Durch das Schlüsselloch – H.Platov, 11. Nov.1989
Durch das Schlüsselloch – Dies war das zweitletzte Teisho, das H. Platov in Zürich gegeben hat. Ausgangspunkt ist die Geschichte von Anandas Erwachen. (Ananda war der Cousind und persönliche Gehilfe von Buddha.
Alle Religionen haben etwas Gemeinsames
Alle Religionen haben etwas Gemeinsames. Wenn man das Wort Religion – lateinisch religare, deutsch zurückbinden – gemäss seiner Sprachwurzel versteht, bedeutet es, sich „zurückbinden“ an den Ursprung, aus dem alle Lebewesen hervorkommen. Zentral für jede wahrhaftige Religion ist das Erkennen der wahren Natur des Menschen; seiner wahrhaftigen Natur – nicht seine Individualität, sondern die Wesensnatur, die jeder Person zu eigenen ist. Die jüdische und die christliche Religion, der Islam, der Hinduismus oder Brahmanismus, der Buddhismus und der Taoismus – alle haben dieses Element gemeinsam: Komme zur Erkenntnis deiner wahrhaftigen wahren Natur. Es wird verschieden ausgedrückt, aber im Wesentlichen ist es dasselbe.
Der Buddha
Buddha, der Prinz Siddharta mit dem Namen Gautama, hatte seine alldurchdringende, grosse und perfekte Erleuchtung, Anuttara Samyak Sambodhi genannt, nach einer langen Meditation. Er sah einen Morgenstern, hatte diese grosse Erkenntnis und sagte: «Ich bin Buddha.» Dieses «Ich» geht natürlich über das rein Persönliche hinaus.
Dann sagte er:
«Ich bin einen Weg als Mensch gegangen und habe meine wahre Natur erkannt. Und diese Natur, die Buddhanatur, ist in jedem Lebewesen; ich werde den Menschen einen Weg zeigen, wie man diese Erkenntnis erreichen kann.»
Danach stellte er seine Lehre auf, wie man die Buddhanatur, die jedem zu eigen ist, erkennen und verwirklichen kann.
Mahakashyapa und Ananda
Buddha hatte einen Nachfolger, Mahakashyapa, und auch einen Lieblingsschüler, Ananda. Ananda war, wie man so sagt, eine Seele von Mensch, die Güte selbst; er war eine wunderbare Person und hatte ein fabelhaftes Gedächtnis. Er konnte sich an jedes Wort von Buddha erinnern.
Durch ihn haben wir die Überlieferungen von Buddhas Lehre. Er begann: „So habe ich gehört“, und dann wiederholte er die Worte Buddhas so, wie er sie gehört hatte. Auf diese Weise sind die Sutras entstanden, durch sein fabelhaftes Gedächtnis. Er hatte aber kein Wort verstanden. Er war wie ein Tonbandgerät.
Da Ananda Buddhas Lieblingsjünger war, war der Buddha sehr liebevoll mit ihm. Mahakashyapa, der Nachfolger Buddhas, stellte sich aber anders zu Ananda. Er wurde sehr ungeduldig mit ihm, weil er nichts verstand.
Was ist das Geheimnis?
Einmal fragte Ananda Mahakashyapa: „Da du jetzt der Nachfolger Buddhas bist, muss er Dir doch ein Geheimnis gegeben haben. Was ist denn dieses Geheimnis?“ Mahakashyapa schaute Ananda an und sagte: „Der Buddha hat mir kein Geheimnis gegeben, es gibt keine Geheimnisse.“ „Aber doch“, beharrte Ananda, „es muss doch ein Geheimnis geben.“ Darauf sagte Mahakashyapa: «Ich verstecke nichts. Alles ist offen, es ist alles ganz klar vor deinen Augen.“ Ananda sagte zum dritten Mal: „Also Buddha muss dir ein Geheimnis gegeben haben, da du sein Nachfolger bist. Was ist es denn?“
Mahakashyapa ruft Ananda
Daraufhin sagte Mahakashyapa: „Ananda!“ Ananda antwortete: „Ja? Was ist?“ Mahakashyapa sagte noch einmal: „Ananda!“ „Ja? Was ist?“ fragte Ananda noch einmal. Zum dritten mal sagte Mahakashyapa: „Ananda! Geh und nimm den Vorhang vom Fenster weg!“ Wie man sagen würde: Lass Licht herein, nimm den Vorhang weg! Da ist ein Fenster und da kann man durchsehen. Ananda kapierte aber wieder nichts.
