Ewige Fragen

ewigeFrage

Einleitung

Diese Zeitschrift enthält ein Potpourri von Themen, die heute so aktuell sind wie eh und je. Wir nehmen real gestellte Fragen (Ewige Fragen), die Krishnamurti während seiner Zusammenkünfte in Holland gestellt wurden, und beantworten sie in den Worten von Krishnamurti zusammen mit den Worten der Zen-Meister Hui-neng, Sokei-an und Henry Platov.

Die Ausführungen von Hui-neng, dem Sechsten Patriarchen, stammen aus dem Siebten Jahrhundert, diejenigen von Krishnamurti, Sokei-an und H. Platov aus dem Zwanzigsten. Eine Zeitspanne von 1300 Jahren liegt dazwischen, die Worte sind dieselben.

Diese Fackelträger und viele andere haben dasselbe gesagt, wieder und wieder, seit dem Beginn der Zeit. Aber nichts hat sich geändert, nein? Man könnte meinen, sie hätten nicht gewusst, was sie sagten, sonst hätten sich die Dinge doch verändert, nicht wahr? Wir hätten uns geändert, nicht wahr? Wir sind doch alle intelligente Leute? Oder etwa nicht?

Was ist der Zweck von Leiden? Soll es uns lehren, nicht den selben Fehler zu wiederholen?

Krishnamurti: Leiden hat keinen Zweck. Leiden existiert wegen des Mangels an Verstehen. Die meisten von uns leiden ökonomisch, geistig oder an den Beziehungen zueinander. Warum leiden wir so? Unser ökonomisches System basiert auf Gewinnsucht, Ausbeutung, Angst. Dieses System wird gefördert und aufrecht erhalten durch unsere Habgier und dem entsprechenden Verhalten. Es ist ein Teufelskreis: Unsere Habsucht hat ein Ausbeutungssystem produziert und dieses System erhält sich selbst, indem es uns ausbeutet. Habgier und Ausbeutung gehen Hand in Hand und sind immer vorhanden, wenn man sich selbst nicht kennt.

Das Leiden in unseren Beziehungen mit anderen wird geschaffen durch unser inneres Verlangen nach Liebe, Geborgenheit, Besitz. Dann gibt es das Leiden, das durch die tiefe Unsicherheit verursacht wird, welche uns veranlasst, nach Frieden zu suchen, nach Sicherheit, Realität, Gott. Indem wir nach Gewissheit dürsten, erfinden wir viele Theorien, schaffen viele Glaubenssysteme, und der Geist wird eng und verwickelt sich. Er wird überhitzt und ist nicht in der Lage, sich den Bewegungen des Lebens anzupassen.

Es gibt viele Arten des Leidens, und wenn man beginnt, seine Ursachen zu erforschen, wird man herausfinden, dass sie mit dem Verlangen jedes einzelnen Individuums nach Sicherheit zusammenhängen, sei es finanzielle oder spirituelle Sicherheit oder Sicherheit in den mitmenschlichen Beziehungen. Wo nach Sicherheit gesucht wird, offensichtlich oder subtil, da muss es Angst, Ausbeutung und Schmerz geben.

Statt nach den Ursachen des Leidens zu suchen, fragt man nach seinem Sinn. Man will das Leiden benutzen, um etwas anderes zu gewinnen. Also erfindet man den Sinn; man sagt, der Schmerz sei die Folge eines früheren Lebens oder der Umwelt und so weiter. Man gibt sich mit diesen Erklärungen zufrieden, und so dauert die Unwissenheit fort, und schafft immer neues Leiden.

Leiden existiert dort, wo Unwissenheit über sich selbst vorliegt. Es ist nur ein Zeichen von Selbsteinschränkung und Unvollständigkeit. Es gibt kein Heilmittel für das Leiden selbst. Durch die Einsicht in den Wirkungsprozess der Unwissenheit verschwindet es.

