tälern, den Bäumen, mit Ihrer Familie, Ihrem Ehemann, Ihrer Ehefrau.
Um mit etwas zu leben, zum Beispiel mit der Eifersucht, dem Neid oder der Angst, dürfen Sie sich nicht daran gewöhnen, sich niemals damit abfinden. Sie müssen sich darum mühen, wie Sie sich um einen neu gepflanzten Baum sorgen würden, den Sie gegen die Sonne, gegen den Sturm schützen. So müssen Sie an den inneren Vorgängen interessiert sein, sie nicht verurteilen oder rechtfertigen; dann beginnen Sie, sie zu lieben. Nicht, dass Sie es lieben, neidisch oder bekümmert zu sein, wie es bei vielen Menschen der Fall ist, sondern dass Sie voller Achtsamkeit darauf hinschauen.
Können wir damit leben
Können Sie nun – können Sie und ich – mit dem leben, was wir tatsächlich sind, mit dem Wissen, dass wir träge, neidisch, ängstlich sind, dass wir grosse Zuneigung zu haben glauben, die gar nicht vorhanden ist, dass wir leicht verletzbar, leicht geschmeichelt und gelangweilt sind – können wir damit leben, ohne es hinzunehmen, ohne uns damit abzufinden oder es abzulehnen, sondern es einfach betrachten, ohne morbid, bedrückt oder hochmütig zu werden?
Wir wollen uns eine weitere Frage stellen. Können wir zu dieser Freiheit, dieser Abgeschiedenheit mit der Zeit gelangen? Kann uns die Zeit dazu verhelfen, mit dem Gesamtgefüge unserer inneren Natur in Kontakt zu kommen? Das heisst: kann Freiheit durch einen allmählich fortschreitenden Prozess erreicht werden? Offensichtlich nicht, denn sobald Sie die Zeit zulassen, versklaven Sie sich immer mehr. Sie können nicht allmählich frei werden. Es ist keine Frage der Zeit.
Die nächste Frage ist
Die nächste Frage ist, ob Sie sich dieser Freiheit bewusst werden können. Wenn Sie sagen: „Ich bin frei“, dann sind Sie nicht frei. Es ist so, als ob ein Mensch sagt: „Ich bin glücklich.“ In dem Augenblick, da er das sagt, lebt er in der Erinnerung an etwas, das vorbei ist. Freiheit kann nur ungezwungen entstehen, nicht durch Wollen, Wünschen, Sehnen. Sie können die Freiheit auch nicht dadurch finden, dass Sie sich ein Bild von dem schaffen, was Sie für die Freiheit halten. Um zur Freiheit zu gelangen, muss der Mensch lernen, ohne die Fessel der Zeit auf das Leben zu schauen, das eine unendliche Bewegung ist; denn Freiheit liegt jenseits des Bewusstseinsraumes.
Aus: Krishnamurti: Einbruch in die Freiheit
Meister Sokei-an über Freiheit
Es gibt einen berühmten Zen-Text, das Plattform-Sutra genannt, in dem die Worte des hervorragenden chinesischen Zen-Meisters Hui-neng wiedergegeben werden. Hui-neng lebte im 6. und 7. Jahrhundert und gilt als einer der Gründungsväter des Zens. Er war insofern aussergewöhnlich, dass er die Weisheit und Wahrheit des menschlichen Geistes ganz aus sich selbst heraus entdeckt hatte, ohne jegliche philosophische, religiöse oder andere geistige Schulung. Angeblich konnte er nicht einmal lesen und schreiben. Trotzdem oder gerade deshalb vermitteln seine Worte die gleiche Sicht wie die von Buddha.
Meister Sokei-an empfand eine grosse seelische Affinität zu diesem Meister, worauf auch sein Name hindeutet: „Sokei“ ist die japanische Aussprache für „Tsao-chi“, den Namen des Tales, in welchem Hui-neng gelebt und gewirkt hatte. Der nachstehende Artikel gibt einen Ausschnitt aus dem Plattform-Sutra wieder, von Sokei-an übersetzt und kommentiert.