Mahakashyapa sagte nun nicht: „Du bist ja ein lieber Kerl, da kann man halt nicht viel machen, aber dein Wesen ist so gut und schön.“ Er sagte vielmehr: „Mach‘ dass du hier rauskommst! Du hast in diesem Kloster überhaupt nichts verloren. Scher dich weg und komm erst wieder, wenn du verstehst; wenn du etwas kapiert hast!“
Ananda erwacht
Also ging Ananda wie ein geschlagener Hund, mit dem Schwanz zwischen den Beinen, ganz betrübt, allein und verlassen aus dem Kloster und kam in ein Waldgebiet. Dort war es dunkel und Ananda beschloss, hier zu schlafen. Als er sich hinlegte, schlug sein Kopf aus Versehen auf eine harte Wurzel, die aus der Erde hervorragte. In diesem Moment brach das Licht in ihm durch. Also statt zu schlafen, wachte er auf.
Man spricht darum von Anandas Erwachen, nicht von seiner Erleuchtung oder seiner Befreiung von sich selbst. Man benützt nicht hochtrabende Wörter wie Befreiung oder Erleuchtung, sondern einfach Erwachen. Wie man, sagen wir einmal, aus einem Tiefschlaf oder aus einem Traum erwacht.
Ananda geht durch das Schlüsselloch
Am anderen Morgen machte sich Ananda sofort auf den Weg zurück zum Kloster und klopfte an Türe von Mahakasyhapas Zimmer.
Mahakashyapa sagte: „Wer ist da?“
„Ich bin es Ananda – jetzt verstehe ich!“
„Wenn du jetzt verstehst, komm herein !“
Um sein Verstehen zu testen, fügte Mahakashyapa bei: „Aber komm durch das Schlüsselloch!“ Und Ananda trat durch das Schlüsselloch in Mahakashyapas Zimmer.
Nun ist die Frage: Wie ging Ananda in durch das Schlüsselloch ins Zimmer?
Koan
Ananda ging durchs Schlüsselloch ist ein Koan. Man muss aufwachen, wie Ananda, und seine wahrhaftige Natur erkennen. Das Koan ist ein Schlüssel dazu.
Die korrekte Formulierung lautet:
«Wer ist da»? fragt Mahakashyapa.
«Ich bin es, Ananda, jetzt verstehe ich.»
«Da du jetzt verstehst komm rein, aber komm durchs Schlüsselloch.»
Und Ananda ging durchs Schlüsselloch.
Gedankenspiele
Die Mönche im Tempel zeigen verschiedene Betrachtungsweisen:
Einer schaut mit seinem Auge durch das Schlüsselloch und erklärt: „Durch das Schlüsselloch sehe ich in das Zimmer hinein, ich kann sogar Mahakashyapa darin sehen. Also gehe ich mit meinem Auge, mit meinem Sehen, durch das Schlüsselloch. Mein Bewusstsein, mein Sehen, geht durch das Schlüsselloch.“
Viele Mönche überlegen sich auch: „Er hat ja zu Ananda gesagt, er soll den Vorhang vom Fenster nehmen, sodass man durchschauen kann, also schaue ich jetzt durch das Schlüsselloch.“
Wenn man durch ein Fenster schaut, ist man nicht nur auf der einen Seite des Fensters, man ist gewissermassen auch auf der anderen Seite des Fensters. „Durch meine Sicht bin ich nicht nur im Zimmer, ich bin auch gleichzeitig auf der Strasse.“ So könnte man antworten. Man denkt sich: „Mein Köper ist im Zimmer, aber meine Gedanken, mein Bewusstsein, ist auf der Strasse. Ich kann auf die Strasse gehen, dann bringe ich auch den Körper auf die Strasse.“
Aber diese Betrachtungsweise, durch das Schlüsselloch einzutreten, indem man durch das Schlüsselloch schaut, ist nichts wert. Da ist keine Erkenntnis dahinter.