Sokei-an: Jedermann trägt die Ursachen seines Leidens in sich. Sie gehören zur menschlichen Natur. Seht z.B. die Waschfrauen, die im heissen Dampf arbeiten. Sie schreien, lachen, regen sich auf, sind eifersüchtig, lieben und streiten. Den ganzen Tag lang sind sie diesen Gefühlswirren unterworfen. Der Geist einer Waschfrau ist kein anderer Geist als der eines Weisen. Der weise Mensch weilt in Meditation und sucht immer nach der Wurzel der Dinge. Er benutzt die unzähligen elementaren Ideen, die der einen Erkenntniskraft entspringen, um Weisheit zu erlangen. Die Waschfrau benutzt sie auch, aber so, dass sie in ihrer Verwirrung und Täuschung stecken bleibt. Jede feste Meinung, die man sich angeeignet hat, ist ein Hindernis, das die Sicht der Wahrheit verstellt. In dieser Weise kann das menschliche Bewusstsein einerseits zur Weisheit und andererseits zum Leiden führen. Nur wer im Gewahrsein des ursprünglichen, leeren, nicht dualistischen Geistes ruht, wird nicht in die Irre gehen.

Als Leiden gelten im Buddhismus vor allem Begehren, Zorn und Unwissenheit, die sogenannten drei Gifte oder Täuschungen. Im Westen wüsste man vermutlich viele Arten des Leidens aufzuzählen. Doch die von Buddha genannten sind die Grundlage von allen anderen. Wir alle leben damit. Wer die Dunkelheit in dieser Welt des Leidens nicht wahrnimmt, befindet sich tatsächlich in Unwissenheit.

Wir brauchen ein Licht in diesem dunklen Haus. Wir können nicht warten, bis ein Licht von außen kommt. Wir tragen das Licht in uns, doch wir müssen es durch eigene Anstrengung zur Welt bringen, so wie unsere Mutter es mit unserem Körper getan hat.

Hui-neng: Alle geistigen Leiden und unerträglichen Umstände entspringen falschen Auffassungen. In der Urnatur gibt es überhaupt nichts, das man sich vorstellen oder das man erlangen kann. Wenn man sich über seine Urnatur irgendwelche Vorstellungen macht, hat man entsprechend falsche Vorstellungen von Glück und Unglück, und das erzeugt Leiden.

Die empfindenden Wesen lassen sich von den Sinnen täuschen und klammern sich an die äusseren, sich dauernd verändernden Objekte. Dadurch bringen sie ihren Geist in Unruhe. Sie unterwerfen sich hilflos dem Leiden, das entsteht, wenn man den äusseren Erscheinungen nachrennt. Das Licht des Geistes ist von ihrer Unwissenheit überdeckt. Aus diesem Grund erhob sich der Buddha alarmiert aus seinem Samâdhi und gab den Menschen ernsthafte Ermahnungen und bittere Ratschläge, auf dass sie ihm ebenbürtig werden und in Frieden leben können.

Sokei-an fügt hinzu: „Der Buddha, der sich alarmiert aus der Meditation erhebt, ist nicht Shakyamuni Buddha, es ist unsere eigene Buddha-Natur. Getrieben durch das Leiden sucht man zwangsläufig nach der wahren Grundlage des Lebens. Das Licht der innewohnenden Weisheit wird aus unserem überpersönlichen Bewusstsein heraus geboren, und mit diesem Licht wird die Dunkelheit vertrieben.“

Ist es nicht wahr, dass gute Taten belohnt werden und dass wir durch ein mitfühlendes und rechtschaffenes Leben Glück erlangen werden?

Krishnamurti: Wer belohnt dich? Belohnung bedeutet in dieser Welt, im Leben erfolgreich zu sein, an die Spitze zu gelangen durch Ausbeutung anderer, dekoriert zu werden von der Regierung oder einer Partei, und so weiter und so fort. Wenn einem diese Art von Belohnung verweigert wird, will man wenigstens eine spirituelle Belohnung – entweder als Schüler von einem Meister – z.B. durch Initiation – oder als Anerkennung für gute Taten in einem früheren Leben.

Glaubt ihr ernsthaft, dass es so etwas gibt, und dass das Versprechen einer zukünftigen Belohnung irgend einen anderen Wert hat, als eine kindische Ermutigung oder einen psychologischen Impuls zu geben? Fühlt ihr mit anderen und liebt ihr, weil ihr dafür jetzt oder in einem zukünftigen Leben eine Belohnung empfangen werdet? Ihr mögt darüber lachen, aber wenn ihr eure Motive und Handlungen tiefgründig überprüft und versteht, werdet ihr sehen, dass sie von der Idee von Lohn und Strafe gefärbt sind. Also sind unsere Handlungen nie ganzheitlich, vollständig und vollkommen. Deshalb entstehen Kummer und Konflikt, so dass unser Leben eng und kleinlich wird ohne tiefe Bedeutung.