Wenn der Geist seine eigene, natürliche Funktion erfüllt
„Wenn ihr eure innewohnende Weisheit zur durchdringenden Beobachtung benutzt, sowohl nach innen als auch nach aussen, könnt ihr eure allgegenwärtige Urnatur erkennen. Die ursprüngliche Natur zu erkennen, bedeutet, die ursprüngliche Freiheit zu erlangen. Unsere Urnatur ist von Anfang an frei und friedvoll. Nur wegen unserer Gedanken über die Dinge wird dieser Friede gestört. Wenn der Geist seine eigene, natürliche Funktion erfüllt, strahlt er in alle Richtungen, ohne bei einem Gegenstand hängen zu bleiben. Freiheit bedeutet, frei von den Gedanken zu sein. Frei von Gedanken zu sein, bedeutet, alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge ohne Anhaften zu betrachten. An keinem Gedanken haftend unter allen Umständen Geistesruhe zu bewahren ist Meditation.“
In der Meditation sieht man die Gedanken und Bilder kommen und gehen, aber man schenkt ihnen keine emotionale Aufmerksamkeit. Man weist das, was aus der Tiefe des Bewusstseins aufsteigt, nicht ab, aber man hält es auch nicht fest. Wenn keine Gedanken dazwischen stehen, vereinigen sich das natürliche, menschliche Bewusstsein und das allumfassende, universale Bewusstsein ganz von selbst. Diese Einheit ist unsere Urnatur. Das Leben in diesem ursprünglichen Zustand ist die Verwirklichung der Meditation.
Wir Menschen unterbinden die ursprüngliche Freiheit durch unser Denken. Denn wir versuchen andauernd, die Gesetze des Lebens gemäss unseren Erfahrungen zu arrangieren. Doch das ist unmöglich. Wir sehen blau und grün, denken aber nie darüber nach, warum es diese Farben gibt. Wir erkennen nie, dass Farben und Klänge Schwingungen sind, die auf unserer Retina bzw. auf unser Trommelfell treffen und nicht die Eigenschaften der Aussenwelt. So leben wir inmitten unseren Täuschungen wie Vögel in einem Käfig. Es gilt, das fundamentale Gewahrsein in sich selbst zu entdecken, in dem das, was wahrgenommen wird, weder beurteilt noch festgehalten noch abgewiesen wird. Das ist die Funktion unserer Urnatur.
So verlieren sie ihre Ruhe
Viele Leute, die in der Öffentlichkeit sprechen müssen, sind anfangs nervös, und ihre Stimme klingt zu hoch. Ihr Gemüt ist mit etwas anderem beschäftigt, als mit dem, was sie zu sagen haben. Vielleicht denken sie an den Erfolg, den sie mit ihrer Ansprache haben sollten. So verlieren sie ihre Ruhe und können nicht natürlich sprechen. Wer in einer solchen Situation Meditation übt bzw. Geistesruhe bewahrt, spricht mit fester und starker Stimme. Der Geist bleibt auf das Wesentliche fokussiert und wird nicht von anderen Gedanken gestört.
Freiheit von Gedanken heisst nicht, überhaupt nichts zu denken und alle Gedanken zu unterdrücken. Wer dies meint, ist in einem selbst konstruierten Konzept gefangen. Im täglichen Leben zeigt sich die natürliche Funktion des von den Gedanken befreiten Geistes darin, dass man einen Gedanken benutzt, wenn man ihn braucht, und ihn gehen lässt, wenn man ihn nicht mehr braucht. Genau so, wie man ein Pferd benutzt, wenn man es braucht, und im Stall oder auf der Weide lässt, wenn es nicht gebraucht wird. So findet der wache Geist in der Meditation die Weisheit, die ihm von Geburt an gegeben ist. Wenn man allerdings mit verwirrtem Geist still und unbeweglich sitzt und zu „meditieren“ „versucht“, produziert man nur wirre Träume.
Die Voraussetzung für echte Freiheit von allem Denken ist die vollkommene Abwesenheit von jeglichem Begehren in Bezug auf dieses Leben. Es darf keine Bevorzugung irgendeines Objektes geben. Für Menschen, die ihren eigenen Geist nicht kennen, dürfte dies schwer zu verstehen sein. Man könnte es vergleichen mit der Haltung eines jungen Mädchens, für das es noch nicht wichtig ist, einen Ehemann zu finden. Es geht mit verschiedenen Burschen aus, lacht und hat Spass, ohne sich an einen von ihnen zu binden.