Andere Mönche sagen: „Ich kann mir ja vorstellen, dass ich im Zimmer von Mahakashyapa bin. Ich kenne das Zimmer, ich kenne Mahakashyapa. Ich stelle mir also vor, ich sei im Zimmer und dann bin ich mit meiner Vorstellung durch das Schlüsselloch gekommen.“ Auch diese Auffassung gibt es, ist aber reine Fantasie.
Andere wiederum sagen: „Ananda erlangte durch diesen Durchbruch, durch dieses Erwachen magische Kräfte.“ Er hatte eine Siddhi, eine magische, übernatürliche Kraft. – So etwas, womit sich heutzutage die Parapsychologie beschäftigt. – Sie meinen, er konnte sich an der Aussenseite dematerialisieren und dann einfach durch die Türe gehen und sich auf der anderen Seite der Türe wieder materialisieren.
Alle diese Antworten werden von Zen-Meistern nicht akzeptiert.
Wer bist du?
Als Ananda zu seinem wahren Wesen erwachte, verstand er, warum Mahakashyapa dreimal seinen Namen gerufen hatte: Ananda! Ananda! Ananda!
Was ist Ananda? Zuerst der Ananda, der nichts verstand, obschon er lesen und schreiben konnte, aber kein Verstehen seines eigenen Wesens hatte. Und nun ein Ananda, der verstand, durch sein Erwachen zu sich selbst.
Man muss den Sinn dieser Geschichte verstehen. Wer bist du? Du bist etwas, das weit über deine Persönlichkeit, mit der du dich andauernd identifizierst, hinausgeht. Erkenne den wahrhaftigen Ananda in dir selbst. – Wer ist da? Wer bist du? Wer ist das? Ich bin es, Ananda. Jetzt verstehe ich.
Wir rennen mit unserem Ich-Bewusstsein in der Weltgeschichte herum und sind mit allen Inhalten in uns identifiziert. Ja, das bin ich: Was ich fühle, was ich tue, was ich denke, das bin ich. Was um mich ist, mit dem ich mich identifizieren kann, auch das bin ich.
Das wahrhaftige wahre Wesen seiner selbst erkennt man auf diese Weise nicht. Das Ich-Bewusstsein ist da, aber man erkennt nicht, was es in Wirklichkeit ist.
ES hat viele Namen
In der jüdischen Religion heisst es: Jeder Mensch hat den Geist Gottes, den sogenannten Ruach, in sich. Er hat eine sogenannte persönliche Seele, das ist der Nefesch, aber er hat auch den Geist Gottes in sich und das ist der Ruach.
Im Christentum sagt man: Erkenne den Christus in dir selbst.
Der Buddhismus sagt: Erkenne deine Buddhanatur. Da ist einerseits deine persönliche Natur, wenn man sie so nennen will (lächelt amüsiert), und andrerseits die wahrhaftige Buddhanatur.
Der Brahmanismus oder Hinduismus sagt: Dein wahrhaftiges Selbst ist ein geistiges Wesen, ein Purusha. Dieser Purusha hat sich von allen menschlichen Dingen, der sogenannten Materie, dem Sehen, Hören, Denken und Empfinden einfangen lassen. Also erkennst du dein wirkliches Selbst, deinen Purusha, nicht mehr.
Die andere grosse Schule im Brahmanismus sagt: Deine persönliche Identität ist fiktiv, aber dein wahrhaftiges Wesen ist Atman und Atman ist eins mit Brahman. Atman ist das wahrhaftige Selbst und dieses Selbst ist eins mit Gott, Brahman.
Buddhismus und Hinduismus lehren beide, dass sich der Mensch von den Sinneswahrnehmungen, den Gedanken und Gefühlen einfangen lässt und deshalb sein wahres Wesen, das unabhängig von den Sinnen, Gedanken und Gefühlen ist, nicht erkennt.
Dies nur um die Weltreligionen zu zitieren. Darin sind sich alle einig und sagen im Wesentlichen dasselbe: Wenn du die wahre Natur erkennen willst, entferne dich von dem, was du gewöhnlich dein Selbst nennst, von deinem denkenden, empfindenden, sehenden und hörenden usw. Selbst.