Wenn es keine Belohnung oder Bestrafung gibt, und deshalb vollkommene Freiheit von Angst besteht, wozu lebt man dann überhaupt? Dies wäre die natürliche Frage von euch, denn ihr seid trainiert in Begriffen wie Belohnung, Strafe, Erfolg, Wettbewerb und allen anderen Eigenschaften zu denken, die das ausmachen, was ihr für die menschliche Natur hält. Wenn wir das Wesen unseres Daseins und die Wirkungsweise von Unwissenheit und Tun wirklich verstehen, kommen wir zum Schluss, dass das, was wir Zweck oder Sinn nennen, keine Stichhaltigkeit hat. Allein schon die Suche nach einem Lebenszweck ist ein Hindernis und eine Ablenkung für das Verstehen seiner selbst. Jede Anstrengung für eine Belohnung hier oder später führt zu Frustration, und Belohnung wird zu dürrem Laub.

Hui-neng: Wenn der Geist rein ist, ist es nicht nötig, absichtlich die Gebote zu beachten und Wohltätigkeit zu praktizieren.
Wenn das Verhalten offen und ehrlich ist, wozu dann die Bemühung um Meditation?

Wenn jeder seine Pflicht kennt, öffnen die Menschen von hohem oder niedrigem Status ihre Herzen füreinander mit Mitgefühl.
Mit Bescheidenheit verkehren Alte und Junge freundschaftlich miteinander.

Geduld und Nachsicht beenden alle Streitereien.
Indem man seine Irrtümer einsieht, erlangt man Weisheit.
Die eigenen Fehler zu verteidigen, bedeutet, sich selbst im Gefängnis gefangen zu halten.
Übt jeden Tag das, was anderen zu Gute kommt.
Das Erlangen von Weisheit hängt nicht von der Geldmenge ab, die man verschenkt.
Sucht die erwachte Weisheit (Bodhi) in eurem eigenen Geist und nicht in der Aussenwelt. Wer diese Wahrheit in die Praxis umsetzt, findet das Glück gerade dort, wo er ist.

Sokei-an: Einmal wurde Bodhidharma von einem Kaiser gefragt, welche Belohnung er ernten werde dafür, dass er Klöster bauen lasse, Mönche unterstütze und allgemein viel Wohltätigkeit praktiziere. Bodhidharma antwortete, dies werde nicht das geringste Verdienst hervorbringen.

Der Kaiser dachte, er könnte durch diese Taten dem Land zu Wohlstand und sich selber zu Ruhm verhelfen. Nicht nur dieser Kaiser dachte so, fast alle Kaiser der alten Zeit übernahmen den Buddhismus mit Hintergedanken: „Wenn ich dem Buddha huldige, wird er uns beschützen. Mein Land wird reich werden, Seuchen werden fernbleiben und es wird keine Kriege geben.“ Die Religion diente damals dem gleichen Ziel wie das heutige Militär, nämlich der Aufrechterhaltung der Ordnung im Land. Die Lehre Buddhas wurde also nicht um ihrer Wahrheit willen angenommen; hinter den guten Taten lag ein persönliches Motiv, und Bodhidharma wusste dies. Er schmeichelte dem Kaiser nicht. Er sagte nicht: „Ihre guten Taten sind wundervoll, sie werden grossen Segen bringen“, sondern antwortete kurz und bündig: „Kein Verdienst“. Man kann sich keine Erleuchtung erwerben durch Spenden und Wohltätigkeit, doch es gibt Leute, die dies immer noch glauben.

Im Buddhismus ist die Idee des guten Verdienstes ein zentrales Thema. Sie ist verbunden mit der Karma-Theorie. Jedermann versucht, durch ein tugendhaftes Leben und durch Wohltätigkeit gutes Karma zu schaffen. Gutes Karma bedeutet für das nächste Leben Glück, schlechtes Karma bringt Unglück. Aber auch viele westliche Menschen glauben, wenn sie ein tugendhaftes Leben führen, würden sie im Himmel belohnt, während schlechte Taten in der Hölle bestraft würden. Im Verstehen des Zens geht es aber nicht darum, in diesem Leben auf ein zukünftiges fiktives Leben hin zu wirken, sondern jetzt, in der gegenwärtigen Verkörperung zu erwachen und die Wirklichkeit des gesamten Lebens zu erfassen.