Lasst euren Geist frei!
Lasst euren Geist frei! Denkt nicht, ihr müsstet ihn ständig kontrollieren. Wenn man ein Buch liest, lässt man den Geist fliessen, ohne ihn zu verfolgen. Lasst jeden Gedanken fliessen, ohne an das Vergangene zu denken. Dann gibt es keinen Unterbruch. Wenn ihr nur einen Augenblick lang bei Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft stecken bleibt, wird der Fluss unterbrochen und ihr verliert die Verbindung zur Urnatur. Damit setzt ihr euch selbst in Gefangenschaft. Wenn ihr es nicht zulasst, dass euer Denken an den Umstände oder an Ideen hängen bleibt, seid ihr frei wie ein Vogel oder wie die Indianer, die nie zwei Mal genau dem selben Weg folgten.
Freiheit bedeutet auch nicht, Regeln und Gebote zu ignorieren. Man soll die Gebote und Gesetze des menschlichen Lebens in der Welt verstehen, sich aber nicht an sie binden. Man bindet sich z.B. dann, wenn man sich stur an religiöse oder weltliche Gebote und Gesetze hält, ohne die Berücksichtigung der Umstände. Solche Buchstabengläubigkeit führt in die Gefangenschaft und nicht in die Freiheit.
Kehren wir zurück
Im Meditationszustand ist unser gegenwärtiges Bewusstsein hellwach, und mit seiner Hilfe treten wir direkt in die Wirklichkeit ein. So entdeckt wir hinter der materiellen Existenz die universale Wirklichkeit der Dinge, uns selbst und unser fundamentales Wesen. Dann kehren wir zurück auf die Bühne des aktuellen Lebens und beobachten dieses mit der Sicht, die wir im Zustand der Wirklichkeit erworben haben. Wir beobachten die Welt von neuem, ganz genau, um noch vorhandene Täuschungen und verkehrte Ansichten zu korrigieren. Natürlich befreien wir uns dadurch auch von allem Aberglauben, allen falschen Meinungen, Begriffen und Überzeugungen, in welche wir vorher verstrickt waren.
Auf diese Weise gewinnen wir die Freiheit des Geistes, obwohl der physische Körper weiterhin durch die Einschränkungen und Hindernisse der materiellen Gesetze gefangen ist. Doch diese Gefangenschaft in der Materie hat nicht mehr die Macht, uns zu quälen.
Das Märchen von den zwei Mönchen
Einst befanden sich ein älterer und ein jüngerer Mönch auf einer Wanderschaft. Es regnete in Strömen, als sie an einen Fluss kamen, in dem das Wasser sehr hoch war. Dort sahen sie eine hübsche, junge Frau weinend am Ufer stehen. Gefragt, was der Grund ihrer Tränen sei, antwortete diese, sie befinde sich auf dem Weg zu ihrer kranken Mutter, könne aber diesen Fluss wegen des hohen Wassers nicht durchwaten. „Komm, ich helfe dir“, sagte der ältere Mönch, nahm die Frau auf die Arme und trug sie über den Fluss.
Schweigend gingen die beiden Mönche weiter. Der jüngere Mönch sprach für den Rest des ganzen Tages kein Wort, seufzte aber ab und zu bekümmert. Als sie die Unterkunft für die Nacht bezogen hatten, fragt der ältere Mönch den jüngeren, was los sei mit ihm, warum er ein derart sorgenvolles Gesicht mache. Da konnte der Jüngere nicht mehr an sich halten und platzte heraus: „Wir Mönche dürfen nichts mit Frauen zu tun haben, schon gar nicht mit jungen und hübschen. Das ist gefährlich. Du aber hast eine in deinen Armen getragen. Warum hast du das gemacht?“
Der Ältere sagte: „Ich liess die junge Frau dort stehen, aber du, trägst du sie noch immer?“
Dhyāna: Winter 2007