Wie macht man das?
Das macht man durch eine Übung, die sich Meditation nennt. Man richtet seine Aufmerksamkeit, sein Gewahrsein, auf das reine Bewusstsein als solches.
Es gibt viele Anweisungen dazu. Die Hauptsache ist:
Man setzt den Körper so hin, dass er aufhört, so aktiv zu sein. Man sitzt in dieser Position, um den Körper in einen nicht-aktiven Zustand zu bringen ohne irgend etwas mit den Händen oder Beinen zu tun. Andere Aktivitäten wie Gedanken, Gefühle, Bilder, Erinnerungen bleiben, aber man löst sich auch von diesen. Man konzentriert sich auf das Bewusstsein als solches, ein bewusstes Sein.
Man geht sozusagen von den Werdevorgängen weg in einen Seinszustand, ein Gewahrsein des Seins. Man wendet sich ab von den Vorgängen, die man Werden nennt: Gedanken werden, Emotionen werden. Alles was sich innerlich abspielt ist ein Werdeprozess. Aber all diesen Werdeprozessen unterliegend ist ein Seinszustand, ein innerer Zustand, den man erkennen und zu dem man Kontakt aufnehmen kann.
Man spricht von einem Eintauchen in den reinen Geist. Im Indischen nennt man es Samādhi. Das Samādhi ist eine innere Verbindung des Gewahrseins mit der fundamentalen Geist-Substanz. Es ist also ein Eintauchen und von diesem Zustand der Versenkung taucht man wieder auf. Dann ist natürlich alles wieder da. Man ist sich des Sinnes-, Gedankens- und Gefühlslebens, all dessen, was sich innerlich abspielt, wieder gewahr, aber man ist nicht mehr so identifiziert mit diesen Vorgängen. Innerlich hat sich etwas gesammelt, es hat sich sozusagen ein Zentrum gebildet.
Die unbewegte Mitte
Das wird mit einem Rad verglichen, einem Rad, das sich andauernd dreht, manchmal langsam, manchmal schnell. Aber dieses Rad dreht sich um eine Nabe in der Mitte des Rades und dort dreht sich nichts. Da ist kein rauf und runter, links und rechts, da ist nur diese Stille, diese Ruhe.
Im Indischen spricht man von einem Chakra, einem Rad, einem inneren Lebensrad sozusagen. Man soll sich in diesem Zentrum des Lebensrades sammeln, sich des unbeweglichen Zentrums gewahr werden, weil es in Wirklichkeit existiert. Es ist nicht bloss eine Einbildung. Sinnbildlich spricht man von einem Rad, aber es ist etwas durchaus Aktuelles und die Bezeichnung „Rad“ ist sehr gut. Was die Bewegung des Rades anbelangt, ist sie rein relativ. Was am Rad oben ist, geht wieder nach unten und was unten war, geht wieder nach oben. Was links war, geht nach rechts und was rechts war, geht nach links. Aber in der Nabe geschieht nichts. Das ist die einfachste Umschreibung, was Meditation ist – die beste Anweisung, wie man meditieren soll.
Keine Meditation mit all den menschlichen Vorstellungen, Einbildungen Wünschen und Erwartungen usw. Einfach nur das; einfach so!
Diese Form der Meditation ist eine inhaltslose Meditation. Sie ist leer – Leerheit. Das Bewusstsein hat sich von allen Inhalten entleert und man kommt in den Zustand des reinen bewussten Seins und wird sich dann der Substanz, die diesem Sein unterliegt, dem sogenannten Boden des Seins gewahr. Das wird dann Samadhi genannt. Es ist ein Eintauchen in diese geistige, also nicht materielle, Substanz.
Wer bin ich?
Dann fragt man sich: Wer bin ich denn in aller Wahrheit, in aller Wirklichkeit? Wer bin ich? Einerseits bin ich das, was sich körperlich, seelisch, gedanklich usw. abspielt. Das nennt man die Person oder sogar das Individuum.
Dann fragt man sich: Was ist es denn, was da „ich“ sagt? In irgendeiner Richtung – was ist es denn? Ich gehe in den Zustand der Meditation oder ich gehe spazieren oder ich denke dieses und jenes oder ich richte mich nach diesen und jenen Empfindungen. Was ist es, was da „ich“ sagt?