Wenn der Geist leer ist, ohne das geringste Motiv, wird er von der anfangs- und endlosen Wirklichkeit durchdrungen. Dann fühlt man das unendliche Universum im Herzen eines jeden Menschen und kann kein Mitgeschöpf hassen und nichts Schlechtes tun, weil jede Tat der gleichen Leerheit entspringt.

Wer seine Füsse auf dem Boden hat, findet es nicht nötig, Keuschheit und ein heiliges Leben des Mitgefühls zu predigen. Beobachtet einfach euer eigenes Denken und findet eure eigene ursprüngliche Natur; dann ist das heilige Leben voller Mitgefühl ganz ohne absichtliches Tun da.

Können wir einen Krieg stoppen, indem wir für Frieden beten?

Krishnamurti: Ich glaube nicht, dass man einen Krieg mit Beten aufhalten kann. Ist das Beten um Frieden nicht eine bestimmte Art von emotionaler Entlastung? Wir denken, wir seien unfähig, Kriege zu verhindern, und so finden wir im Gebet eine Entlastung von diesem Horror. Denkt ihr, ihr könntet allein durch ein Gebet um Frieden die Gewalt in der Welt stoppen? Der Gefühlszustand, der zu dieser Art von Gebet führt, kann auch von Propagandisten zu Hass geschürt und für ihre Kriegszwecke benutzt werden. So eifrig, wie man um Frieden betet, so enthusiastisch lässt man sich von der Schönheit von Nationalismus und der Notwendigkeit von Krieg überzeugen.

Um Frieden zu beten, ist völlig nutzlos. Die Ursachen von jedem Krieg sind Menschen gemacht. Kriege existieren aus psychologischen und ökonomischen Gründen, und es ist wertlos, an eine äussere Macht um Frieden zu flehen. Solange sich diese Ursachen nicht fundamental gewandelt haben, wird es immer Kriege geben. Daran können auch Gebete nichts ändern.

Henry Platov: Unter den geschäftigen Menschen unserer Zeit gibt es die Ansicht, dass Mönche, die einfach nur meditieren, ohne sich am Weltgeschehen zu beteiligen und sich für das, was in der Welt vorgeht, zu engagieren, Nichtsnutze sind und im Grunde genommen wertlos, da sie nur an der eigenen Erleuchtung interessiert sind und auf Kosten anderer Menschen leben. Manche erachten es als Selbstsucht, sind nur um die Erkenntnis der Wahrheit zu bemühen. Umgekehrt gibt es aber auch die Ansicht, dass sich durch Meditation, und vor allem durch Meditation in grossen Gruppen, das Bewusstsein der Menschen verändern lasse. Wenn man mich fragen würde, ob das stimmt, würde ich sagen: nein.

Man soll Meditation nicht verkaufen, indem man sagt: “Wenn ihr alle zusammenkommt und meditiert, dient das nicht nur euch selbst, sondern auch eurer Umgebung.“ Hinter dieser Verkaufstaktik steckt Wunschdenken. Mit der Behauptung, durch Meditation könne man anderen helfen, in einen höheren Bewusstseinszustand zu kommen, kann man auch Kritik an der eigenen Gleichgültigkeit am Weltgeschehen und am Mangel an Mitverantwortung weg rationalisieren oder rechtfertigen. Aber so funktioniert das nicht. Niemand hilft anderen allein dadurch, dass er oder sie meditiert.

Warum meditiert man dann überhaupt in Gruppen und nicht allein? Man soll natürlich auch allein meditieren. Aber das gemeinsame echte Zazen in der Gruppe hat schon eine Bedeutung. Diese ist jedoch nicht an der Oberfläche zu finden. Auch in der Gruppe sitzt jede Person für sich allein und hat mit sich selbst zu kämpfen. Jeder hat und ist sein eigenes Koan. Man darf sich nicht um die anderen Personen kümmern: „Meditiert diese Person besser als ich, oder meditiere ich besser? Ist diese Person fortgeschrittener als ich, kommt sie besser mit Koan zurecht als ich…?“ Derartige Ichbezügklichkeit muss aufgegeben werden.