Jeder Mensch sagt „ich“. In seinem normalen Bewusstseinszustand sagt er immer „ich“. Das Ich-Bewusstsein verliert er nur im Tiefschlaf, in der Narkose oder in der Ohnmacht. Also im unbewussten Zustand ist kein Ich da, aber im wachen Zustand und sogar im Traumzustand ist ein Ich da. Selbst wenn man sein Gedächtnis verliert und nicht mehr weiss, wer man ist. Man weiss seinen Namen nicht, man kennt keine Bekannten, Verwandte, Freunde – gar nichts. Man weiss nicht, wer man ist und was man tut, aber man sagt trotzdem „ich“. Ich weiss meinen Namen nicht. Wer bin ich denn überhaupt? Ich habe keine Identität und doch sagt etwas „Ich“.
Wach auf!
In der Zen-Schulung kennt man ein Hilfsmittel, das manchmal falsch verstanden wird, nämlich die Anwendung eines scharfen Körperkontaktes entweder mit einem Stock oder mit der Hand. Man schlägt einen Sitzenden mit der Hand oder brüllt ihn an: Hooo! Diese zwei, der Schlag und das Anbrüllen, sind, als ob man sagt: «Erwache!!» Wach auf zu deinem wahrhaftigen Selbst! In diesem Moment des Schlages oder des Rufes Hooo! gibt es keine Gedanken, kein dieses oder jenes – auch keine persönliche Reaktion – oh.
Man geht auf der Strasse spazieren und hört seinen Namen. Jemand ruft „Peter!“ Für Peter gilt: „Wer ruft mich da?“ Da ist ein Name – „Ja, was ist?“ Was ist es aber, das reagiert? Oder man ruft bloss: „Du! …, ja Du!“ Was ist es, das reagiert? Oder man ist im Tiefschlaf und wird angebrüllt: „Aufstehen, es brennt!“ Dann ist man sofort da. Ganz einfach gefragt: Was ist da? Was ist Bewusstsein?
Da gibt es ein bewusstes Sein und dann gibt es sogar ein unbewusstes Sein. Vom unbewussten Sein hat man keine blasse Ahnung; wenn man allerdings in ein Samadhi kommt, erlebt man dieses unbewusste Sein, diesen Urgrund seiner Existenz. Und das, was so herumgeht und „ich“ sagt, – nicht ich mit Gedanken und Empfindungen usw. sondern einfach „ich“ – dieses Ich, das kommt und geht – im Tiefschlaf ist es weg, im Wachzustand ist es da.
Der wahre Boden
Dieses Ich-Bewusstsein hat eine Wurzel. Dieses bewusstes Da-Sein hat eine Wurzel im Sein als solchem. Das unpersönliche Sein ist der Boden des persönlichen Da-Seins.
Die Mystiker, ob das die Kabbalisten in der jüdischen Religion sind oder die Gnostiker unter den Christen, die Sufis unter den Moslems, die Hindus oder die Buddhisten, alle haben dies gemeinsam: Sie streben danach, eins zu werden mit dem Boden, mit dem Grund ihrer Existenz; sie praktizieren das Eintauchen des Ichs, das sich nach der Geburt herausstellt, in den Urzustand; das Einswerden dieses Ichs mit seinem Ursprung.
Konzentration
Alle diese Praktiken bedürfen einer gewissen Konzentration. Man muss also mit allem menschlichem Denken und Tun aufhören. Man muss in den Meditationszustand kommen – zu einer inneren Sammlung – und dann eins werden mit dem Urgrund. Dieses Einswerden ist ein Geschehen – man kann es nicht mit eigenem Willen erzeugen. Man kann in den Zustand der Meditation kommen, aber das Einswerden geschieht von selbst.
In der Literatur gibt es zahlreiche verschiedentlich Beschreibungen dieses Geschehens. Das sind keine Erfindungen oder Einbildungen. Es ist durchaus aktuell. Es verhält sich so.
Vom buddhistischen und hinduistischen Standpunkt aus spricht man von gewissen Zentren des Bewusstseins und es gibt verschiedene Übungen, wie man sich zentriert. Diese Bewusstseinszentren sind sehr interessant, wenn man sich auf sie konzentriert.
Dann sieht man, dass es nicht nur ein grosses Chakra gibt, sondern dass innerhalb dieses grossen Chakras diese anderen Chakras sind, die wie Räder, wie ein Uhrwerk ineinander greifen. Da ist das grosse Rad und dann die verschiedenen anderen Räder und das sind die sogenannten Chakras oder Bewusstseinszentren, auf die man sich konzentrieren kann. Im Hinduismus und im Buddhismus ist die Konzentration hier, im sogenannten Anja Chakra. Die Taoisten, die Zen-Leute und auch die Mönche in der griechisch-orthodoxen Kirche konzentrieren sich auf den Unterleib, ursprünglich erst einmal um den Nabel herum also auf einen Kreis um den Nabel.
Zen
Im Zen, das ja eine Meditationsschule ist, liegt die Betonung auf: Erkenne dein wahrhaftiges Selbst, erkenne was es ist, was da in Wirklichkeit „ich“ sagt. Nicht ich und meine Gedanken, ich und mein Körper, ich und meine Gefühle, ich und mein Tun, ich und meine Erlebnisse…Nein!! Einfach das Ich als solches, das in jedem genau dasselbe ist.
Richte dich an dieses bewusste Sein, das wahrhaftige Ich-Bewusstsein. Wende deine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, also nicht in die Richtung deiner alltäglichen persönlichen Existenz. Wende dich ab, von dem, was sich auf der Oberfläche abspielt, gehe in die Tiefe deiner wahrhaftigen Existenz. Gehe mit deinem Ich-Bewusstsein zu der Wurzel deiner Existenz und erkenne, dass diese Wurzel deines Ichs in einer geistigen Substanz existiert.
Dieser Zustand ist – philosophisch ausgedrückt – nicht mehr von den Werdevorgängen abhängig. Er geht also über den Tod hinaus. Geboren werden, leben und sterben sind Werdevorgänge. Sie sind das Rad, das sich dauernd dreht. Die Welt des Werdens heisst in der Sprache der Buddhisten Samsara.
Tod
Man hat verschiedene Ideen, Erklärungen oder Ansichten über den Tod. Was geschieht nach dem Tod? Man ist auf die Art, die man ja zur Genüge kennt, ins Leben gekommen. Dann lebt dieser Organismus und geht dem Tode entgegen. Was sich im Leben angesammelt hat und man für sein Selbst hält, fällt auseinander. – man spricht auch (wie in der Chemie) von Elementen, die sich gesammelt haben und einen Organismus bilden, Was geschieht dann mit dem, was man sein Selbst nennt?
Manche sagen: «Wenn ich tot bin, bin ich tot.»
Andere sagen: «Nein, wenn das Grobstoffliche weggeht, dann ist noch etwas Feinstoffliches da, etwas Ätherisches etwas Astralisches und darin lebt das Bewusstsein weiter.»
Andere denken, dieses Bewusstsein sammle die Elemente des vergangenen Lebens wieder um sich und verkörpere sich wieder – also die sogenannte Reinkarnation-Theorie.
Oder man denkt, das Wesen komme in einen Reinigungszustand – man kann diesen auch als eine Hölle bezeichnen. Dort wird die Seele, das Bewusstsein, gereinigt und dann ist dieses gereinigte Bewusstsein akzeptierbar im Himmel. Es wird von seiner irdischen Existenz mit ihrer menschlichen Übeln gereinigt und ist dann akzeptierbar im Himmel.
Alle diese Ansichten sind sehr interessant. Sie drehen sich um die Frage des Todes, die sich ja nur stellt, weil da einmal Leben war. Aber es sind Vorstellungen; Spekulationen.