Wie Bäume stehen wir alle einzeln da, aber unsere Wurzeln sind im selben Boden verankert. Wir meditieren gemeinsam, um auf den gleichen Boden zu kommen! An der Oberfläche sehen wir verschieden aus, so wie die Bäume, aber im Boden sind wir eins. Es ist nicht das Bewusstsein der Umgebung, das sich ändert, unser eigenes Bewusstsein soll sich ändern.

Wie beeinflusst ein Bodhisattva andere, wenn er gelobt, sämtliche Lebewesen zur Erleuchtung zu bringen? Beeinflusst er andere? Er drängt sich nicht auf; er sagt nicht: “Meine Ansicht ist die richtige, ich werde deine falsche Ansicht korrigieren.“ Der Einfluss betrifft nicht die Oberfläche, er besteht nicht in Worten. Man darf nicht umher gehen und sagen: „Ich bin ein Buddhist oder ein Zen-Schüler und muss ande- ren beibringen, welches der wahre Weg ist.“ Es gilt, sich an die eigene Nase zu fassen. Man soll nicht bloss sehen, was bei einer anderen Person vor sich geht, und denken: “Bei mir ist das anders.“ Es ist gar nicht anders. Wir sind alle ganz genau gleich. Jesus sagte: „Sieh nicht das Staubkörnchen im Auge des anderen, sehe den Balken in deinem eigenen Auge.“

Alle intelligenten Menschen sind gegen Krieg. Aber wie ist es mit einem Verteidigungskrieg, wenn eine Nation angegriffen wird?

Krishnamurti: Einen Krieg als Verteidigungs- oder Angriffskrieg zu betrachten, führt nur zu mehr Verwirrung und Unglück. Was wir in Frage stellen sollten, ist das Töten, sei es im Krieg oder durch Ausbeutung. Was ist überhaupt ein Verteidigungs- krieg? Warum greift eine Nation eine andere an? Entweder sie will die andere Nation selber ökonomisch ausbeuten oder die angegriffene Nation hat den Angriff durch Ausbeutung provoziert.

Wenn wir die Frage des Krieges unter dem Aspekt von Angriff oder Verteidigung behandeln, kommen wir nie zu einer befriedigenden und echten Lösung; es bleibt bei Gewinnsüchtigen Vorurteilen. Es gibt so etwas, wie ein freiwilliges Sterben für eine Sache, aber dass eine Gruppe von Menschen andere Menschen aussendet, um trainiert zu werden, zu töten und selbst getötet zu werden, das ist barbarisch und unmenschlich. Wer selber die wahre Natur des Menschen erfasst, dem stellt sich die Frage von Krieg, wo Hass und Entmenschlichung durch militärische Disziplin herrschen, niemals – und ob es recht sei zu töten, aus Verteidigung oder aus Aggression.

Aus meiner Sicht ist Töten so böse, wie gegenseitige Ausbeutung. Die meisten von euch sind entsetzt beim Gedanken an Mord, aber wenn es eine Provokation gibt, greift ihr zu den Waffen. Diese Provokation beruht auf Propaganda, auf dem Appell an eure falschen Gefühle in Bezug auf Nation, Familie, Ehre und Prestige. Allen diesen Begriffen fehlt jegliche fundamentale Bedeutung, sie sind eine Absurdität, an die ihr euch gewöhnt habt und durch welche ihr ausgenutzt werdet und andere ausnützt. Nur wenn ihr selber tief und wahrhaftig darüber nachdenkt, werdet ihr dazu beitragen, all diese Ursachen abzubauen, die Hass und Ausbeutung erzeugen und schliesslich zum Krieg führen, sei der nun offensiv oder defensiv genannt.

Niemand von euch scheint auf all dies eine vitale Resonanz zu verspüren. Diejenigen, die religiös geschult sich, wiederholen vermutlich oft den Satz, dass man seinen Nachbarn lieben soll. Aber anderen gegenüber habt ihr so tief verwurzelte Vorurteile über National- und Rassenunterschiede, dass ihr die menschlichen und mitfühlenden Reaktionen verloren habt. Man ist so stolz darauf, einer bestimmten Nation oder Rasse anzugehören, dass man andere – Juden, Schwarze, Asiaten – verachtet.