Ich wollte dies nur erwähnt haben …
Die kleine Identität
Der kleine Organismus, der aus dem Mutterschoss in die Welt kommt, aus einer Dunkelheit sozusagen, und das Tageslicht sieht, hat noch kein Bewusstsein seiner Existenz. Das kleine neugeborene Baby ist eigentlich ein blosser Lebensvorgang. Es bekommt von den Eltern einen Namen und hat dann seine Identität in Übereinstimmung mit seinem Eigennamen und dem Familiennamen. Doch davon weiss das Baby nichts. Mit drei bis vier Jahren stellt sich dann das Ich-Bewusstsein ein, ein Wissen um den eigenen Namen und damit die Identität. Dann spricht es von sich selbst mit seinem Namen. Es sagt zum Beispiel: „Henry will spazieren gehen“ oder „Henry macht …“. Nicht wahr?
Das ist eine enge Identität, aus der das Kind herauswächst. Diesen anfänglichen Zustand der Unschuld verliert es, und dann ist der Name und die Identität sehr Ego-besessen: Ich bin dieses oder jenes, ich bin Frau oder Herr So-und-So.
Die wahre Identität
Man hat aber auch eine andere Identität, eine die nicht mit dem persönlichen Selbst, sondern mit dem wirklichen wahrhaftigen Selbst zusammenhängt. Deswegen bekommt man in vielen Religionen einen zweiten Namen. (Im Buddhismus ist das der sogenannte Dharma-Name.) Es ist ein Name, der zum inneren Wesen passt. Wenn man meditiert, in irgendeiner Form von echter richtiger Meditation, dann tut man es unter diesem Namen. Man lässt alles Persönliche hinter sich.
Ob ein Geschäftsmann oder ein gewöhnlicher Arbeiter, ob eine Ärztin oder oder eine Hausfrau – in der Meditation gibt es keine Geschlechter und keine Berufsgruppen: Alles, was man für seine Persönlichkeit hält, ist weg. Solange man noch an dem, was man seine Person nennt, an seiner persönlichen Identität hängen bleibt, kommt man nicht in den wahrhaftigen Meditationszustand. Dahin kommt man damit einfach nicht.
Das persönliche Selbst, wenn man es so nennen darf, muss sozusagen ausgeschaltet und abgestellt werden. Ganz einfach, ganz direkt: Kümmere dich in der Meditation nicht mehr um dich selbst, um das, was sich innerlich und äusserlich abspielt und um das, was auf dich zukommt, welche Reaktion es auslöst. Kümmere dich einfach nicht mehr darum. Entferne dich von all dem und gehe nach innen. Gehe in die Nabe deines Lebensrades.
Jeder soll seinen Ananda, seinen wirklichen Namen, nicht den Familiennamen, den von Vater und Mutter, sondern den wirklichen wahrhaftigen Namen des wirklichen Selbst, erkennen.
Wie geht Anandas durch das Schlüsselloch?
Das ist die Frage, die man sich stellen muss, wenn man sich mit diesem Koan beschäftigen will.
Der unerwachte Ananda kann nicht durch das Schlüsselloch eintreten, auf keinen Fall, aber der erwachte Ananda kann es.
Es stellt sich also die Frage: Wer ist Ananda? Was bedeutet Ananda? Die wörtliche Bedeutung von Ananda ist auf deutsch übersetzt „Glückseligkeit“.
Es ist ein Zustand, der abstrahiert ist von unserem persönlichem Selbst, von dem was man sein persönliches Selbst nennt mit allem was da drum und dran hängt – gut und hässlich, richtig und falsch usw. Ananda ist ein Bewusstseinszustand, der von all diesem entfernt ist. Der von allen Bindungen gelöste Geisteszustand wird oft als Zustand der reinen Freude oder eben der Glückseligkeit beschrieben. Im Buddhismus nennt man es Nirvana. Der Buddha hat aber nie gesagt, was Nirvana ist, denn es gibt keine Möglichkeit, einen Zustand, der jenseits von allen Gedanken ist, in Worte zu fassen. Man kann ihn nur erleben.
Das Schlüsselwort ist: Entleere deinen Geist von dir selbst. Dein Geist ist voll von dir selbst. Entleere ihn! Nur eine Meditation, die diese Entleerung bewirkt, ist eine echte richtige Meditation. Andere Meditationsformen, die einem erlauben, sich alles Mögliche einzubilden, sich Vorstellungen zu machen, sind keine echte Meditation – aber sehr interessant, das schon. Man kann sich sehr vieles vorstellen, das sehr interessant und aufregend ist, aber das ist keine echte Meditation.