Wenn ihr, die ihr dieser Worten mit Urteilsvermögen hört, mit Gefühl und Einsicht antwortet und euch dadurch von diesen einengenden, schädlichen und gemeinen Ideen befreit, dann gibt es eine Möglichkeit für eine friedliche und glückliche Welt. Das ist kein blosses Wunschdenken; aber da diese Frage von Ausbeutung und Töten jeden einzelnen von euch betrifft, müsst ihr ernsthafte Anstrengungen machen, euch von diesen selbst auferlegten Ideen von Sicherheit und individueller Verewigung, die nichts als Verwirrung und Elend erzeugen, zu befreien.

Henry Platov: In der Bhagavad-Gita fordert der Gott Krishna den Jüngling Arjuna auf, gegen seine eigenen Verwandten zu kämpfen. Die Bhagavad-Gita ist vielleicht der wichtigste Abschnitt des berühmten Epos Mahabharata. Jeder religiös-philosophisch interessierte Mensch, ob Buddhist, Hinduist, Sufi oder Christ, sollte diesen Text lesen und studieren. Arjuna steht für die menschliche Seele, und die Feinde, die er bekämpfen muss, sind die Feinde in ihm selbst. Arjuna sträubt sich, gegen die eigenen Verwandten in die Schlacht zu ziehen, doch Krishna hilft ihm zu verstehen, was es mit diesem Krieg auf sich hat.

Wollte man dies im Jargon unserer westlichen Psychologie ausdrücken, würde man sagen, dass alle Feinde ausserhalb von einem die Projektionen der inneren Feinde sind. Wenn man mit sich selbst nicht zurecht kommt, hat man Schwierigkeiten mit den anderen Personen und gibt ihnen die Schuld dafür. Man muss die wahre Ursache allen Streits in sich selbst erkennen und dann diese inneren Feinde bekämpfen. Statt- dessen wird das Ganze politisch und ökonomisch rationalisiert, und echte Kriege werden vom Zaun gebrochen. Welche Interessen wirklich hinter diesen Kriegen stecken, wird nicht gesagt.

Da jeder einzelne Mensch zum Kollektiven gehört, ist er mitverantwortlich für das, was im Kollektiven geschieht. Buddhistisch ausgedrückt, sind wir alle karmisch verantwortlich für das, was in der Welt geschieht. Was das einzelne Individuum tut und denkt, wirkt sich auf alles und alle aus. Durch unser Tun und Denken sind wir verantwortlich für die ganze Welt. Wie viele Menschen sind wir? Fast unzählige kommen und gehen. Doch im wahrsten Sinn des Wortes gibt es nur ein menschliches Wesen, die vielen Individuen sind alle eins.

Wenn man zuallererst und nur bei sich Habsucht, Eifersucht und Machtgelüste bekämpft, wo gibt es dann einen äusseren Feind?

Bitte erklären Sie uns, was Sie unter einem geschmeidiger Geist verstehen.

Krishnamurti: Ist es nicht notwendig, einen weichen, regsamen Geist zu haben? Einen Geist, der extrem biegsam ist? Wie ein Baum zu sein, der seine Wurzeln tief in der Erde hat und doch dem vorbeiziehenden Wind nachgibt? Er ist sich selbst und deshalb ist er geschmeidig. Doch, womit sind wir beschäftigt? Wir versuchen, etwas zu werden, und wir schwelgen in diesem Werden. Dieses Werden ist keine Vollendung, sondern Nachahmung, das Kopieren eines Musters namens Perfektion; nichts als Nachfolge, Gehorsam mit dem Ziel, Erfolg zu haben, etwas zu erreichen. Eine Rose oder ein Veilchen ist eine vollkommene Blume, in sich vollendet. Es wäre nutzlos zu wünschen, dass das Veilchen eine Rose werden möge. Wir strengen uns dauernd an, etwas zu sein, und so wird unser Gemüt mehr und mehr rigid, begrenzt, eng und unfähig, geschmeidig mit den Bewegungen des Lebens mitzufliessen.

Hui-neng: Gute Freunde, ob ihr Gutes oder Shlechtes erlebt, Liebe oder Hass, Zuneigung oder Ablehnung, lobende oder verletzende Worte, ihr sollt sie alle als leer erkennen und keine Rachegedanken hegen. Lasst jeden Gedanken fließen, ohne an das Vergangene zu denken. Dann gibt es keinen Unterbruch. Wenn ihr nur einen Augenblick lang bei Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft stecken bleibt, schafft ihr euch Hindernisse. Wenn ihr nicht erlaubt, dass euer Geist an den Umständen oder an Ideen hängen bleibt, erlangt ihr Freiheit. Nicht-Anhaften ist das Grundprinzip unserer Natur.

Sokei-an: Nicht-Anhaften übersetze ich manchmal als „keinen festen Standpunkt haben“. Die Natur, welche sich seit vielen Zeitaltern verkörpert, legt sich nicht fest. Manchmal nimmt sie die Form einer Katze an oder einer Kuh, und manchmal verkörpert sie sich in einer Küchenschabe, aber sie hat keinen bestimmten Aufenthaltsort. Sie wohnt nicht im Himmel oder auf der Erde.

Wer den Urgrund der Existenz kennt, im Buddhismus Dharmakâya genannt, kann sich vollständig von allen Formen und Namen befreien. Dann ist man in jedem Zustand frei. Man mag lächeln, weinen, kaufen, verkaufen, doch nichts hält einen fest. Man verlässt den Arbeitsplatz abends nicht mit einer Sorgenfalte im Gesicht wie die meisten Menschen in der Untergrundbahn, welche ihre Sorgen des Tages mit nach Hause nehmen. Ihr sollt alles vergessen, wenn ihr das Büro verlässt. Doch ihr tut dies nicht. Ihr verfolgt fixe Ideen, statt die Dinge aus sich selbst heraus wachsen zu lassen.

Buddhistische Schlagwörter

Karma: Der Name für Geschehnisse und Umstände, die nicht in die erinnerte Version unserer Erfahrung passen. Es wird allgemein zwischen gutem oder schlechtem Karma unterschieden, abhängig von der Einbildung dessen, der sich das Karma einbildet.

Erleuchtung: Der Topf voller Gold am Ende des Regenbogens, oder wie man sich das so denkt. Und genau so illusionär, oder wie man sich das so denkt.

Mitgefühl: Was wir meinen zu fühlen, wenn wir einem Bettler eine Münze in die Büchse werfen.

Nicht-Anhaften: Die feingeschliffene Fähigkeit, sich von allem abzuschotten, was Unbehagen erzeugt; kommt gewöhnlich zusammen mit einer guten Portion Selbstgefälligkeit.

Meditation: Die Freude weniger und weniger über mehr und mehr zu wissen; oder ist es umgekehrt?

Praxis: Illusion wird in Illusion verwandelt, illusionär.

Training: Eine Täuschung, in welcher Praxis (siehe oben) zur Perfektion praktiziert wird.

Leere: Fülle, nicht als Gegenteil von Leere.

Lehre (Teaching): Die Kochbuch-Methode etwas zu bekommen, was man bekommen möchte, – im Moment.

Dharma: Bedeutet alles für alle und deshalb nichts für niemanden, oder wie ein Witzbold einst gesagt haben soll : „Form ist Leere, Leere ist Form“ – oder sowas ähnlich Absurdes.

Meister: Identisch mit Schüler. Die Erfahrung davon ändert nichts daran.

Re-inkarnation: Ein bequemes Konzept; der Glaube daran trübt den Geist und gibt einem die Erlaubnis, auf ein Nächstes-Mal zu verschieben, was immer man Dieses-Mal sein sollte. Das Konzept geht davon aus, dass es ein Nächstes-Mal gibt. Weiss dies jemand? – Was soll‘s, vielleicht das nächste Mal.

Lebensrad: Das Rad, das über dich weg rollt, während du auf die Reinkarnation wartest.

Das-Ego-töten: Unvorbereitet zu vergessen, sich daran zu erinnern, wer man denkt, dass man ist.

Loslassen: Ein interessanter Kunstgriff, blitzschnell ausgeführt gibt er dem Täter den Eindruck tatsächlich loszulassen, während in Wirklichkeit immer eine Hand verankert ist.

Sommer 2008

Ewige Frage
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